Die kreative Kraft der neuen Bürgerbewegung fordert die Politik heraus. Kann es gelingen, die politische und wirtschaftliche Elite am Zeitgeist zu berauschen?

 

Wer sich noch an die Montagsdemonstrationen in Leipzig erinnert, weiß, welche revolutionäre Kraft eine Bürgerbewegung hervorbringen kann. Waren die Leipziger Proteste schließlich nichts Geringeres als der Anfang vom Ende der DDR. In Stuttgart hat nun auch der Westen seine Montagsdemo, wenn auch aus einem scheinbar weit geringeren Anlass als dem Sturz eines Unrechtsregimes. Doch wer die Schwaben und Badenser kennt, weiß die Tragweite dieser Aufmüpfigkeit anders zu deuten. Nach der erfolgreichen Protestbewegung 1972-74 gegen das Atomkraftwerk Wyhl, das als Wendepunkt der deutschen Antiatomkraftbewegung gilt, läuft im Südwesten wieder einmal ein Fass über, das angestaut ist vom Frust gegenüber der politischen Elite. Bereits zum 40. Mal versammelten sich die Stuttgarter Bürger, um gegen ein immer absurderes Prestigeprojekt ohne verkehrspolitischen Nutzen zu demonstrieren: Stuttgart 21, den Umbau des alten Kopfbahnhofes in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof samt neuer Schienentrasse nach Ulm, in die der klamme Staat statt der ursprünglichen Planung von 4,5 Mrd. Euro nach neuesten, unabhängigen Schätzungen bis zu 11 Milliarden Euro bis zum Jahr 2019 versenken wird. Noch hält die Landesregierung an Stuttgart 21 fest. Dabei wäre es nur klug, seinen Namen nicht allzu sehr mit diesem Vorhaben zu verknüpfen, denn im März sind Landtagswahlen in Baden-Württemberg.

Der käufliche Teil des Politikbetriebes hat das kreative Potenzial des Bürgers lange unterschätzt und lange ignoriert, dass angesichts schamloser Vetternwirtschaft und organisierter Verantwortungslosigkeit der Volkszorn zu einer neuen Bürgerbewegung hochkochen könnte, die Jung und Alt miteinander vereint.

Nur, um was geht es bei dieser Volkserhebung? Sicher geht es um mehr direkte Demokratie und Transparenz. Doch eine Sache kristallisiert sich dabei deutlich heraus. Die Energie konzentriert sich auf diejenige, die im Dienst des Staates stehen, und darauf sie daran zu erinnern, dass sie dem Allgemeinwohl verpflichtet sind und dass sie schlussendlich persönlich die volle Verantwortung für ihre Entscheidungen zu tragen haben. Erst recht, wenn sich diese gegen den Bürgerwillen richten. Darüber sind sich viele Entscheidungsträger in der Politik, aber auch in der Wirtschaft nicht wirklich bewusst, dass hier ein neuer Mainstream entsteht, der, ach herrje, die Verantwortung auch noch einfordert, dort, wo Verantwortung draufsteht.

Umso bemerkenswerter erscheint vor diesem Hintergrund eine Initiative von 41 Unternehmenslenkern und ehemaligen Ministern, die als Unterzeichner eines „Energiepolitischen Appells“, der dieser Tage in vielen Tageszeitungen abgedruckt wurde, für Aufsehen sorgen. Die Unterzeichner, allesamt Männer, fordern in ihrem Appell „Mut und Realismus für Deutschlands Energiezukunft“. Sie bekennen sich zwar zu den erneuerbaren Energietechnologien, denen „die Zukunft gehört“,  sind aber der festen Überzeugung, dass zur „Sicherung der Lebensgrundlagen von morgen und die Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland“ – und für eine „sichere, saubere und vor allem bezahlbare Energieversorgung“, „bis auf weiteres nicht auf kostengünstige Kohle und Kernenergie“ verzichtet werden kann. Und, ein vorzeitiger Ausstieg aus der Atomenergienutzung würde ihrer Ansicht nach, „Kapital in Milliardenhöhe vernichten – zu Lasten der Umwelt, der Volkswirtschaft und der Menschen in unserem Land“. 

Hut ab! Hier bekennen sich namhafte Persönlichkeiten zu einer Technologie, der Erzeugung von Energie durch Atomkraft, die neben Kohlekraftwerken von der überwältigenden Mehrheit der Bundesbürger abgelehnt wird. Man darf annehmen, dass die Unterzeichner, allesamt gestandene Unternehmensvorstände, Ex-Politiker, Rechtsanwälte und Funktionäre, sich sehr wohl bewusst sind, was sie da tun. Sie gehören zur Führungselite unseres Landes, die die Entwicklung des Gemeinwesens BRD maßgeblich mit beeinflusst. Sie beziehen Position für eine Sache, über die der Souverän schon längst den Daumen gesenkt hat. So werden sie sich nicht wundern, dass sie mit ihrem Bekenntnis zur Atomenergie zwangsläufig auch die gesellschaftliche Verantwortung für diese Technologie übernehmen. Oder wie sollte diese Initiative denn sonst interpretiert werden? Als ein Bekenntnis zur Verantwortung, die man anderen abverlangt, aber die man selbst nicht bereit ist anzunehmen? Sollte hier etwa ein Irrtum vorliegen, à la „so war das nicht gemeint“?

Der Bürger kann erwarten, ja voraussetzen, dass der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, die Chefs von EnBw, Eon, RWE und Vattenfall, der Chef der Bahn, die Bosse von ThyssenKrupp, Bertelsmann, Metro, Oetker, Bahlsen oder auch die Führung der Gewerkschaft IG BCE, ein generelles Bewusstsein für die Tragweite ihrer bisherigen unternehmerischen Entscheidungen entwickelt haben. Somit kann man auch davon ausgehen, dass sie sich der Außenwirkung ihrer Interessensbekundung bewusst sind. Zugegeben, bei Oliver Bierhoff, Wolfgang Clement, oder dem Weltklasse-Wendehals Otto Schily wäre ich mir da nicht so sicher.

Werfen wir doch mal einen Blick auf das Geschäftsmodell, für das die Unterzeichner ihr Ansehen aufs Spiel setzen und bereit sind ihre Hand ins Feuer legen?

  • Technisch gesehen sind Atomkraftwerke bis auf die Handhabung der kontrollierten Kettenreaktion, nichts anderes als Dino- saurier. Wasser wird zu Dampf erhitzt, der eine Turbine antreibt die Strom erzeugt. Zwei Drittel der eingesetzten Energie wird dabei zur Aufheizung von Flüssen und Kühltürmen verschwendet, da die Abwärme  aufgrund der radioaktiven Gefahr keine Verwendung z.B. in Fernwärmenetzen findet. Der extreme Wasserverbrauch schränkt die Verfügbarkeit der Kraftwerke in trockenen Sommern zudem stark ein.
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  • Fast alle Forschungs-, Entwicklungs-, Sicherheits-, und Entsorgungskosten, Wettbewerbsvorteile und Steuervergünstigungen von insgesamt 165 Mrd. Euro wurden seit Einführung der Kernenergie bis heute vom Steuerzahler getragen. Allein der Abriss der ehemaligen Forschungsstätten in Karls- ruhe wird mindestens 11 Mrd. Euro kosten. Die Rechnung für die in radioaktiver Lauge absaufende illegale Endlagerstätte Asse II ist noch nicht aufgemacht. Schätzungen gehen von 2 bis 30 Mrd. Euro für die Rückholung des Atommülls aus.
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  • Das Haftungsrisiko ist für die Betreiber der AKW´s auf 2,5 Mrd. Euro begrenzt. Eine ausreichende Versicherung der Atomanlagen wäre wirtschaftlich nicht zu vertreten. Kein Versicherer würde sich finden, der das Risiko eines größtmöglichen Unfalls (GAU) versichert. Schadenersatzforderungen aus „nuklearen Ereignissen“ verjähren nach 20 Jahren. Ein Verlust der Heimat verjährt nie.
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  • Bis heute gibt es weltweit keine einzige Lösung für die Endlagerung von Atommüll, der 500 Jahre rückholbar und danach viele tausend Jahre und viele Generationen lang sicher eingeschlossen werden muss. Die Kosten hierfür sind noch nicht einmal annähernd bezifferbar.

 

Wen wundert es da noch, dass selbst die schwedische Regierung als Eigner von Vattenfall plant die Problemfirma zu verkaufen, um mit den Erlösen ein neues, grünes Energieunternehmen aufzubauen.

Allein der Dauerstreit der “Experten”, ob der Salzstock in Gorleben für die Endlagerung von Atommüll tauglich ist oder nicht, offenbart das fehlende Verantwortungsbewusstsein der Betreiber und der Befürworter für nachfolgende Generationen. Natürlich ist Gorleben absolut ungeeignet, allein dadurch, dass es nur 20 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Nehmen wir die Prognosen zur zukünftigen Erderwärmung auch nur einigermaßen ernst, wird der Meeresspiegel alleine nur durch das Abschmelzen des grönländischen Eispanzers um sieben Meter steigen. Das komplette Abschmelzen des Eisschildes am Südpol wird eine weitere Meeresspiegelerhöhung von über 70 Metern bedeuten. Schon mehrfach waren der Nord- und der Südpol in der Erdgeschichte eisfrei und der Meeresspiegel wesentlich höher als heute. Wer kann garantieren, dass dieses Ereigniss in den nächsten ein, zwei, dreitausend Jahren nicht wieder stattfindet? So schockierend die Aussicht für die norddeutsche Tiefebene aus unserer heutigen Sicht auch sein mag, keinesfalls dürfen wir es riskieren, dass ein Atommülllager von Meerwasser überflutet wird. Zukünftige Generationen würden uns dafür hassen, dass wir die Verseuchung der Meere billigend in Kauf genommen haben. Ein Blick auf die topografische Karte Deutschlands (z.B. auf wikipedia) zeigt in welchen Regionen die Suche nach einem sicheren Endlager fortgesetzt werden muss. Es sieht ganz danach aus, dass dies in Baden-Württemberg oder Bayern geschehen wird. Spätestens dann wird der Widerstand der Schwaben und der Bayern das Aus der Atomkraftwerke besiegeln.

Welche betriebswirtschaftliche Rechnung, die das Allgemeinwohl jetziger und zukünftiger Generationen miteinbezieht, rechtfertigt eine Laufzeitverlängerung  der Atomkraftwerke? Von welchen Zusatzgewinnen kann angesichts der Altlasten, die die Atomenergienutzung bisher verursacht hat, die Rede sein? Welche Möglichkeiten lassen wir unseren Kindern?

Nichtstun, Weiterwursteln, Durchregieren – oder Verhandeln und modernes, intelligentes Regieren gemeinsam mit den Bürgern beginnen? 

 


 

“Die Probleme der Welt lösen weder Skeptiker noch Zyniker, deren Horizont sich beschränkt auf die offensichtliche Realität. Wir brauchen Menschen, die von Dingen träumen, die noch nie waren. Und die fragen:
Warum nicht?” 
John F. Kennedy

 


Verantwortlich im Sinne der Schöpfung

Die Unterzeichner des Energiepolitischen Appells

Dietrich Austermann, CDU

Werner Bahlsen, BahlsenKekse
Paul Bauwens-Adenauer,
Wulf Bernotat, Ex-Eon
Oliver Bierhoff, DFB-Manager
Manfred Bissinger, Publizist
Herbert Bodner, BDI
Wolfgang Clement – Minister a.D.
Eckhard Cordes, Metro
Gerhard Cromme, ThyssenKrupp
Michael Fuchs, CDU
Ulrich Grillo, BDI
Jürgen Großmann, BDI, RWE
Rüdiger Grube, DB
Christopher W. Grünewald, BDI
Jürgen Hambrecht, BASF-BDI-
Tuomo Hatakka, Vattenfall
Wolfgang Herrmann, TU Mü.
Horst W. Hippler, KIT
Hans-Peter Keitel, BDI-Präs.
Arndt G. Kirchhoff, BDI
Kurt J. Lauk, CDU
Ulrich Lehner, Henkel, BD
Friedhelm Loh, BDI
Carsten Maschmeyer,
Friedrich Merz, Rechtsanwalt
Arend Oetker, BDI
Hartmut Ostrowski, Bertelsmann
Bernd Scheifele, Heid.-Cement
Otto Schily, Rechtsanwalt
Wolff Schmiegel, Uni-Bochum
Ekkehard Schulz, ThyssenKrupp
Johannes Teyssen, Eon
Rainer Thieme, Salzgitter
Jürgen Thumann, BusinessEurope
Michael Vassiliadis, IG BCE
Hans-Peter Villis, EnBW
Gerhard Weber, Mode
Werner Wenning, Bayer
Matthias Wissmann, VDA, BDI

 


Wackersdorfer Eid:
“Ich verspreche meinen Mitbürgern, allen Völkern und den Ungeborenen bei meiner Arbeit in Kunst, Wissenschaft, Forschung, Lehre und allen Gewerben keine Verfahren, Geräte, Methoden oder System zu planen oder zu vewirklichen, die das Leben heute oder in Zukunft gefährden könnten. ….Wenn ich gegen den Sinn und Wortlaut dieses Versprechens verstoße, verliere ich zeitweise oder in schweren Fällen zeitlebens das Recht Kunst, Wissenschaft, Forschung, Lehre oder ein einschlägiges Gewebe auszuüben. Wenn ich dieses Versprechen nicht halte, verliere ich mein Vermögen und alle Einkünfte bis auf den gültigen Satz der Sozialhilfe.”


Abb: © C. Berger

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Geschäftsführer des One World Verlages und Herausgeber des SEIN-Magazins

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