Ich habe seit 14 Jahren Neurodermitis und nichts hilft gegen das grauenhafte Jucken und die heftigen Schmerzen. Stattdessen wird es immer schlimmer. Vor kurzem habe ich eine neue homöopathische Behandlung angefangen, weil ich der Überzeugung bin, dass die Symptome allesamt psychisch sind und von daher am besten auf einer energetischen Ebene angegangen werden sollten, die auch die Psyche mit einbezieht. Der Homöopath fand auch ein Mittel, das bei mir dann starke emotionale Bewegungen und noch mehr Jucken auslöste. Ich konnte überhaupt nichts machen, sondern lief nur heulend und voller Verzweiflung durch meine Wohnung. In der vierten Nacht wurde es so schlimm, dass ich auf einmal nur noch innerlich auf mich einprügelte. Es ging dabei nicht um einen Schuldigen, um ein klares Ziel, sondern nur darum, dieser brutalen Energie irgendwie Ausdruck zu verschaffen. Bei dieser Art von Gewaltausbruch zeigen sich zwei verschiedene Typen: Die einen suchen sich als Projektionsfläche Dinge und Menschen im Außen, die anderen lenken diese unglaublichen Ausbrüche von Zerstörungsenergie auf sich selbst. Ich musste in diesem Moment glücklicherweise diese Energie nicht aktiv als Kratzen umsetzen, indem ich wie – schon manchmal – ein wildes Tier über mich herfiel, aber ich war schockiert von der Intensität der Gefühle, bei der es nur darum ging, diese Energie irgendwie aus mir rauszubringen.

Nicht jeder hat in seiner Kindheit so krasse Erlebnisse gehabt, dass sich die verdrängten Energien derart explosiv ausdrücken müssen, aber alle Nachkriegsgenerationen sind Träger von viel Gewalt, Schmerz und Angst, die wir als real akzeptieren und dementsprechend behandeln müssen. Als das wahre Ausmaß sexuellen Missbrauchs in unserer Gesellschaft vor einer Reihe von Jahren sichtbar wurde, begegneten viele Menschen dem ungläubig bis schockiert. Aber diese Realität mit ihren krassen Folgen ist nicht mehr wegzudiskutieren – und all das verdrängte Elend versucht sich irgendwie im Leben auszudrücken, um ihren menschlichen Träger von der damit zusammenhängenden Zerstörungskraft zu befreien. Es ist leider oft die Hölle, da durchzugehen, um diese Energie zu integrieren und sich zu heilen. Und in meinem Fall dauert es schon Jahrzehnte – trotz effektiver Therapien, guter Therapeuten und Heiler. Doch wenn wir als Gesellschaft diesen Weg nicht gehen, dann werden wir untergehen in einer Kakophonie äußerer Gewalt und Krankheitssymptomen jeder Art. Es ist noch nicht zu spät, diesem Weg kollektiv Priorität einzuräumen, aber wir können in dem, was wir hier als Gesellschaft seit einigen Jahren erleben, bereits die Auswirkungen von kollektiv verdrängtem Schmerz sehen.

Jörg Engelsing

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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