Mit der Streichung öffentlicher Dienstleistungen würde immer mehr Arbeit zurück in die Haushalte verlagert, so Silvia Federici, Prof. em. für Politische Philosophie an der Hofstra University, Long Island, New York. Besonders Frauen seien oft chronisch überlastet, weil sie zugleich Erwerbsarbeit und Sorgearbeit übernehmen müssen. Leidtragende sind neben den Frauen vor allem Kinder. Jedes vierte Kind in den USA leidet laut Statistik inzwischen an einer psychischen Krankheit. Doch Diagnosen wie „Hyperaktivität“, „Aufmerksamkeitsdefizit- Syxndrom“ und „Depression“ maskieren oft die soziale Realität nur: Viele Kinder, die Aufmerksamkeitsprobleme haben, würden mit Medikamenten sediert. Auch alte Menschen würden zunehmend „ausrangiert“, die Pflege aus Kosten- und Zeitgründen inzwischen sogar in Billiglohnländer verlagert.

 

Kontext TV: Wenn wir von Krisen reden – etwa der Finanzkrise –, dann denken wir meistens an eine Krise der Produktion. Sie sprechen von einer „Krise der Reproduktion“. Was heißt das?

Federici: Reproduktionskrise bedeutet, dass immer mehr Menschen Schwierigkeiten haben, für Grundbedürfnisse aller Art zu sorgen. Am augenfälligsten ist natürlich der Ressourcenmangel. Wir verlieren unsere Wohnungen, unsere Arbeitsplätze, wir haben keinen Zugang zu monetärem Einkommen, während so viel von dem, was wir brauchen, nur am Markt erworben werden kann. Das ist sehr offensichtlich.

Andere Formen der Reproduktionskrise haben mit Überarbeitung zu tun. Frauen machen immer noch die meiste unbezahlte Hausarbeit, sind aber gleichzeitig oft selbst erwerbstätig. Dadurch leiden sie unter einer immensen Arbeitsbelastung.

Dass mit der Berufstätigkeit der Frauen die unbezahlte Arbeit zu Hause verschwunden oder deutlich weniger geworden wäre, ist ein Mythos. Vielmehr wurde durch die Streichung öffentlicher Dienstleistungen Arbeit zurück in die Haushalte verlagert. In den USA hat die Krankenhausreform bewirkt, dass Patienten nach Operationen immer früher entlassen werden und dann zu Hause versorgt werden müssen. Von den Frauen wird erwartet, dass sie die Behandlung fortsetzen, die früher das Krankenhaus übernommen hätte. Wir haben es also tatsächlich mit einer Rückkehr der Hausarbeit zu tun.

Die Krise betrifft auch die Kinder. Weil Frauen heutzutage viel außer Haus arbeiten, wird die Kinderbetreuung zum Krisengebiet. In den USA sprechen wir von den Schlüsselkindern. Sie sind sechs, sieben, acht Jahre alt und tragen einen Schlüssel um den Hals, weil ihre Mutter nicht zu Hause ist, wenn sie aus der Schule kommen. An dieser Stelle möchte ich auf ein typisches Symptom der Krise hinweisen: Laut Zahlen des amerikanischen Center for Disease Control leidet in den USA jedes vierte Kind unter einer psychischen Krankheit, sei es Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizit, oder sogar einer Depression. Schon im Alter von vier oder fünf oder sogar früher erhalten Kinder Medikamente. Eine ganze Generation von Kindern wird sediert.

Ich stehe solchen Diagnosen sehr skeptisch gegenüber. Ich glaube, hier wird ein soziales Problem medizinisch maskiert. Man vertuscht auf diese Weise, dass schulische Programme ständig gekürzt werden. Die Schulen bieten den Kindern immer weniger, die Kinder werden nicht kreativ gefördert und langweilen sich zu Tode. Die Schulen gleichen eher Gefängnissen als Orten, an denen Kinder sich entfalten können. Die Eltern, die Familien leiden unter immensem Stress. Und deshalb bekommen die Kinder keine Aufmerksamkeit. Außerdem üben auch der Staat und seine Institutionen einen unglaublichen Druck auf die Kinder aus. Man versucht jetzt, die Kinder schon im zarten Alter von vier oder fünf auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Ich musste mit Schrecken feststellen, dass in den USA Kinder von vier, fünf Jahren Tests machen müssen, um ihre geistige Einstellung zu prüfen. So nimmt man den Kindern ihre Kindheit weg. Und die Antwort auf ihre Unzufriedenheit ist Ruhigstellung.

 

Kontext TV: Betrifft die „Krise der Reproduktion“ nur Kinder?

Federici: Nein, eine ähnliche Krise finden wir bei alten Menschen, schlimmer sogar, denn um Kinder kümmert man sich trotz allem noch mehr als um die Älteren. Kinder sind ja die Zukunft, während die Alten schon so gut wie ausrangiert sind. Deshalb werden sie noch leichter übersehen und vernachlässigt. Ältere Menschen erhalten immer weniger Leistungen. Sie leben in großer Armut und Einsamkeit.

Im Alter brauchen Menschen Hilfe zum Beispiel in Form von Pflegekräften, die sie besuchen, ihnen Essen bringen, bei der Hausarbeit helfen und ihnen ermöglichen, zu Hause wohnen zu bleiben, denn das wollen die meisten. All diese Hilfen werden immer weiter eingeschränkt. Soweit ich weiß, erlebt auch Deutschland eine große Krise in diesem Bereich. Ich habe gehört, dass man sogar schon versucht, ältere, insbesondere demente Menschen umzusiedeln. Familien schicken ihre älteren Verwandten ins Ausland, weil es zu anstrengend oder zu teuer ist, sie in Deutschland zu versorgen. Daran zeigt sich, dass wir die Commons* dringend brauchen.

Und noch eins möchte ich hinzufügen, ein weiteres Alarmsignal: In den USA haben Frauen aus einkommensschwachen und bildungsfernen Schichten seit 10, 15 Jahren eine um fünf Jahre kürzere Lebenserwartung als ihre Mütter. Die Lebenserwartung geht also zurück, und ganz besonders bei Frauen. Das liegt eindeutig an ihrer extremen Überarbeitung und Belastung. Eine andere sehr aufschlussreiche Statistik besagt, dass die Anzahl der Frauen, die im Gefängnis sind, seit den 70er Jahren um 700 Prozent gestiegen ist. Das steht auch im Zusammenhang mit der Krise des Ressourcenzugangs – die meisten dieser Frauen sitzen nämlich für einvernehmlich begangene und nicht gewalttätige Verbrechen ein, da sie gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt jenseits der Legalität zu verdienen.

 

*Güter und Dienstleistungen, die gemeinsam genutzt werden nach gemeinsam ausgehandelten Regeln

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Eine Antwort

  1. Rüdiger Biallas
    Miteinander fördern

    Eine Möglichkeit sehe ich darin, das sich die einsamen, alleingelassenen Senioren (falls diese dazu geeignet sind) sich um die kinder kümmern. Diese haben in der Regel mehr Lebenserfahrung, brauchen gegen die Einsamkeit auch jemandem um sich herum und so können die Kinder vielleicht auch im Haushalt… helfen.

    Antworten

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