Die Liebe in Paarbeziehungen ist oft von Muster der Angst geprägt…

von Elke Jari

Was ist Liebe? Liebe kann sich zeigen durch stilles Wohlwollen, Dankbarkeit, Freude über den anderen. Liebe kann sich ausdrücken in Worten, Gesten, Blicken, Taten, zärtlichen Berührungen, Wertschätzung, Geschenken, Zeit-miteinander-Verbringen, Zuhören, Sich-Einfühlen. Sowohl das Lieben als auch das Geliebtwerden fördern in uns positive Eigenschaften und stärken uns. In der Paarbeziehung hat es die Liebe allerdings mitunter schwer, gegen andere Kräfte zu bestehen. Am Anfang, in der ersten Phase einer Beziehung – der Phase des Verliebens – ist oft vieles erstmal gut. Diese erste Phase lebt von positiver Projektion, hilfreichen Hormonen, mitunter gutem Sex. Damit es zur Paarbildung kommt, werden Unterschiede minimiert oder übersehen, das Selbstideal wird bestätigt und gestärkt, und durch all das entwickeln wir mitunter tatsächlich das Beste in uns, öffnen uns, steigen energetisch ein paar Stufen auf.

Unbewusst tragen wir jedoch all die offenen Fragen und Ängste aus den Beziehungen zu unseren frühen Bezugspersonen in die Jetzt- Beziehung mit hinein – meist Verletzungen aus Verlassenwordensein, Beschämung oder Schock. Und wir bringen einen in Kindheitstagen erworbenen Schutzstil mit, der einst eine kreative Notlösungsstrategie war, den wir jedoch beibehalten haben und der heute nicht mehr die passende Antwort auf unsere Be – ziehungs-Situation ist. Je nachdem, welches unsere Geschichte der ersten Lebensjahre war, treibt eine von neun Ängsten unser Leben im Wesentlichen an.

Nach zweieinhalb Minuten oder spätestens zweieinhalb Jahren passiert das nahezu Unvermeidliche: Das Verhalten unseres Partners stößt diese tiefste Angst und die unerlösten Glaubenssätze in uns an:
1. Die Angst, nicht in Ordnung zu sein und verurteilt zu werden
2. Die Angst, ungeliebt, unerwünscht und wertlos zu sein
3. Die Angst, „es nicht zu können“ und ab – gelehnt zu werden
4. Die Angst, defekt und fehlerhaft zu sein und nicht zu genügen
5. Die Angst, bedroht und überwältigt zu werden
6. Die Angst, preisgegeben und verlassen zu werden
7. Die Angst, zu kurz zu kommen
8. Die Angst, schwach zu sein und sich unterordnen zu müssen
9. Die Angst vor Trennung durch Konflikt

Kurz: Ängste im Zusammenhang mit Erwartungen anderer an uns, im Zusammenhang mit Ablehnung und Abhängigkeit. Wenn dies nicht ins Bewusstsein gelangt, flüchten wir vor dem angestoßenen Schmerz direkt in die alten Schutzmechanismen.

Angst und das Spiel der Schutzmuster

Angst ist der Gegenspieler der Liebe. Wenn – durch die Nähe zum Partner ausgelöst – die Angst ins Spiel kommt, beginnt üblicherweise eine Interaktion der Schutzmuster miteinander. Das damit verbundene Verhalten zerstört oder erschwert das Vertrauen und die Nähe, frustriert die Partner, wird Grundlage für viel Streit und kann letztlich sogar zur Trennung führen. Je nach erworbenem Muster kommt es zu fiesen Dramen, zu Varianten von Angriff, Flucht oder Erstarrung, die die Beziehung über kurz oder lang entweder zerrütten oder zu einer tristen Dauerkiste werden lassen, in der die Ängste durch verschiedenste Betäubungsmöglichkeiten unter der Oberfläche oder zumindest möglichst gering gehalten werden. Wenn es den beiden Partnern nicht gelingt, einen gesunden Umgang mit ihrer Angst zu finden und aus ihrer Verschanzung in der Schutzschicht zurückzukehren in einen nahen Austausch in der verletzten und damit auch verletzlichen Schicht, wird die Beziehung daran zerbrechen. Oder wenn die beiden daran festhalten, wird die Beziehung sie erschöpfen und zerbrechen, weil sie einander durch den Dauerstress überfordern und auslaugen.

Damit es zu einer gesunden Beziehung kommt statt zu einem Krieg zwischen zwei verletzten inneren Kindern, sind Bewusstsein und Bewusstwerdung erforderlich. In der Phase der Verliebtheit (Phase 1) idealisieren wir den Partner oft als jemanden, der immer so gut mit uns umgehen wird, dass niemals unsere Ängste angestoßen werden. In der Phase der Enttäuschung (Phase 2) stellt sich der Partner als jemand heraus, der Schmerz in uns auslöst, durch das, was er tut, nicht tut, sagt, nicht sagt, mag, nicht mag etc. In der Phase der Enttäuschung werden Unterschiede auf einmal offenbar – unterschiedliche Arten, in der Welt zu sein, unterschiedliche Vorlieben, Interessen, Ziele und unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie und wofür wir gehen wollen, prallen mehr oder minder hart aufeinander. Die Phase der Enttäuschung und die anschließende Phase der Entwirrung (Phase 3) brauchen starke Nerven. Es ist ja auch wirklich unerfreulich, sich nach der Phase der Ver-liebtheit der Ent-täuschung stellen zu müssen, sie zu verarbeiten, die mühsame Phase der Entwirrung zu durchwandern sowie einen Anpassungsprozess an die Realität zu bewältigen, bis sich das zunächst geschockte Herz wieder öffnen kann.

Der Umgang mit emotionalem Schmerz

Und das findet innerhalb einer Beziehung ja auch nicht bloß einmal statt, sondern immer mal wieder. Damit die beiden weiterkommen und aus dem Verlieben Liebe wird, braucht es ein tiefes Verstehen dessen, was in der zweiten Phase geschieht. Die entscheidende Frage ist: Wie gehen die beiden mit dem in der Phase der Enttäuschung angestoßenen, aus Kindertagen stammenden Schmerz um? Wird er wahrgenommen, gefühlt, benannt, in seiner Herkunft als alt erkannt, angenommen, akzeptiert und integriert? Oder wird er auf musterspezifische Weise kompensiert? Es braucht fundiertes Handwerkszeug – zum Beispiel das Wissen um die Zusammenhänge, die Fähigkeit zur Selbsterforschung – und/oder die Begleitung eines Paartherapeuten. Wenn ich Menschen in dieser Phase begleite, werden mir üblicherweise erstmal die Schilderungen und Klagen des inneren Kindes darüber vorgetragen, was am anderen alles so schrecklich ist, und das innere Kind wünscht sich von mir, dass ich ihm recht gebe.

Es dauert seine Zeit, nach und nach Erhellung in die Lage zu bringen. Einfachste Fragen wie „Woher kennst du das?“ helfen hier weiter. Öffnet man sich dieser Frage, folgt oft die Befreiung der festgehaltenen alten Emotionen. Auch wie das verletzte Kind in seinem Schutzmuster reagiert, darf entdeckt, bemerkt, gefühlt, benannt und am besten „auf frischer Tat ertappt“ werden. Weitere Zeit braucht es, zu lernen, sich dem anderen immer wieder zu öffnen, statt aus der Schutzschicht zu agieren. Erst wenn das gelungen ist, kann der Partner als der gesehen, eventuell akzeptiert und tatsächlich geliebt werden, der er hinter den Übertragungen und Projektionen wirklich ist. Die Verkrampfung des Herzens löst sich und auf der konkret weltlichen Ebene finden sich Lösungen. Entweder zeigen sich gute Kompromisse, bei denen sich durch Erprobung herausstellt, dass beide damit leben können – oder es ist leichter, in Frieden zu gehen. Viele Menschen wünschen sich, von ihrem Partner so angenommen zu werden, wie sie sind – auch mit ihren schwierigen Seiten.

Doch ohne tiefes Wissen um die Schutzmechanismen und ohne die Bereitschaft, selber die Verantwortung für das eigene innere Kind zu übernehmen, kann das mitunter recht bizarre Schutzschicht-Verhalten die Beziehung zu stark belasten. Wenn das verletzte Kind unbemerkt die Führung übernimmt, ist die Beziehung ernsthaft in Gefahr. Das gilt natürlich nicht nur für Paarbeziehungen, sondern für sämtliche Arten von Beziehung.

Das innere Kind halten

Liebe kann also auch darin bestehen, sich auf den Weg zu machen, die eigenen Schattenthemen zu erhellen. Dabei ist eine gute Begleitung oft ein wichtiger Faktor. Denn wenn das innere Kind, sobald sein Trauma und seine Angst angestoßen sind, nicht vom inneren Erwachsenen gehalten werden kann, fällt es haltlos in die Schutzschichtmechanismen. Es agiert aus den alten, in der Kindheit nicht vollständig ausgedrückten Emotionen heraus oder kippt, wenn die Abwehr versagt, haltlos in die Retraumatisierung. Beziehungsfähig werden wir dadurch, dass wir lernen, eine Beziehung zu uns selbst aufzunehmen, statt Zuflucht im Abwehrmuster oder in einer von vielen Süchten zu suchen.

Eine Falle könnte auch sein, sich mit dem Splitter im Auge des Partners zu beschäftigen, um sich abzulenken vom Balken vor dem eigenen Auge. Wenn wir denken, dass unser Partner in seinem Muster kompensiert (also vor seiner Angst und seinem Schmerz wegläuft), statt seinen Schmerz zu fühlen und seiner Angst endlich heilend zu begegnen (was er vermutlich tut, da haben wir wahrscheinlich recht…), kann es sein, dass uns das darum so stört, weil wir selbst in unserem Kompensationsmuster festhängen, statt unseren Schmerz zu fühlen und der Angst endlich heilend zu begegnen. Vielleicht haben wir ein anderes Muster, haben eine andere wesentliche Angst als unser Partner und kompensieren deshalb auf eine ganz andere Weise, aber die Kompensation findet statt und verletzt den anderen höchstwahrscheinlich auch. So ungern wir das hören mögen: Mit Liebe hat dieses Spiel leider wenig zu tun. Es ist durchaus nicht so, dass die Welt eingeteilt ist in Menschen mit Bindungsängsten und Menschen ohne Bindungsängste.

Wir sind alle auf unsere Weise mehr oder weniger traumatisiert. Alle haben wir aus den Erlebnissen der Kindheit Ängste vor Nähe und offene Fragen zum Thema Nähe. Alle werden wir erst beziehungsfähig, indem wir uns unserer Ängste bewusst werden, lernen, uns damit zu halten, lernen, darüber zu sprechen und damit in Kontakt zu sein – also in der verletzten und darum auch verletzlichen Schicht leben und dorthin immer wieder zurückkehren, wenn wir bemerken, dass wir in die Schutzschicht gerutscht sind.

Der Umgang mit der Angst

Eine zentrale Frage ist natürlich: Welche Möglichkeiten habe ich, mit meiner Angst umzugehen, wenn sie angestoßen wurde? Und wie geübt bin ich darin? Welche Beziehung habe ich überhaupt zu meiner Angst? Wie sehr habe ich sie schon erkundet, verstanden? Wie gut kann ich sie halten, als Erwachsener meinem Kind liebevoll zur Seite stehen? Wie gut kann ich mich angesichts meiner Angst dem anderen gegenüber öffnen, statt anzugreifen, zu flüchten oder musterspezifisches Kompensationsverhalten auszuagieren? Wie gut kann ich mich mitteilen mit dem, was auf meiner Straßenseite angestoßen wurde? Aber auch: Wie gut bin ich in der Lage, die Beziehung loszulassen und zu gehen, wenn ich merke, dass ich überfordert bin? Wie gut bin ich in der Lage, Grenzen zu ziehen, mich auf gesunde Weise zu schützen oder abzugrenzen gegenüber dem, was zu viel ist und meine Schmerzgrenze überschreitet?

Das erworbene Schutzmuster war, wie schon erwähnt, einst eine kreative Notlösungsstrategie. Das zu verstehen hilft mitunter, einen einigermaßen liebevollen Blick darauf behalten zu können. Sich auf eine verbindliche Zweierbeziehung mit einem Menschen einzulassen, dessen Umgang mit seinem Schutzmuster schon einigermaßen erlöst ist, fördert – bei ausreichendem eigenem persönlichem Beziehungs- Know-How – enorm das Erleben von Freude und die persönliche Entwicklung. Denn so gut es sicher für eine Beziehung ist, auch gut allein sein zu können – auf Dauer haben wir ohne den entsprechenden Spiegel, den eine Beziehung bietet, weniger gute Chancen zu erkennen, was denn überhaupt unsere lange ein geübten Abwehrstrategien sind, die Nähe verhindern oder zumindest erschweren. Und es ist ebenfalls wichtig zu wissen, dass mit sehr unerlösten Vertretern eines Schutzmusters keine gesunde Beziehung möglich ist. Nur unsere Liebe allein wird den anderen nicht heilen – auch wenn Liebe an sich natürlich heilsam ist. Und aus Selbstliebe heraus kann es durchaus besser sein, keine Beziehung miteinander zu haben – zumindest keine enge Paarbeziehung. Liebe kann dann auch bedeuten, einen gesunden Abstand zu halten, weil wir aus der Erfahrung wissen, dass die Beziehung uns nicht gut tut oder definitiv eine Mission Impossible ist. Sehnsüchtige Ideen des Rettenwollens verbunden mit der Hoffnung „das wird schon noch“ sind nichts weiter als Ausdruck eigener Traumatisierung.

Anpassung an die Realität

Mit dem passenden Werkzeug kann in Phase drei (der Phase der Entwirrung) Erkenntnis, Klarheit und eine gesunde Anpassung an die Realität stattfinden. Jetzt sehen wir den Partner nicht mehr romantisch verklärt, sondern als den, der er ist – ein Mensch mit Macken, Mustern und Möglichkeiten. In Phase vier schließlich genießen wir als Paar die gemeinsame reale Schnittmenge. Auf welcher Ebene es überhaupt eine genussvolle, reale Schnittmenge gibt, gilt es dann herauszufinden. Je größer die reale Schnittmenge ist, umso leichter ist Beziehung im Alltag möglich. Es braucht mitunter eine Menge innere Freiheit und Mut, den Tatsachen ins Auge zu sehen und der Realität zu begegnen, um zu erkennen, wo eine reale Schnittmenge ist und wo nicht, und eine ganz individuelle Beziehung zueinander mit selber gefundenen kreativen Lösungen zu leben. In meiner Arbeit mit Paaren finde ich zu Beginn meist zwei innere Kinder vor, die aneinander mit verschiedenen Strategien ziehen und zerren, im Wechsel mit Rückzug und Trennungsambitionen. Wenn es gut läuft, finde ich am Ende zwei geläuterte, einander entspannt und sanft anlächelnde Erwachsene vor mit freiem, offenem, weitem Herzen, die das vermutlich immer noch gelegentliche Treiben ihrer inneren Kinder dank der gewonnenen Klarheit mit liebevollem Blick und gutem Werkzeug zu betreuen in der Lage sind und sich im Fall von wieder auftretenden Verstrickungen selbst wieder aus der Verwirrung befreien können. Die Schwingung, die dann im Raum schwebt, ist unbeschreiblich: Stille, Frieden, tiefe Freude, Dankbarkeit, … Liebe!

Schnupperabende für das im April beginnende Jahrestraining am 18.3. und 15.4. von 19-22 Uhr im Sprengelhaus,
Sprengelstr. 15, 13353 Berlin. Beitrag 20 Euro.

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