Als Kleinkind ist für uns das Lesen der Regungen in den Gesichtern der Menschen um uns herum überlebenswichtig, denn wir lernen aus der Mimik unseres Gegenübers uns und unsere Welt kennen. Das Gesicht unserer Mama beispielsweise zeigt uns deutlich, ob unser kindliches Verhalten erwünscht ist oder nicht. Lächelt sie, freut sie sich? Schaut sie böse oder traurig? Schaut sie mich wirklich an? Sieht sie mich? Wir tun alles dafür, dass Mami lächelt, und diese Art von frühkindlicher Kommunikation gehört zu unserer menschlichen Grundprägung. Auch andere Menschen lernen wir an ihrem Gesichtsausdruck einzuschätzen und bauen auf dieser Basis unsere menschlichen Beziehungen auf. Güte, Milde, Liebe, Wut, Verständnis, Freude und viele weitere Gefühle können wir als Kind im Gesicht der uns umgebenden Menschen erkennen, ohne dass sie darüber sprechen. Diese äußeren Reize regen in uns einen inneren, seelischen Prozess an. Wir bauen eine Beziehung auf, fühlen mit und schwingen mit der Seele, die uns begegnet.

Auch später als Erwachsene ist das Lesen eines Gesichtsausdrucks Teil unserer Orientierung im Leben. Die Gesichter, in die wir als Kleinkind und Erwachsene blicken, spiegeln dabei nicht nur aktuelle Emotionen, sondern sind Ausdruck aller jemals gemachten Lebenserfahrung – sie zeigen unsere individuelle Persönlichkeit. Gesammelt und gewandelt in Falten – mal in Lach-, mal in Sorgenfalten. In unserem Gesicht zeigt sich das gesamte Leben, ein Leben, auf das man im besten Fall stolz sein kann, weil man es auf seine ganz eigene Art bewältigt, erlebt, bearbeitet oder vielleicht auch nur ausgehalten hat. Was im Ausdruck des Gesichtes zu Tage tritt, ist der Ausdruck der Seele und der Persönlichkeit eines Menschen.

Der Umgang mit den individuellen Lebensfragen und den durchlebten Problemen lässt sich in dem für alle sichtbaren Gesicht nicht mehr verbergen. Es sei denn, man trägt eine Maske! Dieser Gedanke kam mir, als ich kürzlich folgende Nachricht auf www.gaborsteingart.com/morning-briefing las: „Die nächste Megafusion in der Pharmabranche steht an: Der US-Pharmakonzern AbbVie will den Botox-Riesen Allergan – nach eigenen Angaben ein „führendes Unternehmen für die Erfüllung der Bedürfnisse von Patienten auf den Gebieten des Anti-Aging und der Brustkorrektur“ – kaufen. Das Geschäftsmodell von Allergan beruht auf dem einfachen Satz: Alle wollen älter werden, aber keiner will alt sein. Botox löst zwar das Problem nicht, aber nimmt ihm zumindest die Sichtbarkeit. Oder böser noch formuliert: Fake News kann man nicht nur verbreiten, sondern auch tragen – zum Beispiel im Gesicht.“

Mal ganz davon abgesehen, dass man sich freiwillig ein langwirkendes Nervengift spritzen lässt, das die bewusste Verarbeitung der eigenen Geschichte aktiv verhindert: Warum wollen wir das, was uns an Lebenserfahrung ausmacht, wegspritzen und auslöschen? Was wollen wir vor der Welt verbergen? In was für Gesichter werden unsere Kinder, Enkel und Urenkel noch schauen können, wenn sie ihren Orientierungsprozess in der Welt beginnen? Darum: Bewahren wir unser Gesicht und freuen uns über jede neue Falte. Denn sie ist Zeuge unseres gelebten Lebens! Mehr noch: Sie ist ein Ja zu uns und den vielfältigen Bewegungen des Lebens. In diesem Sinne eine faltenreich freudige Zeit!

von Stefanie Menzel (www.stefaniemenzel.de)

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Eine Antwort

  1. Ulrike Schmidt

    Sehr geehrter Verfasser dieses Beitrags,
    ich bin überhaupt nicht für operative Eingriffe (oder Unterspritzungen) am menschlichen Körper, die lediglich zur Verjüngung dienen. Sie vertreten aber, wenn ich es richtig verstanden habe, die These, dass Falten im Gesicht Zeitzeugen der eigenen Geschichte darstellen und man ’stolz‘ auf sie sein soll.

    Meiner Meinung nach zeugt ein faltiges Gesicht lediglich von ungesunder Lebensführung, schlechten Gedanken und unbewusstem Sein. Wenn man sich gut ernährt und auch sonst auf sich achtet, hat man so gut wie keine Falten und man sieht auch im Alter noch ‚jung‘ und ansehnlich aus! Also: Im Leben auf den Körper acht geben, dann benötigt man kein Botox und keinen falschen Stolz auf Furchen im Gesicht. 😉 Mir freundlichstem Gruß Ulrike Schmidt

    Antworten

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