Der Schmerz, dein Freund Schmerz als Verbündeter? Wie das? Soll er nicht einfach nur aufhören? Sind wir nicht bereit, alles Erdenkliche dafür zu tun? Ex-Schwerverbrecher Dieter Gurkasch sagt als heutiger Yogalehrer und Lebensberater, dass wir genau durch diese Haltung Weltmeister der Verdrängung wurden und nicht mehr in der Lage sind, unsere wahren Bedürfnisse zu spüren und die „positiven“ Effekte des Schmerzes zu erkennen. Seine eigene Geschichte sei das beste Beispiel dafür.

von Dieter Gurkasch & Elke Schenkmann

Sollte Schmerz nicht einfach nur aufhören?

Als mich die Kugel in den Rücken traf, war mein erster Gedanke: „Endlich frei. Endlich haben alle Schmerzen ein Ende. Endlich ist es vorbei.“ Doch eigentlich fing damit alles erst so richtig an. Und es war noch ein langer Weg. Dass ausgerechnet der Schmerz, von dessen vermeintlicher Befreiung ich so sehr erleichtert war, schon immer mein treuester Begleiter und eine helfende Hand war, durfte mir erst noch bewusst werden. Heute sehe ich es so: Schmerz meint es tatsächlich zu allererst gut mit uns. Wenn es unter deinem Fuß piekst, ist es hilfreich, wenn du nachschaust und nicht weiter in die Nadel trittst. Wenn dein neuer Partner dir immer wieder „Nadelstiche“ ins Herz versetzt, kann das auch ein wertvolles „Aua- Signal“ sein, das dich darauf hinweist, diese Verbindung vielleicht doch nicht weiter fortzuführen. So hat Schmerz eine warnende Funktion – sowohl körperlich als auch seelisch.

Er ist dein Freund, dein Lehrmeister, der dich zuverlässig darauf aufmerksam macht, wenn du Grenzen überschritten hast, in Bereiche gehst, die dir nicht (mehr) gut tun. Er will deine Aufmerksamkeit. Und zwar vor allem zu deiner Unterstützung.

Schmerz als Korrektiv ging bei mir verloren

Im sozialen Kontext kann er ja sogar ein regulatives Instrument sein: Ein Kind, das seinen Spielkameraden die Kekse wegnimmt, wird alles andere als Wohlwollen von ihnen ernten. Da sich das so unangenehm (schmerzhaft) anfühlt, wird das Kind beim nächsten Mal gut abwägen, ob es das wert ist. Dieses soziale Lernen durch Feedback wirkt in unserem ganzen Leben, wird aber unterdrückt, wenn wir seine Folgen (das Unwohlsein) z.B. durch den Konsum von Drogen (auch den legalen) unterdrücken. Genau diesen Weg habe ich als junger Mensch eingeschlagen. Dazu – und wozu ich dadurch fähig wurde – gleich mehr. Unsere gesellschaftlichen Strukturen sind so aufgebaut, dass wir schon früh lernen, durch das Überwinden von Schmerzen Ziele zu erreichen. Das, was man dann Disziplin nennt. Was grundsätzlich ja keine schlechte Eigenschaft ist: vorübergehend Bedürfnisse einmal hinten anstellen zu können, um fokussiert zu bleiben. Um etwa für eine Prüfung zu lernen, ohne dem Drang, ins Schwimmbad zu gehen, sofort nachgeben zu müssen.

Als Dauereinrichtung ist diese Schmerz- und Bedürfnisunterdrückung allerdings von der Natur nie gedacht gewesen. Dadurch, dass diese Lebensweise aber gesellschaftlich angestrebt ist, werden Kinder ganz oft dazu angehalten und verführt, ihren Schmerz ins Unbewusste abzudrängen, weil sie ja zielstrebig sein sollen. Und zwar immer. So beginnen wir, über körperliche und seelische Grenzen hinwegzugehen. Und bauen ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen dem inneren Empfinden und der Überwindung dieses Empfindens (von außen erwartet) auf. Bei mir war das die Phase als Jugendlicher, als ich den Erwartungen der Gesellschaft im Außen zwar (noch) entsprach, indem ich eine Lehre absolvierte, Führerschein machte etc., um in die Erwachsenenwelt einzutreten, aber immer weniger Bezug dazu finden konnte. Die Sinnhaftigkeit des Ganzen war für mich immer schwerer zu erkennen.

Mein Einstieg in die Drogenkarriere: vom Arzt verordnet

Die Diskrepanz zwischen innen und außen war so unerträglich geworden, dass ich das Unwohlsein meinem Arzt vortrug. Woraufhin dieser mir Tranquilizer vorschlug, was mir auch Erleichterung brachte. Für mich war es der Einstieg in meine Drogenkarriere. Daraus hat sich ein Muster gebildet, innere Schmerzzustände mit der Zufuhr psychoaktiver, bzw. schmerzunterdrückender Substanzen zu verändern. Was als gesellschaftliches Modell ja auch anerkannt ist. Dort wird es dann nur nicht Drogen genannt. Der Absatz von Schmerzmitteln ist in unserer Gesellschaft drastisch gestiegen. In einer aktuellen Statistik las ich, dass 50 % der Befragten in Deutschland angaben, in den letzten drei Monaten rezeptfreie Schmerzmittel genommen zu haben. Das ist die Hälfte unserer Bevölkerung! Und betrifft nur die frei erhältlichen Mittel. Um mehr als ein Drittel sei die Menge der verschriebenen Antidepressiva sowie Schmerzmittel innerhalb von 10 Jahren (von 2010 bis 2020) gestiegen. Und zwar besonders der Verbrauch starker Opioide ist offenbar in die Höhe geschnellt, wie in einem Artikel vom 03.08.2021 auf FAZ-online zu lesen ist.

Was machen Schmerztabletten? Sie drücken den Schmerz weg. Ich will funktionieren, obwohl ich in einer Situation bin, in der mein Körper, meine Seele ganz andere Signale sendet. Doch ich glaube, dass ich funktionieren muss. Das lässt sich 1:1 auf jeden weiteren Drogenmissbrauch übertragen. Vermutlich sogar auf alle Süchte. Letztlich können alle Substanzen – auch Alkohol, Schokolade oder Zigaretten sowie natürlich Psychopharmaka und auch alle illegalen Drogen – diese Funktion haben. (Womit ich nicht sagen will, dass moderne medizinische Hilfsmittel nicht auch ein Segen sein können.) Der Schmerz wird verbannt. Warum? Weil er letztlich die Gesellschaft und ihr zugrunde liegendes Modell „kritisiert“. Er will uns ja wachrütteln. Und das wollen wir nicht. Es soll am besten alles so weitergehen wie bisher.

Verdrängte Energie

Warum guckt ganz Deutschland am Abend Mord und Totschlag im Fernsehen? Weil es unser inneres Energiegefälle ausgleicht. Du versuchst den ganzen Tag über, „brav“ zu sein, mitzumachen, obwohl dir gar nicht danach ist. Die inneren Disharmonien werden dabei immer größer. Und diese unterdrückten Energien müssen irgendwohin fließen, denn wie bei jedem energetischen Druck muss sich die darin enthaltene Kraft irgendwo ausdrücken. Also schauen wir Krimi. Dieses Zurücknehmen hat bei mir schon als junger Mann zu einem immer höheren Aggressionspotenzial mit immer stärker ausufernden Ausbruchsversuchen aus dem gesellschaftlichen System geführt. Wohin mich dieser Prozess schließlich geführt hat, zeigt meine Lebensgeschichte ja deutlich. Was andere im TV als Action-Film anschauen, war mein tatsächliches Leben – bis hin zum Mord. Ich denke, dahinter steht eine menschheitsübergeifende Bewusstseinsstruktur, die Kriege, Gewaltverbrechen und Mangelbewusststein erst möglich macht. Und aus Mangelgefühlen wachsen Ängste, Gier, Betrug, Machtkampf etc.

In meinem Fall wurde ein innerer Schmerz Antrieb für Gewalttaten. Die natürlich schreckliches Leid erzeugt haben. Ich war damals noch nicht in der Lage, nach innen zu blicken, um dort nach Lösungen zu suchen. Es musste daher alles erst noch viel schlimmer kommen, bevor ein Wandel möglich wurde. Parallel griff das eingangs beschriebene „soziale Korrektiv durch unangenehmes Feedback“ bei mir nicht mehr: „Dank“ Drogenkonsum wurde mir immer mehr egal, was andere über mich denken. Gesellschaftlich akzeptiert zu sein, war kein Ziel mehr. Im Gegenteil: Ich wollte ein Gangster sein. Dadurch wurde der Schritt, das gefühlte innere energetische Ungleichgewicht durch äußere „Aktionen“ (scheinbar) wieder herzustellen, immer leichter. Ich ging über Grenzen. Meine eigenen und die von anderen. Ich ließ mich nicht mehr von inneren Stopp-Signalen „warnen“. Was bei einem Schwerverbrecher oder Drogensüchtigen sofort für jeden erkennbar ist und wovon sich auch fast jeder ganz schnell distanzieren möchte, ist nach meinen Beobachtungen in jedem Einzelnen von uns – selbst im noch so braven Bürger – angelegt: Der Impuls, aus dem inneren Gefängnis auszubrechen..

Wir alle stoßen in einer Welt, die nicht darauf angelegt ist, dass wir uns spüren, auf unsere Impulse achten und der inneren Freude folgen, an Grenzen. Und müssen mit den Widersprüchen irgendwie umgehen. Jeder auf seine Weise…

Vom Gangster zum Yogi

Im Prozess echter Umkehr führt jedoch kein Weg daran vorbei, abgespaltene und gerade auch „schmerzende“, weil vielleicht „böse“ und „wütende“ Anteile von sich selbst wieder anzuschauen und anzunehmen. Auch wenn das erst einmal herausfordernd und zunächst unangenehm sein kann. Es war mir schließlich nicht mehr möglich, mir selbst zu entkommen. Ich hatte dann ja auch Zeit… Insgesamt 25 Jahre, die ich im Gefängnis verbrachte. Davon mehr als 7 Jahre in Isolation. Viel Gelegenheit zum Grübeln. Die Berührung mit Yoga und Spiritualität hat bei mir schließlich die Wende gebracht. Ein tiefgreifender Wandel, der mehr als drei Jahre dauerte, setzte ein. Voller Reinigung, Meditationspraxis, körperlicher und psychischer Entgiftung, viel Vergebungs- und Läuterungs-Arbeit. Ich meditierte und machte Atemübungen – viele Stunden täglich. Ich las unzählige spirituelle Texte, ernährte mich von Rohkost, zog sogar meine eigenen Sprossen in der Zelle und trank über 10 Jahre lang nicht mal mehr Kaffee.

Was schließlich in einer Kundalini-Auslösung mündete, in der ich eine tiefgreifende spirituelle Erfahrung machen durfte. Kaum einer kann glauben, dass so ein Wandel möglich ist, doch ich denke, es ist umgekehrt: Es braucht letztlich mehr Kraft, „böse“ und ein ganz anderer sein zu wollen, als man ist. Natürlich war diese Zeit der Läuterung auch heftig: mich meinen Taten, ihren Folgen und meinen inneren Dämonen – meiner schweren, ja unverzeihlichen Schuld – zu stellen. Doch nachdem selbst ich, ein Mörder, ein Schwerverbrecher, ein Verstoßener der Gesellschaft, tatsächlich so etwas wie göttliche Gnade erfahren durfte, weiß ich, dass es für jeden Einzelnen möglich ist.

Was ich in dieser Zeit unter anderem gelernt habe:
1. mich von Erwartungen zu lösen
2. Vergebung als Werkzeug der Befreiung zu nutzen
3. immer mehr im Moment zu leben
4. an eine Sinnhaftigkeit des Lebensweges zu glauben
5. mich auf positive Empfindungen zu konzentrieren
6. tiefe Dankbarkeit dem Leben gegenüber zu fühlen.

Gemeinsam in die Neue Zeit

So bin ich heute beseelt von dem Wunsch, dazu beizutragen, dass wir als Menschen tatsächlich in eine „Neue Zeit“ hineingehen können. Ich möchte all diejenigen zusammenbringen, die auch fühlen, dass das Leben größer und bedeutsamer ist als die ewige Schmerz-Vermeidung. Wenn sich wirklich etwas ändern soll, müssen WIR anders miteinander umgehen. Zu allererst mit uns selbst. Wir dürfen lernen, wieder auf die Signale unseres Körpers, die Stimme unseres Herzens und unserer Gefühle zu hören. Und unseren Lebensalltag so verändern, dass er uns entspricht. Unsere Beziehungen liebevoller, mitfühlender gestalten, so dass wir als Menschen lernen, sehr viel offener, unmittelbarer und ehrlicher miteinander zu sein. Gemeinsam mit meiner Partnerin Elke Schenkmann bin ich auf der Suche nach Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, eine umfassendere Erfüllung zu leben. Statt wie früher „gegen“ die Gesellschaft zu sein, fühle ich heute die Verantwortung und den Wunsch, Mit- Gestalter einer ganz neuen Art der Gemeinschaft unter Menschen zu sein. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir alle – und gerade mit unserer vereinten Schöpferkraft – die Möglichkeit haben, eine ganz neue Welt zu erschaffen. Eine Welt des liebevollen Miteinanders, der gegenseitigen Unterstützung, der Freude und Begeisterung. Wir sind nicht zum Arbeiten und Funktionieren geboren! Sondern um Ekstase, Inspiration und Leidenschaft zu leben und auszudrücken. Wir sind göttliche Wesen voller Strahlkraft. Du fühlst das auch? Dann lass uns Verbündete sein! Da ich selbst mir den Weg lang und hart gemacht habe, kann ich nun den Menschen, die ihn auch gehen wollen, zur Seite stehen: Auf der Wanderung zum Glück.

Über den Autor

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Nach krimineller Karriere und langem Gefängnisaufenthalt arbeitet Dieter Gurkasch heute als Yogaund Meditationslehrer und bringt diese Themen als Therapieangebote über einen gemeinnützigen Verein (YuMiG e.V.) auch in deutsche Haftanstalten. Ein weiterer Fokus seiner Arbeit liegt auf “Love goes Life” – einer Online-Community für die neue Zeit und Menschen, die den Weg zu ihrem wahren Selbst nicht mehr alleine gehen wollen.

Mehr Infos

Buch:
„Leben Reloaded: Wie ich durch Yoga
im Knast die Freiheit entdeckte“ von Dieter Gurkasch. Direkt beim Autor bestellen: kontakt@dietergurkasch.de

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