Ein Interview mit der spirituellen Lehrerin Mariananda über Schmerz und dem Zustand der Welt…

Das Interview führte Gabriele Seils

Was haben eigentlich unser Umgang mit Schmerz und der Zustand der Welt miteinander zu tun? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der individuellen und der politischen Ebene?

Schmerz heißt, aus dem Gleichgewicht gefallen sein. Das gilt für das individuelle Erleiden von Krankheit ebenso wie für einen äußeren Krieg. Und jede Form von Ungleichgewicht in der Welt – zwischen Staaten, in Ökosystemen, im menschlichen Miteinander und innerhalb des individuellen Körpers – löst als Möglichkeit Krankheit aus. Und ich halte auch Krieg für krank. Vertreter zweier politischer Systeme wie Putin und Biden haben sich nicht hingesetzt und miteinander geredet. Sie haben sich nicht hingesetzt und gesagt: „Sag mal, wollen wir wirklich weiter Krieg führen oder wollen wir neue Lebenskonzepte jenseits von Kommunismus und Kapitalismus finden?“ Wenn sie angefangen hätten, darüber Gespräche zu führen, gäbe es eine Chance auf eine Wiederherstellung des Gleichgewichtes. Stattdessen wollen sie vom jeweils anderen System nichts wissen. Das heißt, sie vermeiden es, die inneren Ursachen eines Schmerzes wahrzunehmen, der beiden Systemen zugrunde liegt. Doch diese Art von Verdrängung funktioniert nicht, denn am Ende steht – wie man jetzt sehen kann – der Krieg und damit wieder Schmerz.

Was kann ich – als Individuum – tun?

Dich ins Gleichgewicht bringen. Erkennen, wo du nicht im Gleichgewicht bist. Die Stellen, die nicht im Gleichgewicht sind, tun weh. Es geht darum, dass ich zulasse, dass sie weh tun, und sie nicht betäube – mit welcher Ausrede auch immer –, sondern wirklich zulassen, dass mir etwas wehtut! Dass es schmerzt! Wenn du beispielsweise einmal im Urwald warst, dann vergisst du das dein ganzes Leben lang nicht. Es ist überwältigend. Und wenn du dann auch nur ein Foto davon siehst, wie der Urwald abgeholzt wird, dann tut das weh! Dann brauchst du nicht mehr irgendwelche großen Theorien im Kopf. Sondern dann weißt du: Das schmerzt! Und wenn es echt ist, entsteht daraus eine Konsequenz. Vielleicht setzt du dich für den Erhalt des Urwalds ein. Mein Beitrag, damit die Welt wieder in Ordnung kommt, ist es, den Menschen zu erklären, was Bewusstsein ist und wie es funktioniert. Dabei in die Tiefen des Seins vorzudringen, das ist eine Qualität, die ich habe. Und ich kann es allgemeinverständlich erklären. Wer auch immer mir begegnet, ich versuche ihm klarzumachen: Du kannst da hingucken und merken, was alles weh tut. Und wenn es auch bei schlimmen Dingen nicht wehtut, dann kannst du gucken, warum es es dir eigentlich nicht wehtut. Und das Verrückte ist: Die alleinige Tatsache des Hinguckens, des wirklichen Hinguckens, bewirkt eine Veränderung! Schmerz ist eigentlich etwas Wunderbares, weil er dir sagt: Du bist nicht im Gleichgewicht! Dir tut etwas weh und jetzt wollen wir mal gucken, warum. Beispiel Rauchen: Hingucken hieße hier, sich zu fragen: Warum tue ich das, was steckt dahinter, welche unbemerkten Themen, welche ungelösten Konflikte und unbewussten Traumata?

Und dann zu schauen, wie ich diese persönlichen Blockaden auflösen kann?

Du musst nichts auflösen! Das ist schon ein Fehler. Es geht nur um Bewusstwerdung. Daraus entsteht Bewegung. Noch mal zurück zum Thema Rauchen: Du stellst dir Fragen oder lässt dir von jemandem Fragen stellen und wehrst sie nicht ab. Du lässt dich in Frage stellen und wirst dir über das Thema Rauchen bewusst. Allein die Tatsache, dass ich mir einer Sache bewusst werde, verändert etwas. Es braucht nichts weiter! Ich brauche nichts zu ändern. Mir wird gerade bewusst, wie sehr wir darauf fixiert sind – auch gerade im therapeutischen und spirituellen Kontext – dass etwas bearbeitet und aufgelöst werden muss. Ja, das soll es auch durchaus. Nur siehst du deine angestrengte Körperhaltung dabei? Ich vertraue lieber absolut, dass Bewusstsein das Gleichgewicht IST. Und ich nur erkennen muss, wo ich mich der Bewusstheit verweigere.

Siehst du deine Aufgabe darin, Menschen dabei zu unterstützen, bewusster zu werden und dann zu sehen, was daraus an konkreten Handlungen entsteht?

Ja. Oder auch an Nichthandlung. Der überwiegende Teil des Prozesses ist zu erkennen, was sie endlich mal lassen können. Und aus dem, was sie lassen, entsteht Handlung von alleine. Darüber brauchen sie nicht nachzudenken.

Also sinnvollere Handlung?

Woher weißt du, was sinnvoll ist? Das wird sich dann erst ergeben. Wie gesagt: Ich habe keine Ahnung, was zu Stande käme, wenn Herr Biden und Herr Putin sich zusammensetzen und wirklich reden würden.

Ich merke, wie sehr mich das, was du sagst, berührt und ruhig werden lässt. Dass die Er-Lösung ist, Schmerz zuzulassen, hinzugucken und Realität anzunehmen. Der Satz: “Bewusstsein IST Gleichgewicht” ermutigt mich, angesichts des Zustandes der Welt nicht zu verzweifeln und das Leben immer bewusster zu leben.

Dieses ganze Leben ist ein Mysterium, es ist grenzenlos und hat unendlich viele Möglichkeiten. Ich stehe einfach staunend davor. Ich finde es umwerfend, dass die Bäume jetzt gerade ihre Blätter abwerfen und ich mittlerweile weiß, dass in fünf Monaten da wieder so kleine grüne Knospen kommen und ich sagen werde: Guck mal, es wird Frühling. Ich kann dieses Gefühl oder dieses Staunen darüber – das ist ja eigentlich kein Gefühl – nicht künstlich erzeugen, indem ich sage: „Ich weiß.“ Es entsteht nur durch Erleben. Und die Realität annehmen. Ich nehme Leben in all seinen Erscheinungsformen und ebenso den Tod vollkommen an. Warum das so ist, weiß ich nicht. Doch es ist mir netterweise mittlerweile möglich, dass ich wirklich komplett Ja zu allem sage. Natürlich freue ich mich immer, wenn jemand etwas kapiert hat, wenn er Unbewusstes bei sich erkennt und die Ursachen erforscht. Ich erwarte es aber nicht.

Ich bin weder ein optimistischer noch ein pessimistischer Mensch, ich bin ein Realist. Ich kann die Realität genau so sehen, wie sie ist, und ich zerbreche nicht daran. Ganz im Gegenteil. Weil dieses gewaltige Gesamtsystem mich immer wieder staunen lässt. Es ergreift mich mit tiefster Demut und mit großem Staunen – und das Staunen ist viel größer als jeder Schmerz. Je realistischer ich das Ganze sehen kann, desto besser geht’s mir. Das ist meine Erfahrung. Auch bei Langzeitschülern sehe ich, dass sie langsam, aber sicher auch zum großen Staunen kommen. Staunen über das Elend genauso wie über das Großartige. Das Staunen befreit mich von allen anderen möglichen Gefühlen. Staunen, wie schrecklich es sein kann, und staunen, wie unendlich wundervoll. Staunen – das bleibt übrig.

Mariananda

Mariananda arbeitete Jahrzehnte als Malerin und Bildhauerin, als Jungianische Psychoanalytikerin, als Enneagrammforscherin und -lehrerin und als Buchautorin. Sie lehrt die Meditation der Achtsamkeit im Alltag, gibt Satsangs und führt seit Jahrzehnten Workshops und Stille-Retreats mit Gruppen durch Mehr Infos und Kontakt: www.mariananda.de

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