Kinomichi hat sich aus den Kampfkünsten entwickelt und ist doch keine. Es geht nicht um Angriff und Verteidigung, sondern zentral um den achtsamen Kontakt mit dem Partner. Dabei werden energetische Blockaden gelöst und eine Erfahrung der Einheit stellt sich ein – wir bekommen einen Geschmack davon, wie wir als Menschen eigentlich gemeint sind.

 

Kinomichi ist das wahrscheinlich jüngste Kind in der Reihe der asiatischen Budokünste.
Kinomichi ist modern und traditionell zugleich. Modern, indem es die Erkenntnisse jüngerer europäischer Bewegungslehren in die Disziplin des Aikido integriert, sodass es für jedes Alter praktizierbar ist. Kinomichi betrachtet den Körper als ein kostbares Instrument, das gepflegt und immer wieder neu gestimmt werden muss. Die Techniken werden genutzt, um Blockierungen zu lösen und den Energiefluss zu optimieren.

Herzstück des Kinomichi ist der Kontakt mit dem Übungspartner. Im Kontakt der Energien suchen die Übenden Harmonie in der Bewegung. Es entsteht eine gemeinsame Dynamik, in der es weder einen Führenden noch einen Geführten, weder Angreifer noch Verteidiger gibt. So entwickelt sich Achtsamkeit im Umgang mit anderen und mit uns selbst. Weit mehr als auf Kampf sind wir Menschen auf Resonanz angelegt. Der japanische Aikido-Meister Masamichi Noro, der Kinomichi 1979 begründet hat, nennt es eine Lebenskunst des 21. Jahrhunderts.

Die Frage „Was ist Kinomichi?“ beantwortete er einmal damit, dass er den Song  Frank Sinatras  „My way“ sang. Ich war zunächst schockiert. Und wir? Sollte es nicht auch der Weg, „Michi“, „Do“, seiner Schüler sein dürfen?

Ich erfasste erst nach und nach, warum ich so betroffen war. Ich war darauf hingewiesen worden, meinen eigenen Weg suchen zu müssen. Hier wurde kein Readymade, kein ausgetretener Pfad angeboten. Ich begriff, jeder kann sich nur auf seine eigene Art erfüllen.

Der Weg Meister Noros, der ständige Recherche und Erneuerung beinhaltet, war für mich Ermutigung, selbst zu suchen. Und ich wurde immer wieder überrascht, in ganz unterschiedlichen Bereichen auf dieselben Prinzipien zu stoßen, auf die Meister Noro uns hinwies.

 

„Ich doch nicht“

Meine Begegnung mit Kinomichi begann mit einer Erschütterung, als ich 1981 für ein Jahr nach Paris kam und mich im Dojo in der Rue des Petits Hotels einschrieb. Ich hatte schon ein Jahr Aikido in Berlin praktiziert. Im jugendlich-sportlichen Ehrgeiz hatte ich mich in die Erlernung der Technik gestürzt, war auch schon in Kursen für Fortgeschrittene gewesen. Auch im Dojo Meister Noros schrieb ich mich sofort in mehrere Kurse ein, unter anderem in Kurse für Fortgeschrittene. Meister Noro sah sich meine Bewegungen an, und schon hatte ich einen Spitznamen weg: „La Prussienne“, die Preußin – er erkannte sofort meine destruktive Tendenz, Dinge über das Knie zu brechen. „Vous? Initiation I!“, also Anfängerkurs. Ich dachte, wo bin ich denn hier gelandet? Ich doch nicht! Aber nun war ich schon einmal in Paris und man hatte mir Meister Noro empfohlen. Nach drei Wochen im Anfängerkurs stellte sich ein körperlich-seelisches Wohlbefinden ein, wie ich es nur in seltenen Momenten zuvor gekannt hatte.

Wer vom Aikido kommt und an einen Kinomichi-Lehrgang teilnimmt, wird sich in den Fortgeschrittenenkursen Initiation IV und V technisch sicherlich zurechtfinden, in Initiation I aber auf wenig Bekanntes zurückgreifen können. Zentrales Element ist für Meister Noro, dass der Mensch in die Energielinie Erde-Himmel eintritt. Auch ein Baum ist verwurzelt, der Stamm wächst nach oben, der Saft steigt auf, nach oben hin wird der Baum in der Struktur feiner, leichter und wendet sich dem Licht zu. Liegt seine Kraft nicht in der Vertikalen? Und gibt es nicht Parallelen zum menschlichen Körper? Meine Großmutter, die in Niedersachsen lebte, trug noch eine Tracht: mehrere rote, schwere Röcke übereinander, die schon durch ihr Gewicht den Menschen gut verwurzelten, auf dem Kopf eine Haube oder zur Hochzeit eine Krone aus Glasperlen, oder werktags wurde ein Kuchenblech auf dem Kopfe transportiert. Sie hatte zeitlebens eine wunderbare Aufrichtung. Gerade im europäischen Raum wusste man um diese vertikale Erd-Himmels-Achse. In der Gotik wurde sie in die Architektur umgesetzt. Meister Noro beobachtete Menschen, die in eine Kathedrale eintreten. Sie richten sich auf, und es ist die intuitive Erfahrung dieser Energie Erde-Himmel, die die Menschen untereinander verbindet. So auch in der Bewegung des Kinomichi. Nicht die Horizontale Mensch-Mensch ist die verbindende Kraft, sondern die gemeinsame Erfahrung der Vertikalität stellt die Einheit her. Dies ist für den Übenden spürbar. Auch F. M. Alexander, der Begründer der Alexandertechnik, spricht von einer „primary control“, der Organisation von Wirbelsäule und Kopf und der Ausrichtung in die Vertikale.

 

Verbindung in der Vertikalen

Diese Aufrichtung und Vertikalität ist natürlicherweise in der Art unseres Gehens enthalten.
Wir rollen den Fuß ab, die Ferse hebt sich. Diese Kraft wird im Anfängerkurs bewusst gemacht und im Kontakt erfahren. Aus dem Stand wird der Fuß abgerollt, die Ferse hebt sich und in dieser Expansion begegnen sich zwei Partner, deren Hände sich in der Aufrichtung berühren. Aber nicht nur die Hände, sondern die gesamte Linie „Erde-Himmel“, eine Spirale, ist spürbar, eine Energie, die durch das Abrollen der Füße realisiert wird. Die gemeinsame Ausrichtung in der Vertikalität, der Energie zwischen Erde und Himmel, verbindet die beiden Partner in Harmonie, ohne dass der eine dominiert oder der andere seinen Rhythmus durchsetzt. Während die Techniken früher der Verteidigung dienten, wurden sie im Kinomichi zum Instrument, um sich mit dem Partner zu harmonisieren und energetische Blockaden zu beseitigen.

In seinen Recherchen in westlicher Körperarbeit begegnete Meister Noro Körperdehnungen in Spiralform. Er experimentierte damit und übertrug die Spiralübungen und die Ausdehnung, die er dabei erfahren hatte, in die Aikidotechniken. Alle Techniken des Kinomichi basieren letztlich auf einer oder mehreren Spiralen.

Charakteristische Aspekte des Kinomichi sind Öffnung und Dehnung, die in Anlehnung an die Arbeit von Frau Dr. Ehrenfried, Moshe Feldenkrais und Gerda Alexander in die aus dem Aikido kommenden  Techniken in das Kinomichi integriert wurden. Nach einem Autounfall war der eine Arm Meister Noros gelähmt und eine Lunge funktionsuntüchtig. In dieser Situation erfuhr er am eigenen Leib die Wirkung von spiralförmiger Dehnung und Expansion und das tiefe Wohlbefinden, das sich sodann einstellte.

 

Grundbewegung Spirale

Beobachtet man Tiere oder kleine Kinder, so sieht man, wie sie sich im Laufe des Tages immer wieder dehnen und strecken. Die Dehnung scheint einem vitalen Bedürfnis zu entspringen. Öffnung, Harmonie, Kontakt, Lösen muskulärer Spannung stehen insbesondere in den ersten Kursen des Kinomichi im Vordergrund.

Um so überraschender ist die Erfahrung, dass diese sanften Bewegungen so tiefgreifende Wirkung zeitigen. Wer Kinomichi unterrichtet, weiß beispielsweise, dass der dritte und vierte Tag ein „Krisentag“ sein kann. Bisher fest im Griff Gehaltenes löst sich und damit werden auch die entsprechenden Emotionen frei. Auf längeren Lehrgängen geht Meister Noro dann schon einmal herum und sagt, er würde die Tränen  auffangen. An anderen Tagen wiederum, wenn die energetischen Blockaden sich gelöst haben, fühlt man sich einfach nur „high“, bekommt wieder den Geschmack, wie die Natur uns gemeint hat. Ein Empfinden, das im Alltag des 21. Jahrhunderts so leicht untergeht. Aber es lässt sich wieder wecken.

Ebenso wie „eingerostete“ Knochen und Gelenke. Als Meister Noro 1961 in Marseille landete, sah er auf der Strandpromenade ältere Menschen flanieren, doch leider konnte man das nicht mehr Flanieren nennen – es war eher ein Schlurfen. Masamichi Noro nahm sich vor, die älteren Menschen „zu dynamisieren“. Und es ist ihm gelungen. Auf der Matte sieht man heute immer wieder weit über 70-Jährige in dynamischer Bewegung. Expansion und Spirale lösen die Tendenz zur Verkrampfung und Verhärtung. Die Kontraktion der Muskeln geschieht von selbst, wir haben im Körper mehr Beuger, also Muskeln, die kontrahieren, als Strecker. Unsere Alltagsbewegungen und Stress führen daher zur Dauerverkrampfung – zur Öffnung, Expansion und Aufrichtung bedarf es der bewussten Arbeit. Kinomichi ist ein möglicher Weg, Beweglichkeit und Geschmeidigkeit bis ins hohe Alter zu erhalten.

 

Organisches Wachsen

In vielen spirituellen Wegen wird der Körper immobilisiert. Im Kinomichi geschieht genau das Gegenteil: Das Ki soll geweckt, die Energie durch Bewegung erhöht werden. Beim Kinomichi geht es auch ganz zentral um Verbindung. Besonders die Berührung der Handinnenflächen im Kontakt mit dem Partner in sehr langsamer Bewegung ist für den Anfänger eine Herausforderung. Unsicherheit, Sympathie, Antipathie, Blockierungen, Dominieren-Wollen und Widerstand werden spürbar. Nicht die perfekte Form ist dabei wichtig, sondern der harmonische, energetische Kontakt mit dem jeweiligen Partner.

Meister Noro liebt Pflanzen und weiß um Wachstumsvorgänge. Wie eingangs beschrieben, fühlte ich mich am Anfang durch die mir vorgeschriebene Abfolge der unterschiedlichen Initiationen gebremst, war ehrgeizig und ungeduldig. Ich spürte aber, dass ich der Erfahrung meines Lehrers vertrauen durfte. Er wusste um jede Stufe und um ihre „Fallen“ wie Ungeduld oder Egozentrismus…. Er hatte unsere Entwicklung wie einen organischen Wachstumsvorgang angelegt. Die asiatische Sicht, die Alter und menschliche Erfahrung schätzt und unermüdlich bereit ist, geduldig organisch, körperlich und geistig zu lernen und sich zu üben, ist wohl das schönste Geschenk des Orients an den Okzident. „Mit 60“, lachte Meister Noro einmal, „krabbeln wir gerade aus der Sandkiste.“

Literatur: Daniel
Roumanoff: Kinomichi: Die Methode Noro, Werner Kristkeitz Verlag, Leimen 1994

Großer Kinomichi Lehrgang
der KIIA in Berlin
2.-5. Juni 2011 mit Martine Pillet (Paris) & Anne Mess (Berlin)

Do, 2. Juni: 15-20.30h
Fr, 3. Juni: 15-20.30h
Sa, 4. Juni: 15-20.30h
So, 5. Juni: 10-14.30h

Ort: Kinomichi e.V. Berlin
Rheinstr. 44-46, 12161 Berlin
2. Hof, 6. Stock

Info und Anmeldung Tel.: 030-873 79 61 oder annemessprivat@ googlemail.com

www.kinomichi-berlin.com
www.kinomichi.de

Über den Autor

Avatar of Anne Mess

ist Kinomichilehrerin in der Schule für Bewegung in Berlin und Feldenkraislehrerin.

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