Angst macht mutig. Mut ist individuell und situationsabhängig. Ist einmal die Schwelle der Angst überwunden – auch das eine besondere Eigenheit des Mutes – so verlangt die Wiederholung keinen Mut mehr.

von Dorothée Jansen

Vor einigen Jahren erhielt ich im Kontext eines beruflichen Coachings den Auftrag, mindestens fünf Freunde zu fragen, wie sie mich beschreiben würden. Ziel war es herauszufinden, ob es Qualitäten von mir gibt, die mir selbst bislang verborgen geblieben sind. Ich wollte mich damals selbständig machen und hatte gehörigen Respekt vor diesem Schritt. Natürlich unterschieden sich die Bilder, die meine Freunde von mir zeichneten. In einem Punkt jedoch waren sich alle einig: Ich bin eine mutige Frau. Das freute mich, überraschte mich jedoch, denn ich selbst empfand mich oft als ängstlich und unsicher. Die damalige Erfahrung war mir Anlass, über den Zusammenhang von Angst und Mut nachzudenken.

Ich erkannte: Jeder Mensch hat Angst. Doch nur wenige trauen sich, diese Angst zu spüren. Ganz konkret, ganz physisch. Den erhöhten Herzschlag, das Zittern in der Hand, den unsicheren Stand, die Illusion von Grenzverlust in den Kniekehlen, den trockenen Hals, das Versagen der Stimme, das Flattern in der Haut. Oft werden solche Angstsymptome durch erhöhte Muskelanspannung zum Erliegen gebracht. Das wird früh geübt. Tja, und dann werden diese Symptome nicht mehr wahrgenommen.

Gepanzert durchs Leben gehen

Es gibt eine Vielzahl von Ängsten: Angst vor Veränderung; Angst vor allem Unbekannten; die Angst, für andere ein Fremder zu sein; Angst vor Fehlern, die zur Ausgrenzung führen könnten; die Angst als Ausgegrenzter von existenziellem Untergang bedroht zu sein; Angst vor Krankheiten, die oft eine Ausgrenzung bewirken; Angst vor dem Älterwerden; Angst vor dem Tod – die Liste kann beliebig fortgesetzt werden. Es gibt auch die Angst vor der Angst. Sie ist es, die oft harte Muskelpakete und Anspannungen beschert, damit jene Angst nicht mehr gefühlt werden muss. Dann laufen wir als Gepanzerte durch das Leben und meinen, keine Angst zu haben. Was aber ängstigt so an der Angst?

Ich erlaube mir einen Blick in die Mythologie. Diese alten Geschichten verraten oft Geheimnisse über die inneren Erlebnisweisen von uns Menschen, die heutzutage unter Muskelschichten vergessen worden sind. Ich beginne mit der griechischen Mythologie, denn mit dieser bin ich am ehesten vertraut. Dort gibt es ein Geschwisterpaar. Es sind Phobos und Daimos. Phobos ist der Gott der Angst, Daimos der des Schreckens. Emotionen werden hier also als göttliche Mächte angesehen. Ihr Vater ist Ares, der Gott der Tat und des Kampfes. Seine Söhne sind es, die an seinen Streitkarren die Pferde anhängen und ihm somit ermöglichen loszuziehen. Nur weil Ares also von seiner Angst, aber auch von seinen Schreckenserfahrungen unterstützt wird, kann er aktiv und damit mutig werden. Er braucht Angst und Schrecken, um mutig zu sein. Die Mutter der beiden Gottheiten ist Aphrodite, die wunderschöne, alle betörende Aphrodite, die auf ihrer Muschel tanzend über die Meere gereist kommt. Diesen Aspekt finde ich höchst interessant. Sie werden also von der Göttin der Schönheit geboren. Das Schöne ist ihnen damit von Anfang an zu eigen. So kann man also auch über Angst und Schrecken denken. Dass Angst und Mut irgendwie zusammenhängen, wird immer deutlicher. Doch bleibt bislang unklar, wie es geht, aus dem einen das andere zu entwickeln. Wie also wird man mutig?

Forschungsreise ins Land des Mutes

Ängste gibt es viele. Sie zu überwinden, erfordert Mut. Genauso wie es viele Ängste gibt, gibt es viele Formen des Mutes. Da gibt es den Mut, neues Terrain zu betreten und ausgetretene Pfade zu verlassen. Da ist der Mut, sich zu verabschieden und damit ein Kapitel zu beenden. Manche sprechen von dem Mut zu trauern. Oder dem Mut, anders zu sein. Das ist dann der Mut, eigene Wege zu gehen und somit das Risiko der Ausgrenzung auf sich zu nehmen. Es gibt auch den Mut zum Scheitern. Was für den einen mutig ist, muss es für den anderen nicht sein. Für den ängstlich Stotternden ist es ein Wagnis, laut und deutlich eine Frage zu stellen. Für den, der immer das letzte Wort haben möchte, ist es eine Herausforderung, mal den Mund zu halten. Mut ist individuell und situationsabhängig. Ist einmal die Schwelle der Angst überwunden – auch das eine besondere Eigenheit des Mutes – so verlangt die Wiederholung keinen Mut mehr. Sie kann höchstens dazu dienen, Gewohnheiten dauerhaft zu verändern, sie sich einzuverleiben. Das braucht Zeit, aber keinen Mut mehr. Höchstens den Mut des Dranbleibens und Durchhaltens. Auch das ist für manche eine Herausforderung.

Mut ist die Bereitschaft zu wachsen

Ich schaue in die germanische Mythologie. Dort gibt es Modi, den Gott des Mutes. Zu ihm gehören zwei Attribute. Um die geht es mir an dieser Stelle. Modi liebt die Nessel, jenes Kraut, das die Haut brennen macht, einen sich gleichzeitig aber sprudelnd lebendig fühlen lässt. Hast du dich schon einmal von Brennnesseln streicheln lassen? Nicht schnell, ganz langsam. Ich habe es getan. Alles vibrierte nachher. Die Haut war prickelnd durchblutet. Lust, Lebensfreude und Unternehmungsgeist wurden in mir entfacht. Sind das nicht Synonyme für Mut? Außerdem gehört zu Modi der Adler. Das Tier, das hoch hinaus fliegen kann, das sich die Dinge mit Abstand anschaut, das sich nicht am Boden fesseln lässt. Der Adler ist in der Lage, sich mit seinen Schwingen vom Erdboden zu erheben. Von seinem Horst hat er eine gute Aussicht auf die Welt. Was verrät uns beides über den Mut? Ist er es also, der uns lebendig sein lässt und für den wir vielleicht die meditative Kraft des Nicht-Identifizierens brauchen? Abstand. Blick von außen. Mut ist die Bereitschaft, sich zu verändern, zu wachsen und Risiken auf sich zu nehmen. Das fühlt sich zunächst ungewohnt an. Manchmal kommt die Angst dann tückischerweise erst, nachdem Mensch einen mutigen Schritt gewagt hat. Da heißt es dann: Nicht beirren lassen! Dranbleiben! Was aber genau geschieht in dem Moment, in dem ein Mensch mutig wird? In dem er sich entscheidet, mutig zu sein? Und: Braucht Mut eigentlich eine bewusste Entscheidung? Dann wäre Mut eine spirituelle Kategorie und somit Bewusstseinsarbeit.

Fest steht: Wenn die Angst einen Menschen gänzlich in ihren Klauen hat, ist Bewusstseinsarbeit und somit auch Mut nicht mehr möglich. Dann erstarrt Mensch. Wie kann Angst also zu etwas werden, um das Mensch weiß, das Mensch spürt und mit dem Mensch spielen, mit dem er vielleicht auch verhandeln kann? Erst einmal hilft die Vorstellung, dass Angst überhaupt so etwas sein könnte: ein Spiel- und Verhandlungspartner.

Mut braucht Umzugshelfer

Menschen leben in Räumen. Damit sind zum einen die physisch greifbaren architektonischen Gebilde aus Mauern, Türen, Fenstern und einem Dach gemeint. Zum anderen sind aber damit auch die erfahrbaren Ausdehnungen gemeint, in denen unsere Glaubenssätze, Werte und Visionen zu Hause sind. Jedes Gefühl erschafft einen eigenen Raum – genauso wie jeder Traum, jede soziale Beziehung. Solche Räume sind nicht sichtbar, aber fühlbar. Wir können uns in diesen wohl oder beengt, beflügelt oder eingesperrt fühlen. Manche verströmen einen süßen Duft, in anderen mieft es. Eine Sprache und Bildhaftigkeit für jene Räume zu finden, sie mit allen Sinnen zu erfassen – dazu haben die Menschen die Kunst erfunden. Zwar bringen die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens einige Umzüge hinter sich, doch von diesen Ortswechseln aus dem Elternhaus heraus in die Studenten-WG, dann in die Familienwohnung, die Kommune oder wo auch immer hin soll hier nicht die Rede sein. Es geht mir um diese anderen Umzüge, die wir unternehmen oder aber auch vermeiden können: Die Veränderungen der aus der Ursprungsfamilie übernommenen Wertvorstellungen; das Verlassen der altbewährten Glaubenssätze; die Loslösung von gewohnten Beziehungen, weil sie nicht mehr nähren; das Abstreifen totgelaufener Routinen – es geht mir um die inneren, die unsichtbaren Umzüge.

Koffer packen, umziehen

Immer wieder sind wir Menschen herausgefordert, unsere inneren Wohnorte neu zu betrachten. Geht es mir noch gut mit diesem oder jenem Menschen? Stimmt es, den größten Teil der Lebenszeit mit Geldverdienen zu verbringen? Ist frei fließende, selbstbestimmte Zeit nicht doch ein größerer Wert als die Sicherheit eines Angestelltenverhältnisses? Werte und Einstellungen wollen immer wieder neu erfühlt werden. Mit allen Sinnen. Und manches Mal heißt es dann: Koffer packen, neuen Wohnort suchen, umziehen. Das erfordert Mut. Den Mut, immer wieder hinzuspüren. Den Mut, ehrlich zu sich selbst zu sein. Und schließlich den Mut, die notwendigen Schritte zu tun. Ich erinnere meine eigenen Umzugsmanöver. Das Elternhaus zu verlassen und eine eigene Wohnung zu beziehen, war leicht. 1984 gab es noch bezahlbaren Wohnraum. Schwieriger war es, die inneren Räume zu verlassen. Denn obwohl ich den Wohnort gewechselt hatte, lebte mein Inneres noch lange in den gleichen alten Verliesen. Immer noch das gleiche Wertesystem, immer noch die alten Glaubenssätze, die meisten unbewusst. Diese zu verlassen, verlangte weitaus mehr Mut. Es erforderte aber vor allem, erst einmal zu spüren, wie gefangen ich in diesen war, dass sie ein Gefängnis waren, aus dem es kein Fenster, keine Tür, keine Aussicht gab. Als ich das erkannte, kam die Angst. Wild pulsierende, flackernde Angst. Bei mir saß sie vor allem in der Blase. Aber auch in der Stimme, die rutschte mir immer wieder weg. Ich lernte, die Angst zu spüren, aber mich nicht vor ihr zu fürchten. Ich erfuhr, dass es jenseits aller Angst eine Kraft gibt, die mich hält.

Für mich war es eine allumfassende gütige Göttin. Die Angst jedoch wurde mir zum Motor für neue Umzüge. Innere Umzüge. Umzugshelfer auf meinem Weg waren all jene, die mir davon erzählten, dass es auch andere Werte und damit andere Räume gibt. Menschen brauchen gute Umzugshelfer. Um Angst zu überwinden, um neue Türen zu finden, um alte Räume zu verlassen. Angst wird dann handhabbar, wenn Zustände der Angstfreiheit denkbar werden, wenn es Bilder von anderen Räumen gibt, in denen es heller, weiter, nährender ist. Räume, in denen die Wüste zum Meer wird. Dann ist Mut nur noch eine Angelegenheit des nächsten Schrittes. Der geht dann leicht und beschwingt. Wie ein Tanz.

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*