Interview mit Peter Lindenberg

„Wer sich tätowieren lässt, muss eigentlich verrückt sein. Es tut weh, geht nicht mehr weg und kostet Geld“, sagt Peter Lindenberg, Tätowierer aus Schöneberg. Das erste Tattoo, das er im frühen Kindesalter auf der Haut eines alten Mannes sah, entfachte in ihm die Leidenschaft für diese Form der Körperkunst. Jahrelange Aufenthalte in Asien und das Studium des Graphik-Designs hatten nur ein Ziel: Er wollte professionelle und hochwertige Tätowierungen erstellen, kreativ sein und auf eine besondere Art mit Menschen zu tun haben.

Sein: Warum lassen Menschen sich tätowieren? Was ist die Motivation?

Peter: Das ist schwer zu erklären. Sich tätowieren zu lassen, ist nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung, in dem Sinne, dass ihr rationale Überlegungen zu Grunde liegen. Es kommt viel aus dem Bauch. Es ist ein Kribbeln, ein Reiz, ein Gedanke, der einen nicht mehr loslässt. Man sagt sich: „Eigentlich ist es bescheuert, eigentlich dürfte ich es nicht. Meine Freundin fragt: Bist du verrückt? Meine Eltern würden mich enterben. Im Job darf ich es nicht zeigen.“ Alles steht dagegen und trotzdem lässt es einen nicht los.

Sein: Was ist es genau? Ist es Rebellion oder das Bedürfnis, etwas zu haben, was einen repräsentiert?
Peter: Ich habe mal einen Film gesehen, ich glaube mit Gerard Depardieu, der einige absolut hässliche, selbstgemachte Tätowierungen auf der Hand hatte. In dem Film erzählte er dann, dass jede Tätowierung zu einem bestimmten Lebensabschnitt gemacht werden muss. Diese Erfahrung teile ich. Es kommen immer wieder Leute nach gewissen Lebensabschnitten zu mir und sagen: „Ich muss mich wieder tätowieren lassen.“ Man friert in diesem Augenblick ein gewisses Lebensgefühl, eine gewisse Situation ein. Nicht nur in einem Foto, in einem Album, das man wieder weglegen kann. Jemand lässt sich zum Beispiel den Namen seiner einzig großen Liebe tätowieren. Dann ist es dieses eine Gefühl, das er bewahren möchte. Für alle Zeit, unauslöschlich.

Sein: Spielt das Bedürfnis nach Unvergänglichkeit eine Rolle? Eine Tätowierung bleibt ja.
Peter: Richtig. Die nimmt man mit ins Grab. Sich tätowieren zu lassen, ist wie über eine Grenze zu springen. Man fragt sich: „Soll ich es wirklich machen lassen?“ Es ist ein gewisser Nervenkitzel damit verbunden, gerade weil es für immer ist. Doch wenn man die Grenze überschritten hat, stellt sich eine Befriedigung ein. Es ist natürlich bei vielen Leuten, bei mir übrigens auch, eine Protesthaltung gegen bestehende gesellschaftliche Zwänge und Normen. Es ist eine Form, sich gegenüber anderen Gruppen abzusetzen.

Sein: Tätowierungen galten, zumindest früher, als Kennzeichen sozialer Randgruppen.
Peter: Ja, das stammt aus der Zeit, als sich die Haltung der Kirche immer mehr den Regeln des alten Testaments anpasste. So gibt es einen Konzilsbeschluss aus dem Jahre 787, der das Tätowieren verbot. Und so kam es, dass mit Tätowierungen nur noch Außenseiter gekennzeichnet wurden. Doch Tätowierungen sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. Es gibt Funde, die belegen, dass Menschen sich schon in der ausgehenden Steinzeit haben tätowieren lassen. Tätowierungen hatten zu der Zeit einen rituellen oder religiösen Charakter.

Sein: Die ersten Tätowierungen haben ja tatsächlich Seefahrer aus der Südsee nach Europa gebracht.
Peter: Das ist dem Entdecker und Erforscher der Inseln im Pazifik, James Cook, zu verdanken. Er brachte 1774 durch seine Aufzeichnungen das Wort „tatau“ in den europäischen Sprachgebrauch. Außerdem brachte er den tahitischen Prinzen nach England, wo dessen Tätowierungen bewundert und bestaunt wurden. Später begannen Seefahrer die Zeichen aus der Fremde für sich in Anspruch zu nehmen. Sie galten als Schutz- und Glückssymbole. Diese Entwicklung verlief parallel zur Epoche der Romantik in Europa. Die Entdeckung der Südsee galt vielen Menschen als die Entdeckung des Paradieses auf Erden. Und so wurde das Tätowieren eine Mode, auch in besseren Kreisen. Sehr viele Adlige haben sich tätowieren lassen.

Sein: Tätowierungen sind in den vergangenen Jahren zunehmend salonfähig geworden. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Peter: Ähnlich wie andere Moden wurde die Tätowierung, die in der Undergroundszene entstand, allmählich aus dem Zwielichtmilieu gehoben und in die Öffentlichkeit gezerrt. Mit der Zeit erfuhren Tattos immer breiteren Zuspruch, so dass heute viele eins haben.

Sein: Kann man zeitlich fixieren, wann das Tätowieren sein Schmuddelimage verlor?
Peter: Ungefähr mit dem Beginn der 90er-Jahre. Davor hat man Tätowierungen nur bei Motorradfahrern, Rockern, Seefahrern oder Gefangenen gefunden. Regional gesehen sind Tattoos in Norddeutschland, an der Küste, häufiger anzutreffen als in Süddeutschland, in Bayern.

Sein: In der Tätowierszene scheint es auch Moden zu geben. Seit einigen Jahren sind die Stammestattoos (Tribals) sehr verbreitet.

Peter: Wenn man diese Motive vor 10-15 Jahren hier in einem Tätowiersalon jemandem gezeigt hätte, hätte jeder gesagt: „Habe ich einen Vogel? Warum soll ich mir so schwarzes Zeug tätowieren lassen.?“ Ich persönlich finde diese Tribals eher bedenklich, weil sie für mich eine Mode sind. Jede Kurve und jede einzelne Krümmung dieser polynesischen Ornamente hat eine besondere Bedeutung. Das heißt, sie sind sehr informationsbeladen. Jedes Teilchen hat eine eigene Aussage und wird erst im Familienclan besprochen, bevor es tätowiert wird. Man fragt die ganze Familie, ob und was man sich tätowieren lassen soll. Das ist alles sehr schwerwiegend, während Tribals hier dazu benutzt werden, schick zu sein. Das Ganze wird zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Ich sage den Leuten auch immer wieder, dass ich das nicht so gerne mache, weil ich auch viel zu wenig über die Bedeutungen weiß, die hinter den einzelnen Mustern stecken. Und wenn der Träger solcher Tattoos zum Beispiel nach Neuseeland fährt, wird er vielleicht dumm angeguckt, ausgelacht oder sogar angegriffen. Wer weiß das schon. Man sollte sich schon ein wenig über den Hintergrund informieren.

Sein: Was sagen denn deine eigenen Tätowierungen aus?
Peter: Ich bin für die positiven Aussagen mit ganz klaren Informationen. Messer, Herz, Mama durch die Banderole. Das sind doch ganz einfache Aussagen. Sie sind für jeden nachzuvollziehen. Mir gefallen aus unserem Kulturkreis kommende Tätowierungen – „Old School“ wie wir Tätowierer sagen. Flammendes Herz, Rose. Ich benutze Tätowierungen gerne als Glückssymbole wie übrigens überall auf der Welt. Um noch einmal auf Asien zurückzukommen, dort lassen sich Männer gerne einen Tiger auf die Brust tätowieren, weil sie glauben, dass sie dadurch die Stärke des Tigers übernehmen. Bei Männern haben Tätowierungen ganz häufig die Funktion, männlicher zu wirken. Die erste Stelle ist in der Regel der Oberarm. Die männliche Silhouette ist die Dreiecksform. Die Schultern sind breit, die Hüften schmal. Genau diese Eckpunkte werden dann besonders betont. Um darauf hinzuweisen: „Guck mal, wie stark, guck mal, wie breit ich bin.“ Bei den sogenannten „Steißtribals“, den Ornamenten über dem Hintern, die sich Frauen gerne tätowieren lassen, ist die Motivation ähnlich. Frauen zeigen das umgekehrte Dreieck. Schmale Schultern, breite Hüften. Genau diese Stelle wird betont – es ist eine sehr schöne, figurbetonte Stelle-, um zu zeigen: „Guck, wie gebärfreudig ich bin.“ Es ist darüber hinaus auch eine sehr erotische Stelle.

Sein: Wer lässt sich tätowieren?
Peter: Das geht durch alle Bevölkerungsschichten. Ich habe meinen Salon in Schöneberg und daher kommen 40 Prozent meiner Kunden aus der Homosexuellenszene. Es kommen aber auch sehr viele Polizisten und Frauen zu mir, die sich in meinem Laden vielleicht wohler fühlen als in einem düsteren Schuppen. Ich möchte mit dem Ambiente meines Ladens ja auch bewusst aus dem Hinterzimmermilieu heraustreten. Sein: Welche Altersgruppen kommen zu dir, um sich tätowieren zu lassen? Peter: Ab 60 Jahre wird es eher dünn, obwohl ich ältere Menschen eigentlich gerne tätowiere. Die Haut ist trockener und dadurch bleibt die Farbe kräftiger. Junge Haut lässt sich auch sehr gut tätowieren. Dazwischen ist es, natürlich ist das von Hauttyp zu Hauttyp unterschiedlich, nicht ganz so optimal. Hauptsächlich kommen jugendliche Menschen zu mir. Damit meine ich nicht vom Alter jugendlich, sondern von der Geisteshaltung. Ich ziehe Kunden an, die mir selbst entsprechen. Also nicht die ganz jungen Hüpfer, die szenemäßig unterwegs sind, sondern Leute im mittleren Alter, die sich ihre Tätowierungen sehr genau überlegt haben. Das sind mir eigentlich die liebsten Kunden.

Sein: Wenn man nun wider Erwarten seine Tätowierung loswerden möchte. Welche Methoden gibt es?
Peter: Man kann sie weglasern lassen. Es sollte aber jemand machen, der darin sehr erfahren ist, weil sonst die Haut verbrennen kann, was zu Narbenbildung führt oder das Hautpigment zerschossen wird. Dann bleibt auf der Haut ein heller Fleck. Außerdem braucht man für jede Farbe einen speziellen Laser. Das bedeutet, dass wenn der Hautarzt nur einen Laser hat, damit nicht alle Tätowierungen entfernt werden können. Es gibt jedoch Laserzentren, die auf diese Eingriffe spezialisiert sind. Allerdings soll die Entfernung recht schmerzhaft und seht teuer sein.

Sein: Worauf sollte man als Kunde achten?
Peter: Dass man sich bei dem Tätowierer wohl fühlt. Man sollte sich auch durchaus mehrere Läden anschauen und vorher informieren, was es alles gibt. Man kann heutzutage fast alles tätowieren. Es gibt zum Beispiel Spezialisten, die stechen schwarz-weiß Portraits so lebensecht, dass sie aussehen wie Fotos. Vom Comic bis zum Foto, von abstrakt bis völlig bizarr gibt es alles. Man sollte sich ansehen, ob der Tätowierer Einmalbestecke benutzt, ob er einen sauberen Arbeitsplatz hat, ob er umsetzen kann, was ich mir vorstelle. Hilfreich kann es sein, sich die Arbeiten desjenigen anzusehen. Und ganz wichtig: Wenn es nicht passt, man sich nicht hundertprozentig gut aufgehoben fühlt, den Mut zu haben, wieder zu gehen.

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