Abb: © Peter Anta auf PixabayMit Reinhold Messner am Mount Everest 28. September 2019 Selbsterfahrung Über die Sehnsucht nach der Überwindung der Grenze berichtet Ursula Grether, die mit Reinhold Messner auf mehrere Achttausender gestiegen ist. Was Suchen bedeutet, ist relativ eindeutig: ein kurzfristiges, bewusstes Schauen nach etwas Konkretem. Wenn ich es nicht bekomme, habe ich durchaus auch die Möglichkeit, meine Suche auf ein anderes Ziel umzulenken. Bei der Sucht existiert dagegen eine Abhängigkeit, die mir das nicht erlaubt. Hier stehen starke Emotionen und ein körperliches Lechzen im Vordergrund – sei es nach einem konkreten Stoff (zum Beispiel Alkohol) oder nach einer Tätigkeit (Spielsucht). Selbst bei bewusst erkannten höchst ungesunden und gefährlichen Süchten hat unser Wille es sehr schwer, sich dagegen durchzusetzen. Auch bei der Sehnsucht kommen starke Emotionen ins Spiel. Immer wieder erinnern sie an etwas, das fehlt, sei es etwas Bekanntes (Mensch, Heimat) oder ein noch unklares Objekt. Steckt hinter jeder Sucht auch eine Sehnsucht? Und weist die stärkste Sehnsucht hin zur Vereinigung mit dem Höchsten, dem Göttlichen, dem großen Ganzen, zur Unio mystica? Und wie war das in meinem Leben? Ich verbrachte meine Jugend innerhalb einer Großfamilie in einem Schwarzwalddorf. So sehr ich mich bemühte, der damals dort geforderten klassischen Rolle eines artigen Mädchens zu entsprechen – ich scheiterte ständig, fühlte mich nicht „richtig“, nicht liebenswert, nicht gut genug. Die zur Auswahl stehenden Rollenbilder passten irgendwie nicht. Aber so konnte ich es damals noch nicht erkennen. Ich war einfach verzweifelt, wusste nicht, wohin mit meiner Energie, die mir „aus allen Knopflöchern“ herausquoll. Nachts rannte ich als Traumwandlerin durchs Haus, mein Verhalten tagsüber würde mir in der heutigen Zeit eine doppelte Dosis Ritalin einbringen. Ich wusste nicht, was ich suchte, und nicht einmal, was es alles gab, das ich hätte wollen und suchen können. Der Sehnsucht folgen Ein Füllhorn von Wundern zeigte sich mit den späten Sechziger-Jahren, in denen sich die Bedürfnisse, Frustrationen, Forderungen vieler Gleichaltriger lautstark den Weg hinaus in die Welt bahnten. Ich sah: Ich war mit meinem Problem nicht allein. Auch andere Mädchen und Frauen – und sogar Männer – formulierten ihre Unzufriedenheit mit den alten Rollen. Sie wollten dürfen und nicht nur müssen. Sie wollten mehr Auswahl haben, sogar Gleichberechtigung. Sie forderten und setzten vieles um und bewiesen damit die Gültigkeit ihrer Sehnsüchte. Das tat gut und ermutigte zu mehr – auch mich. Zum Beispiel zu reisen und zu studieren. Und durch den so entstandenen Perspektivwechsel öffnete sich mir die Welt noch weiter. Ich „machte“ einfach und staunte über die ausbleibende Strafe. Ich reiste nach Südund Nordamerika, durch Europa und Asien – artig in den Semesterferien. Ich wählte den am meisten angepassten Beruf einer Ärztin – und folgte damit meiner Sehnsucht, gebraucht zu werden –, tat Sinnvolles und spürte tiefe Befriedigung. Endlich gab es ein Anforderungsprofil, das zu meinen Kompetenzen zu passen schien, ohne dass ich leiden und mich verbiegen musste. Ich genoss es und wollte mehr, wurde übermütig. Bedeutet ‚über-mütig‘ zu viel Mut? Zumindest war ich angesteckt und wollte mich erproben. Aber wie und wo? Das beste Angebot, in das dieser Mut fließen konnte, erhielt ich von Reinhold Messner. Der wilde, unangepasste Bergrebell suchte nach einer Person, die die klar definierte Rolle einer Expeditionsärztin für ein weiteres seiner nutzlosen, gefährlichen Unternehmen übernahm. Auf Berge steigen, nur weil sie da sind – das ist doch wirklich nutzlos. Auch sinnlos? Zunächst sah es so aus. Trotzdem sagte ich nach anfänglichem Zögern zu. Und befand mich in meinem nächsten Sehnsuchtsfilm. Nachdem der erste mir einen beruflichen Wirkungsbereich aufgezeigt hatte, wollte ich nun wissen, wie weit ich meine Grenzen verschieben kann. Und rutschte so über die fließende Linie zwischen Sehnsucht und Sucht. Sehnsucht und Potenzialentfaltung Worum ging es bei Messners Expeditionen? Etwas tun, nur um zu beweisen, dass es geht? Immer schneller, höher, waghalsiger als die anderen, immer die Beste, immer der Erste sein? Oberflächliche Antworten auf diese Fragen müssen zwangsläufig negativ ausfallen. Doch so einfach ist es nicht, denn Grenz- und Extremsituationen – wie auf den höchsten Punkt der Erde zu steigen, ohne zusätzlichen Sauerstoff aus Flaschen zu atmen – kann dem Menschen (und damit letztlich allen Menschen) durchaus sein volles Potential aufzeigen und neue Möglichkeiten eröffnen. Und wer hat diese Sehnsucht nicht? Und tatsächlich schienen die 8848 Meter für „Nachsteigende“ zu schrumpfen. Wenn das Gehirn weiß, dass eine Besteigung des Mount Everest nur mit der eigenen Lungen-, Körper- und Geisteskapazität möglich ist, benötigt es nicht mehr so viel Kraft, um ständig die Unsicherheit einer Lebensbedrohung zu bannen und mit den starken Ambivalenzen – steige ich auf oder doch lieber ab – umzugehen. Denn wer kennt sie nicht, diese kräftezehrenden inneren Antreiber und Bremser? Und die Wohltat, wenn beide miteinander versöhnt sind? Klar ausgerichtet lässt sich das komplette Energiebündel höchst fokussiert einsetzen. Von Messners Pionierleistungen, die neue Türen geöffnet haben, profitieren auch die jährlich über tausend Menschen, die heutzutage auf den Everest wollen. Auch ich machte mich damals, 1978, auf, um in Nepal ganz auf mich allein gestellt den Weg zum Everest-Basecamp zu finden und Reinhold Messner zu besuchen. Er hatte mich eingeladen, damit ich mir selbst ein Bild machen konnte von den Aufgaben einer Expeditionsärztin. Denn eine solche brauchte er noch unbedingt für seine geplante Solo-Besteigung eines Achttausenders, die wenige Monate nach seinem „Everest by fair means“ (also ohne Sauerstoffgerät) am Nanga Parbat stattfinden sollte. Er wollte innerhalb von kürzester Zeit zwei Tabus brechen und zeigen, was Menschen tatsächlich möglich ist: den höchsten Punkt unseres Planeten ohne zusätzlichen künstlichen Sauerstoff erreichen und die Besteigung eines Achttausenders auch ohne Kletterpartner – also ohne Team, das begleitet, versorgt und den Weg vorbereitet – schaffen. Ein Extrem, ein Höhepunkt nach dem anderen. Ist das noch sinnvolle Herausforderung oder schon Sucht? Das Ego aufrichten Ja, auch Sucht. Selbst Messner empfand seine ambitionierten Bergprojekte eine Weile als von Sucht gesteuert. Aber ich genoss – und ich kann sagen: wir genossen – auch unsere Lebenslust. Wir feierten uns selbst und unser Potential, öffneten uns für andere Landschaften, Religionen, Kulturen, erlangten Freiheit von eigenen sozialen und kulturellen und familiären Einschränkungen, lebten sehr einfach, genügsam und glücklich. Ich konnte jeden Tag meine Grenzen ein kleines Stück hinausschieben oder anerkennen und wieder enger stecken. Es war für uns ein Spiel trotz allgegenwärtiger Todesgefahr, trotz Erdbeben und Lawinen. Unmengen von Adrenalin flossen. Ich war thrillsüchtig. Süchtig nach Gefahren, Angst, Unsicherheit – immer mit dem Ziel, sie alle zum Großteil aus eigener Kraft zu überwinden und mich in Glück, Entspannung, Freude und dem Gefühl von Gerettet- und Geborgen- Sein, von Es-geschafft-Haben wiederzufinden. Die extremste Herausforderung war sicher mein erster Sprung über eine Gletscherspalte – ganz ohne Hilfsmittel. Es war so schaurig schön und tat so grausam gut, mein Ego aufzurichten und zu polieren und so all die jahrelangen Zweifel und Unsicherheiten vom Tisch zu fegen. Mich in Gefahr begeben und sie dann überwinden und mich retten! Immer abwechselnd! Das turnt an. Das turnt umso stärker, je mehr ich glaube, dass ich selbst es war, die mich gerettet hat. Und das gaukelt mir damit eine Kraft vor, mit der ich stark genug wäre, alle zukünftigen Herausforderungen zu meistern. Ich ganz allein. Allein schon, wenn ich den Weg zum Everest-Basecamp gefunden und geschafft habe, werde ich auch Zugänge zu anderen Zielen finden und sie erreichen. Allmachtsphantasien! Selbstwirksamkeit wahrnehmen Zu all dem kam die positive Reaktion von außen, die typische Anerkennung und Bewunderung durch die Gesellschaft, nachdem ein Tabu gebrochen, eine Begrenzung überwunden wurde. Während vorher das zunächst außergewöhnliche Vorhaben als verrückt, gefährlich, verantwortungslos gegeißelt wird, erhält es nach dem Gelingen umso mehr Bewunderung und gerade diejenigen, die es vorher besonders ablehnten, hatten „seine Genialität“ auf einmal „immer schon erkannt“ und wollten es vielleicht dann sogar selbst ausprobieren. Bewunderung erntete Reinhold reichlich. Die Leute waren verrückt nach ihm, seinen Ideen und Geschichten. Ein wenig schwappte auch auf mich über. Nicht so sehr beim Tabubruch am Everest. Dessen Dramen und Glücksmomente erlebte ich als Gast im Basecamp mit. Aber am Nanga Parbat war ich einer der beiden Hauptakteure. Ohne Arzt oder Ärztin hätte die Regierung des Landes keine Genehmigung zur Besteigung ausgesprochen. Und nach dem Erfolg wurde auch in mir nicht mehr nur die Verrückte gesehen, die nur habe zusagen können, weil sie so wenig Ahnung von dem wahren Ausmaß der Gefahren hatte, sondern auch die mutige, kompetente junge Frau, die ihre Aufgabe gut gemacht hat. Der Zuwachs an Selbstbewusstsein – im Sinne von Mir-meiner- Selbstwirksamkeitgewahr- Werden – tat gut. Das Mich-Erleben in der Natur und in den Bergen stärkte auch mein Verbunden-Sein mit der Umgebung, mit anderen, mit dem Ganzen. Das war mir aber zunächst nicht bewusst – auch nicht das Erleuchtungserlebnis, das ich auf einem „Ausflug“ zu einem nahen Siebentausender hatte. Eine schwierige Stelle konnte ich mit meinen einfachen Schuhen klettertechnisch nicht meistern. Also blieb ich davor sitzen und hoffte darauf, dass mich Reinhold bei seinem Abstieg wieder mitnahm. Allein wäre ich verloren gewesen. Und da saß ich dann mutterseelenallein in sechstausend Metern Höhe inmitten von Felsen und unendlichen Bergketten und wartete – ohne Angst, ohne Orientierung, ohne Plan – glückselig. Erst viel später konnte ich das Erleben von damals als Aufwacherlebnis benennen. Neue Ausrichtung der Sehnsucht Der Weg hin zur Sucht – „es“ eben immer wieder haben wollen und „es“ regelrecht zu brauchen – war ein multifaktorielles und schleichendes Geschehen. Und der Weg heraus ebenfalls. Mein Beinbruch am K2 zwang mich zum Umkehren, zunächst per Rettungsflug aus den pakistanischen Bergen. Die lange Genesungszeit in Deutschland bot endlich Zeit und Raum zum Nachspüren. Stimmt dieser Weg noch für mich? Mein Körper hatte sich gewehrt gegen den zerstörerischen Kräfteverschleiß, den ein Leben in mehreren tausend Metern Höhe fordert, und mein Geist erkannte, dass meine vermeintliche Stärke relativ war. Und Bauch und Herz erfuhren immer weniger Befriedigung durch die Erfolge, erkannten ihre Brüchigkeit und versagten ihre Zustimmung zu weiteren zweifelhaften Herausforderungen. Durch das harte Aus am Berg tat sich ein Freiraum auf, in den eine neue Sehnsucht hineinzüngeln konnte. Es gab Raum für eine Sinnsuche auf einer neuen Ebene und recht bald zwei deutliche Ziele: zunächst Kinder gebären und in die Welt begleiten. Dieser Wunsch ist sicher stark Hormon – unterstützt. Und parallel dazu die Suche nach einem ruhigeren und beständigeren Glück, das nicht so risikoreich erkauft werden musste – eindeutig ein spirituelles Ziel. In Nepal suchte ich zunächst nach einer optimalen Variante des Autogenen Trainings, das bereits erste Erfolge gezeigt hatte beim Beruhigen meines aufgeregten Geistes. Ich traf Lama Thubten Yeshe, meinen ersten tibetisch-buddhistischen Lehrer. Er hatte kein Super-Training für vermeintliche Übermenschen in Grenzbereichen im Angebot, dafür eine viel kostbarere, über zweitausend Jahre alte Weisheitslehre – und wurde mein Wurzellama. Auch er war ein Rebell, der seine religiösen Regeln hinterfragte. Er hatte sein Kloster und die Ausbildung zum Geshe (entspricht etwa unserem Professor) verlassen, lernte Englisch und nahm Schüler aus dem Westen an. Seine Kompetenz, seine Liebe und Weisheit überzeugten mich. Tief tauchte ich ein in die Lehre Buddhas, ließ mich nähren und tragen und lächelte und lächle auch heute noch anerkennend über seine drei Mantras, die er speziell für uns Westler formuliert hatte: Atme! – Lass los! – Du bist gut genug! Die Schönheit des Gewöhnlichen Ich brauchte dabei nicht blind zu glauben, alles war überprüfbar und erfahrbar. Nach Lama Yeshes frühem Tod fand ich andere buddhistische Lehrer, den Dalai Lama, den 16. Karmapa, Thich Nhat Hanh, Ringu Tulku Rinpoche und viele mehr. Meine spirituellen Wurzeln gruben sich tief in die Erde. Ich fühlte mich getragen, genährt. Meist. In Berlin floss die Kraft, die meine Kinder und die Arbeit als Ärztin übrig ließen, in den Aufbau des Zentrums für Frieden und Verständigung, Bodhicharya, und die Gründung eines der ersten buddhistischen Hospizdienste Deutschlands. Hier flossen die Energieströme meiner neuen Sehnsucht harmonisch zusammen. Der Segen des Kailash, des heiligen Pilgerbergs in Westtibet, passte gut zu meiner bisher erlangten medizinischen und psychotherapeutischen Erfahrung. Die Verbindung all meiner Erfahrungen mit dem Buddhismus mit meinen westlichen Ausbildungen war aber nicht selbstverständlich, sondern wollte ergänzt und trainiert werden. Wieder half die spirituelle Sehnsucht. Ich brauchte ihr nur zu folgen. Und schon vernahm ich die Empfehlung einer Freundin und saß bei Christian Meyer im Satsang. Er lehrt den westlichen Advaita Vedanta von Ramana Maharshi, verbindet uralte östliche Erfahrung mit westlichem Knowhow. Er vermittelt auch glaubhaft, dass Erleuchtung in diesem Leben möglich ist, und leitet Übungen an, die diesen Gnadenakt „anlocken“. Es sind Übungen zum Loslassen, zum Sich-fallen-Lassen durch die Todesangst hindurch hinein in Glückseligkeit. Um meiner Sehnsucht zu folgen, musste ich nicht mehr in der Ferne nach exotischen Lehrern suchen. Die U-Bahn brachte mich zu den gut verständlichen regelmäßigen Treffen in der Stadt. Ein Sommer- und ein Winterretreat gab‘s auch – ganz ohne Herumsuchen nach passenden Flügen, Unterkünften und Visa. Der Weg von extremen Bergen, Gefahren und Nervenkitzel hin zum Gewöhnlichen, zum Standhalten, zu alltäglichen Leiden und Durststrecken war steinig, fiel mir aber relativ leicht. Wahrscheinlich, weil der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war. Kein künstlich erzeugter Thrill war mehr nötig, die Alltagsdosis reichte aus, um mich zu spüren. Ich wollte das Leben nicht mehr herausfordern und dann be-wältigen (steckt da das Wort Gewalt drin?), sondern konnte ihm einfach vertrauen. Konnte vertrauen, dass das, was mir das Leben gerade vor die Füße legte – ob angenehm oder nicht –, zu genau diesem Zeitpunkt genau das Richtige ist. Heute habe ich Gipfelerlebnisse anderer Art. Am Sonntag, den 27. 10. 2019 von 16 bis 18 Uhr liest Ursula Grether aus ihrem Buch “ Aufstieg in die Tiefe – Meine Reise mit Messner, Buddha und Parkinson“ und berichtet von einer Reise ins abgelegene Kham in Tibet. Dorthin begleitete sie ihren Lehrer Ringu Tulku Rinpoche bei seinem ersten Besuch in seinem Heimatkloster mehr als vierzig Jahre nach seiner Flucht. Ort: Bodhicharya, 10247 Berlin- Friedrichshain, Kinzigstraße 29 (U 5 Samariterstraße). Eintritt auf Spendenbasis, Info und Kontakt: Tel.: 030-290 097 39, info@bodhicharya.de, www.bodhicharya.de Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.