„Geburt und Tod scheinen das A und O der menschlichen Existenz zu sein, und jedes psychologische System, das sie nicht eingliedert, muss oberflächlich und unvollständig bleiben“ – so der amerikanische Psychiater Stanislav Grof.

Er sieht in der Art und Weise, wie wir die Zeit im Mutterleib und den darauffolgenden Weg in die Welt erlebt haben, eine Art Grundmatrix des Lebens, die sich auf all unsere späteren Erfahrungen projiziert. Und wenn ich Revue passieren lasse, was ich in den vielen Malen erlebt habe, die ich in verschiedensten therapeutischen Settings durch meine Geburt gegangen bin, kann ich ihm da nur zustimmen.

Eigentlich sollte uns die zentrale Bedeutung der Geburt nicht verwundern. Die physische Geburt und das dazugehörige Erleben im Mutterleib sind die ersten und deshalb am stärksten prägenden Erfahrungen unseres Lebens. Sie erhalten dadurch Modellcharakter. Eine schnelle Geburt bedeutet demnach, dass wir auch im Leben vorwärts stürmen, Schwierigkeiten offensiv angehen und allgemein einen optimistischen Blickwinkel einnehmen. Eine zähe, langandauernde Geburt bewirkt, dass wir in unserem Leben langsamer agieren, für Entscheidungen länger brauchen. Eine Zangengeburt veranlasst uns, auch im Leben immer auf äußere Hilfe zu warten. Wird es schwierig, beißen wir uns nicht selbst durch.

Leider sieht das der Hauptzweig der Psychologie bisher nicht so. Wäre dies anders, würde die klassische Medizin vielleicht ihren Umgang mit dem Thema Geburt ändern. Fast jedes dritte Kind kommt momentan in Deutschland per Kaiserschnitt. Ein Kaiserschnitt entbindet uns allerdings vom Kampf durch den Geburtskanal. Eine Kämpfernatur erblickt auf diese Weise kaum das Licht der Welt und muss sich seine Durchsetzungsfähigkeit im Laufe des Lebens mit viel Mühe aus eigener Kraft aneignen.

Für mich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: Wie würde es sich auswirken, wenn die meisten Geburten nicht ein schmerzvolles Leiden wären, sondern Momente der Ekstase, der Kraft und des Glücks, wie sie in den Artikeln über sanfte Geburt in diesem Heft dargestellt werden? Würden so friedlichere und entspanntere Menschen heranwachsen und könnte sich dadurch mit der Zeit auch gesamtgesellschaftlich etwas ändern?

Jörg Engelsing

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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