Einige Denkanstöße

In welcher spirituellen Welt können sich Lesben und Schwule, Bisexuelle und „transpeople“ zu Hause fühlen? Viele „queers“ schreiben Spiritualität grundsätzlich ab, weil ihre Sexualität in etablierten Religionen als schlecht, sündig, widernatürlich verdammt wird. Ein Freiraum, in dem auch „queers“ sich wohl fühlen könnten, sind alternative Formen von Spiritualität. „Alle Akte der Liebe und der Freude sind Meine Rituale“, spricht die Göttin1).  Doch auch hier gibt es einige Stolpersteine. Über queeres Heidentum.

Vielfach wird auch in esoterischen Kreisen angenommen, die Polarität zwischen Mann und Frau sei die Polarität schlechthin. Sexualität wird als heilig angesehen, aber welche Sexualität? Sind damit tatsächlich auch Formen jenseits des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs und Geschlechter zwischen Mann und Frau gemeint?

Was ist eigentlich „queer“?

12.jpgDas Wort „queer“ bedeutet im Englischen ursprünglich soviel wie „seltsam, sonderbar“, auch „schwul“. Ferner wird es als Sammelbegriff für Leute verwendet, deren Sexualität und/oder Geschlecht sich außerhalb der normalen Heterosexualität oder des normalen Mann/Frau-Musters bewegt.
Lesben, Schwule und Bisexuelle sind nicht die einzigen, die mit „queer“ gemeint sind. Der Begriff umfasst auch Transgender (also Menschen, die entweder ablehnen, als Mann oder Frau kategorisiert zu werden, oder die meiste Zeit ein anderes Geschlecht leben als das körperliche, mit dem sie geboren sind), Transsexuelle (Menschen, die mit einem Geschlecht auf die Welt gekommen sind, das sie als das falsche empfinden) und Intersexuelle (wiederum ein Sammelbegriff für Menschen, deren körperliches Geschlecht nicht eindeutig ist – genetisch, anatomisch oder hormonell) 2).  „Queer“ umfasst also ein riesiges Spektrum. Ein riesiges Spektrum, das draußen bleibt, wenn wir nur die Verbindung von Mann und Frau als heilig anerkennen.

Die unendliche Vielfalt des Göttlichen

Ich kam über frauenzentrierte Spiritualität zum Heidentum. Anfangs empfand ich es als heilsam, ungestört feststellen zu können: Was ist das eigentlich für eine Spiritualität, mit der ich mich als lesbische Frau wohl fühlen kann? Aber irgendwann fehlte mir etwas. Mein eigener Ansatz ist seitdem, die Vielfalt des Göttlichen zu betonen – eine Vielfalt, die der Vielseitigkeit und Vielgestaltigkeit meiner Seele entspricht. Eine Vielfalt, die gelegentlich die Grenzen von Männlich und Weiblich überschreitet.

Die Göttin manifestiert sich nicht nur als Liebende und als Mutter, sondern auch als Königin des Großen Unten (z. B. Ereshkigal), als wilde Jägerin (z. B. Artemis), als Kriegsgöttin (z. B. Morrighan oder Freya), als kluge Jungfrau in Waffen (Pallas Athene). Und auch die männlichen Götterbilder sind vielfältig. Für einen Lichtgott wie Apollon ist da genauso Platz wie für den geradlinigen Krieger (wie z. B. Tyr oder Ares) und für quecksilbrige Figuren wie Loki. Damit nicht genug: In Mythen aller Länder und Zeiten gibt es androgyne Gestalten, Götter und Menschen, die das Geschlecht wechseln. Androgynie oder Transsexualität wird oft mit schamanischen Fähigkeiten in Verbindung gebracht.

14.jpg Muss die Liebesgeschichte immer zwischen Gott und Göttin ablaufen? Homosexuelle Liebe im Mythos ist nicht ganz so weithin bekannt, aber es gibt sie: wie in der Geschichte von Zeus und Ganymed, der von Artemis und ihren Nymphen, von Apollo und Hyakinthos, und natürlich der nicht ganz so mythischen Geschichte der Amazonen. Könnten diese Mythen ihren Platz in unseren Ritualen finden, wenn ja, wie?
Queere Riten für alle? Ja, bitte!

 „Wir wollen kein Stück vom Kuchen, wir wollen unsere eigene Bäckerei!“ war ein Slogan der autonomen Frauenbewegung. Was, frage ich jetzt ketzerisch, wenn wir in der großen Backfabrik einen Vorstandsposten für uns beanspruchen, mitreden, vielleicht unsere eigenen Artikel ins Sortiment bringen?
Im Klartext: Müssen wir queers unter uns bleiben, um Liebe jenseits des zweigeschlechtlich-heterosexuellen Schemas zu würdigen und zu feiern? Oder könnten wir gleichgeschlechtliche Anziehung und ein Leben, das sich nicht in Männlich und Weiblich unterteilen lässt, in den heidnischen Mainstream mit einbringen? Ich werde nicht aufhören, davon zu träumen…

1) Starhawk: Der Hexenkult als Ur-Religion der Großen Göttin, S. 120.

2)  Siehe z.B. Raven Kaldera, Hermaphrodeities, Kap. 1.


Zum Weiterlesen:
Starhawk: „Der Hexenkult als Ur-Religion der Großen Göttin“.
Freiburg im Breisgau (Bauer) 1983
Starhawk: „Wilde Kräfte“.
Freiburg im Breisgau (Bauer) 1987, besonders Kapitel 8
Raven Kaldera: „Hermaphrodeities. The transgender
spirituality workbook.“ Philadelphia Pa.
(Xlibris Corp.) 2001

Über den Autor

Avatar of Camilla Kutzner

31, studiert Germanistik und Musikwissenschaft an der FU Berlin, seit zehn Jahren auf heidnischen Wegen, organisiert einen Stammtisch für queere Gothics und ist Mit-Veranstalterin einer queeren Gothicparty.

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