Die erfüllte Paarbeziehung muss sich auszubalancieren zwischen gemeinsamem Kompensationsversuch und Essenz…

von Elke Jari

„Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr, sind ihre Wege auch schwer und steil. (…) Denn so, (…) wie sie dich wachsen lässt, beschneidet sie dich. So wie sie emporsteigt zu deinen Höhen, (…) steigt sie hinab zu deinen Wurzeln. (…) Wie Korngaben sammelt sie dich um sich. Sie drischt dich, um dich nackt zu machen. Sie siebt dich, um dich von deiner Spreu zu befreien. (…) Aber wenn du in deiner Angst nur die Ruhe und die Lust der Liebe suchst, dann ist es besser für dich (…) vom Dreschboden der Liebe zu gehen. In die Welt ohne Jahreszeiten, wo du lachen wirst, aber nicht dein ganzes Lachen, und weinen, aber nicht all deine Tränen. (…)“ Aus „Von der Liebe“ von Kahlil Gibran (1883-1931)

In der Phase der Verliebtheit sagen wir vielleicht in kindlichem Übermut: „Ich liebe dich.“ In der Phase der Enttäuschung sagen wir: „Ich würde dich ja gerne lieben, aber das geht so nicht.“ Was Liebe außer Liebe in unseren Beziehungen sonst noch ist und womit wir Liebe mitunter verwechseln, hängt davon ab, welcher Anteil in uns gerade unser Bewusstsein bestimmt. Zum Beispiel möchte der verletzte Anteil des Kindes in uns in Beziehungen alte Defizite auffüllen: Sicherheit, Zuwendung oder Autonomie. Dieses innere Kind hat einen bestimmten „Schutzstil“ entwickelt, um eine Wiederholung des alten Traumas von Verlassenwerden, Beschämtwerden oder Geschocktwerden zu vermeiden. Es möchte, dass sich der Partner so verhält, dass es vor der Konfrontation mit der alten Geschichte bewahrt wird.

In diesem Bewusstseinszustand erhoffen wir uns am meisten von unserem Beziehungspartner, dass er eines der folgenden Ja’s zu uns sagt:
1. Ja, du hast recht.
2. Ja, du bist wertvoll und unentbehrlich für mich. Ohne dich wäre ich nichts.
3. Ja, du bist großartig und du hast meine Aufmerksamkeit. Ich trage unermüdlich dazu bei, dass du noch erfolgreicher wirst, bis alles um dich herum dir spiegelt, dass du erfolgreich bist.
4. Ja, du bist unvergleichlich besonders, tief und intensiv und unser Miteinander ist es auch.
5. Ja, ich bin verlässlich für dich da, habe dabei aber keinerlei Erwartungen an dich und lasse dir deinen eigenen geschützten Raum.
6. Ja, ich bin treu und verlässlich an deiner Seite, gebe dir Sicherheit, erschaffe gemeinsam mit dir Sicherheit für uns und wende Gefahren von uns ab.
7. Ja, ich bin deine stets verfügbare Droge, die dich vor Schmerz bewahrt. Ich bin dein feuerrotes Spielmobil, deine Eier legende Wollmilchsau, die dich vollständig glücklich macht.
8. Ja, du bist stark und machtvoll.
9. Ja, ich wahre den Frieden zwischen dir und mir durch Kuscheln, Fokussierung auf Unwesentliches, Betäubung und Vermeidung von Konflikten.

Wenn dieses Bedürfnis des inneren Kindes auf Bejahung erfüllt wird, ist es durchaus möglich für dieses Kind, ehrlich zu sagen: „Ich liebe dich.“ In diesem Bewusstseinzustand ist die Beziehung allerdings ein unbewusster Deal zwischen zwei traumatisierten Kindern, der dabei helfen soll, die unbewältigte Angst zu mindern. Wer einen Partner findet, dessen Kompensationsstil gut zum eigenen passt, wird bleiben und mit ihm durchs Leben rutschen. Fred möchte Sicherheit, Frederika auch. Das passt. Gemeinsam erschaffen sie Sicherheit. Die Herausforderungen und Aufforderungen zur Entwicklung schickt das Leben dann vielleicht in anderen Lebensbereichen oder Beziehungen.

Spezifische Schutzvarianten

Wenn diese Hoffnung aber enttäuscht wird – der Partner also nicht die ihm zugedachte Rolle und Funktion übernimmt, was bei den meisten Paaren nach ein paar Wochen oder Jahren der Fall ist –, greifen wir auf unseren früh erlernten Schutzstil zurück und agieren unsere spezifische Variante von Angriff, Flucht, Betäubung oder Erstarrung aus. Jetzt wird die Beziehung ein leiser oder lauter Kampf, bei dem die inneren Kinder versuchen, doch noch zu bekommen, was sie wollen. Das Aufeinanderprallen der Schutzstile löst äußeren und inneren Tumult aus. Aufgemischt von jahrzehntelang unausgedrückten Emotionen wie Angst, Wut und Traurigkeit werfen wir mit alten unausgesprochenen Sätzen um uns, die wir eigentlich den Bezugspersonen unserer frühen Kindheit hätten sagen wollen. Das hält unsere Aufmerksamkeit so sehr beschäftigt, dass wir gar nicht dazu kommen, auf den Ursprung unseres Verhaltens, auf die tieferen Zusammenhänge zwischen traumatischem Erlebnis, Angst vor Wiederholung des traumatischen Erlebnisses und früh erworbenem Schutzstil zu schauen.

Die Schutzstile der verletzten Kinder gehen in Interaktion miteinander und verstricken sich. Wir können in unserer Verzweiflung versuchen, den Partner durch Belehrung, Verführung, schlechte Behandlung, Drohungen, Manipulation, Aufheiterungen, Machtspiele etc. doch noch zu dem gewünschten Verhalten zu bewegen. Wir können rausgehen aus der Beziehung, weitergehen und weitersuchen im Außen. Aber nach der soundsovielten Wiederholung treffen wir vielleicht auf jemanden, bei dem wir nicht einfach weitergehen können oder wollen. Eine starke reale Schnittmenge, die für beide im Leben einen großen Mehrwert hat und nicht so einfach austauschbar ist, ist die beste Voraussetzung, trotz der Schwierigkeiten immer wieder Kontakt zueinander aufzunehmen.

Das eröffnet uns die Chance auf die Initiation eines oft längst fälligen Entwicklungsprozesses, zu dem wir ohne die „schwierige Beziehung“ kaum die nötige Motivation hätten.

„Damit Vertrauen zwischen zwei Menschen entsteht, ist es wichtig, dass wir bemerken, wann das regredierte Kind in uns die Führung übernimmt, und dass wir die Verantwortung dafür übernehmen.“ Amana und Thomas Trobe

Der Entwicklungsprozess beginnt damit, dass wir – statt unsere üblichen Schutzschichtstrategien auszuagieren – innehalten und den Partner in Ruhe lassen. Wenn unsere alte Angst und unser alter Schmerz angestoßen wurde, kann eine erste hilfreiche Maßnahme sein, dass wir uns bewegen – uns schütteln, tanzen oder eine Runde spazieren gehen. Im Stress der alten, aufgewühlten Themen werden Stresshormone ausgeschüttet, die mindestens zwanzig Minuten im Blut kreisen. Bewegung hilft sie abzubauen. Statt uns abzulenken, wenden wir uns anschließend dem in den inneren Keller abgeschobenen Kind zu. Statt uns zu besaufen, in den Puff, zum Shoppen, an den Laptop oder zum Kühlschrank auszuweichen, gehen wir auf innere Erkundung.

Sie braucht einen ruhigen Raum und Zeit – auch im Alleinsein. Sie braucht Mut, mitunter Ermutigung und Begleitung. Jetzt ist die Beziehung ein Spiegel, der uns dabei hilft, die Zusammenhänge zwischen frühem Trauma, daraus entstandener Angst und Schutzstrategien zu erkennen, ein Spiegel, durch den wir die Chance bekommen, Licht in unsere Verhaltensweisen zu bringen und zu Durchblick zu gelangen. Es geht ums Sortieren: Was ist die Übertragung alter, schmerzvoller Geschichten auf die jetzige Situation? Was ist die Projektion eigener abgelehnter Anteile auf meinen Partner? Wir lernen das Kind zu halten, wenn der alte Schmerz angestoßen wurde, ermutigen es zu atmen und zu fühlen, sprechen liebevoll mit ihm. Wir nehmen das Kind sinnbildlich auf den eigenen Schoß, statt es unserem Partner auf den Schoß schubsen zu wollen. Wir akzeptieren das, was wir vorfinden, umarmen das Kind, hören ihm zu, seiner Geschichte, die es uns viele hundert Mal erzählen wird, bis wir sie in unser Herz genommen haben. Wir werden nach und nach zu einem zuverlässigen Begleiter an seiner Seite, an den es sich wenden kann – zu dem Erwachsenen, den es damals gebraucht hätte, aber nicht hatte.

Dadurch, dass unser Partner uns nicht für unsere übliche Kompensationsstrategie zur Verfügung steht, bekommen wir durch sein Nein die Chance zu einer intensiven Begegnung mit uns selbst. Wir erhellen, wie, wann und warum wir uns verstricken und wo wir feststecken. Wir etablieren einen inneren Beobachter, der bemerkt und benennt sowie atmend und fühlend in uns hineinhört. Wir lösen und entwickeln uns aus aus unserem kindlichen Drama heraus.

Kontakt zur Essenz

Wenn der Prozess gelingt, durchdringen wir die verletzte Schicht und gelangen durch zu unserer Essenz. Wir merken es daran, dass ein präsenter Frieden einkehrt – Leichtigkeit, Stille, Weite, Freiheit, Klarheit, Entspannung. Die Angst macht für einen Moment Pause. Nun können wir, bei uns selbst angekommen, vielleicht zu unserem Partner zurückkehren – bis wir das nächste Mal überreagieren auf das, was er/sie tut oder nicht tut. Je geübter wir darin sind, desto zeitnaher bemerken wir allerdings, was gerade zwischen uns passiert, erkennen es wieder, wenn die mittlerweile bewusster gewordenen Ängste und Schutzstilmechanismen in Interaktion miteinander gehen. Wir können vielleicht sogar Absprachen miteinander treffen, was hilfreich sein kann in akuten Situationen.

Mit der Zeit und der Erfahrung lernen wir Prozesse der inneren Erkundung vielleicht sogar lieben. Wenn wir erlebt haben, dass er uns gut tut und uns in unsere Essenz, zurück in einen befreiten Daseinszustand führt, sind wir motiviert, uns immer wieder auf den Weg zu uns selbst zu machen. Wir entdecken nach und nach, dass das Verhalten, das wir bisher nutzten, um eine Wiederholung des ursprünglichen Traumas zu vermeiden, dasjenige Verhalten ist, das unsere Jetzt-Beziehungen zu zerstören droht – dann, wenn wir den regredierten Teil in uns nicht halten und ihn seinen inneren Horror einfach ausagieren lassen, statt als liebevolle/r, fürsorgliche/r Erwachsen/r die Verantwortung für unser inneres Kind zu übernehmen. Mit der nötigen Reflexion sind im Rückblick unsere Paarprobleme nur die Türöffner zu einer tiefgreifenden Persönlichkeitsentwicklung, zu der es ohne sie vielleicht niemals kommen würde.

Klares Sehen durch den heilsamen Kontakt zu sich selbst

Wenn alte Emotionen ausgelöst werden, treffen wir mal diese und mal jene Entscheidung zur Zukunft der Beziehung, aber erst während und nach dem Prozess der inneren Selbstbegegnung können wir den Partner nüchtern sehen als Menschen mit Mustern, Macken, Möglichkeiten. Wir können dadurch ganz individuelle, gesunde und angemessene Lösungen finden, wie, wann, wo und wie viel wir mit diesem Menschen zusammen sein möchten. Manchmal ist das eine Gratwanderung zwischen der Überforderung durch ständig wieder ausgelöste alte Muster und nötigem, aber bewältigbarem Initiationsimpuls. Wenn das Know-How zur Verarbeitung fehlt,  drohen Retraumatisierung, Verausgabung und Burn-out. Entscheidend ist, dass wir den Impuls verarbeiten können und dadurch immer wieder Klarheit, entspannte Präsenz, Momente der Freiheit von Angst und von innerem Frieden erleben.

Ich sage bewusst „Momente“, denn das ist realistisch. Unrealistisch ist die Erwartung eines schnellen, dauerhaften Durchbruchs. Doch mit zunehmender Übung in diesem Prozess können wir leichter erkennen, wie wir uns verstricken, und uns auch leichter wieder daraus befreien. Für einen Moment ist die Beziehung ein friedlicher Ort, an dem wir unseren inneren Frieden mit einem anderen Menschen teilen. Wahre Liebe entsteht durch tiefes Schauen und Verstehen. Und vielleicht stimmt es dann irgendwann zum ersten Mal auf einer tiefen, reifen Ebene, wenn wir sagen: „Ich liebe dich.“

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