Einem anderen vergeben – für mich schwingt da oft ein Gefälle mit. Da ist ein Schuldiger, dem ich Unschuldiger großzügig (manchmal gönnerhaft) die Schuld vergebe. Der andere war’s, ich habe im Grunde nichts damit zu tun. Eine Illusion. Stimmiges Vergeben ist für mich ein – vor allem für mich selbst – heilsames Loslassen einer Beschuldigung gegenüber einer anderen Person, gegenüber dem Leben, Gott usw. Sie geht damit einher, dass ich die Verantwortung für die entsprechende Situation übernehme, indem ich erkenne – egal, wie schlimm etwas für mich war –, dass sie mir nicht zufällig begegnet ist, sondern ein (mir oft lange Zeit nicht ersichtliches) Heilungspotenzial für mich in sich trägt.

Und dass derjenige, den ich bislang als den Schuldigen ausgemacht hatte, nur Erfüllungsgehilfe des Lebens ist, um mir ein unerlöstes Thema zu spiegeln, damit ich es heilen kann. Vergebung in diesem Sinne ist darum keine Großzügigkeit, sondern eine sinnvolle und keineswegs selbstlose Reinigung und Befreiung von Hass, Wut, Hader und Schmerz. Denn all das macht nur krank und schwach und trennt uns davon, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Verantwortung übernehmen funktioniert letztlich nur durch die gelebte Erkenntnis: Wir können nichts anderes im Außen erleben als das, was in uns drin ist. Das, was wir erfahren, bildet immer nur unsere eigene Struktur ab, nie eine von uns unabhängige Wirklichkeit.

In diesem Sinne ist das ganze Leben ein Heilungsprozess der bedingungslosen Liebe, aus der alles besteht (auch wenn sich das oft komplett anders anfühlt). Lassen wir Schuldgefühle los, ist dabei der wichtigste Aspekt, erst einmal sich selbst zu ver­geben, denn die Versöhnung mit anderen Menschen ist eng verbunden mit der Versöhnung mit sich selbst. Ohne diese bleiben in der Tiefe immer Unzufriedenheit, Bitternis und Hadern unter der anscheinend bereinigten Oberfläche zurück.

Sich selbst zu vergeben für all unser vermeintliches Versagen, für unsere „unspirituellen“ Gedanken, Gefühle und Taten, für unsere Unfähigkeit, den eigenen Ansprüchen zu genügen – das ist der Kern des Mitgefühls auch für andere. Und wo Mitgefühl ist, stellt sich die Frage nach Schuld und Vergebung gar nicht mehr …

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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