Scham ist für mich eines der Gefühle, mit denen ich am schwierigsten umgehen kann. Ich denke, vor allem dadurch, weil Sich-für-etwas- Schämen bedeutet, dass ich damit Ja sage zu meiner Unvollkommenheit, dazu, dass ich Fehler mache oder/und in meinen Augen auch fehlerhaft bin. Besonders für Menschen, die von sich glauben, dass sie nicht in Ordnung sind, wie sie sind, stellt dieses Annehmen einer Fehlhandlung oder von etwas Ähnlichem eine große Herausforderung dar.

Wer wenig kritikfähig ist und alles abwehrt, was das eigene Falschsein demaskiert und ihn damit zwingt, ehrlich hinzuschauen, wird Scham mit aller Macht abwehren. Letztlich beruht all diese Abwehr und auch der Glaube, nicht in Ordnung und nicht liebenswert zu sein, auf dem – nicht immer bewussten – Glauben, nicht fähig zu sein, zu lieben. Oder auch nicht wirklich bereit zu sein, Liebe zu geben. Denn wenn wir in der Liebe sind, hören alle negativen Glaubenssätze bezüglich unserer Person oder anderer Menschen auf. Die Liebe wehrt sich nicht, genau hinzuschauen, eigenes Fehlverhalten zu fühlen und gegebenenfalls zu sagen: Du hast recht, tut mir leid. Ohne die Liebe rutschen wir gerne in die Abwehr der Scham: die Peinlichkeit. Wenn wir sagen „Das ist aber peinlich“, dann heißt das letztlich, dass wir etwas nicht wollen und uns davon distanzieren. Woher kommt dieses ganze Scham-Konstrukt?

Die Trennung von der göttlichen, bedingungslosen Liebe ist die Grundlage der Scham und des Sich-falsch-Fühlens (symbolisiert durch Adam und Eva im Paradies, die nach dem Essen des Apfels vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse nicht mehr unschuldig wie Kinder waren und darum auf einmal Feigenblätter brauchten, um ihre Nacktheit – ihre Scham – zu verbergen). Da wir uns letztlich fast alle von Gott getrennt fühlen, tragen wir mehr oder weniger bewusst diese Scham in uns. Denn wenn wir uns von Gott, von der tiefen inneren Kraft des Lebens, getrennt fühlen, fehlt uns ein wesentlicher Teil des Gefühlsspektrums: die Liebe. Ja, wir schämen uns unbewusst, weil die Liebe und das volle Gefühlsspektrum fehlt.

Daraus entsteht das Gefühl, falsch zu sein, oder besser: unvollständig. Dieses innere Gefühl wird nach außen projiziert und darum suchen wir dann auch dort. Der verdrehte Verstand findet vielleicht als Grund für die Unvollständigkeit bzw. Falschheit mangelnde Schönheit, zu wenig Geld, einen wenig angesehenen Beruf, keine Bildung usw…

Wir versuchen dann, dieses „Loch“ auf die entsprechende Weise zu füllen: Wir legen uns im Extremfall für Schönheits-OPs unters Messer, arbeiten bis zum Umfallen in Jobs, die uns nicht wirklich erfüllen und nur viel Kohle ranschaffen, lernen Dinge, die uns nicht wirklich interessieren usw. Doch das klappt nie wirklich, denn die Gründe sind ja andere. Unbewusst wissen wir, was der wirkliche Grund für unser inneres Gefühl von Unvollkommenheit ist und was uns wirklich fehlt: die Liebe. Das zeigt sich schon daran, dass wir alles für diese Liebe tun. Der Fehlschluss ist, dass wir glauben, sie von anderen Menschen zu bekommen.

Doch wir können sie nur in uns selbst entdecken, indem wir uns ganz tief in uns fallen lassen, dorthin, wo die Liebe, der Urgrund des Lebens, nur darauf wartet, uns auffangen zu können. In mir – und in jedem Menschen – gibt es ein instinktives Gefühl, dass nur die Liebe „richtig“ ist und alles andere irgendwie „falsch“ – auch wenn das oft tief unter verdrängtem Schmerz und Angst verborgen ist. Ohne die Liebe bin ich nichts, bin völlig unlebendig. Das, was ich anderen an der Oberfläche präsentiere, ist nur eine angstgesteuerte Fassade, damit ich mich nicht völlig abgetrennt und ausgeschlossen fühlen muss.

Nur: Wenn ich genau hinschaue, fühle ich mich durch dieses Täuschungsmanöver anderen gegenüber wie ein Betrüger. Und auch dafür schäme ich mich. Letztlich bin ich total ärmlich, ja, wertlos ohne diese Liebe. Ich habe nichts zu geben. Bin nur im Brauchen-Modus, total bedürftig. Dadurch bin ich ein Bettler. Und ich schäme mich, ein Bettler zu sein, der nichts zu geben hat und nur haben will. Ich kann auf der anderen Seite aber auch erkennen: Sich wertvoll zu fühlen, entsteht in mir nur aus der Fähigkeit, (Liebe) geben zu können – und aus nichts anderem.

Das Gefühl, nicht in Ordnung zu sein und mich wertlos zu fühlen, beruht letztlich einfach darauf, dass ich nicht lieben kann. Wenn ich liebe, verabschiedet sich auch jedes Gefühl von Scham. Wenn ich nicht liebe, fühle ich mich auch darum als Betrüger, weil ich dann automatisch im Kopf und damit im Urteilen und Bewerten – meines Gegenübers (und meiner selbst) – bin. Wenn ich nicht bedingungslos lieben kann, finde ich immer irgendetwas an anderen, was anscheinend nicht liebenswert ist – und produziere das Gefühl von Trennung ständig neu. Ich bin zudem auch nicht wirklich vollkommen offen für mein Gegenüber, sondern mit einem Teil immer mit mir selbst beschäftigt, mich richtiggehend schützend vor möglicher Kritik oder Angriffen, die meine „Tarnung“ auffliegen lassen könnten.

Da in der Unfähigkeit, wirklich zu geben, Bedürftigkeit liegt, will ich im Grunde bei jedem Akt oberflächlichen Gebens immer etwas zurück (sonst würde ich gar nichts geben) – und wenn es nur Dankbarkeit ist. Auch das gibt mir ein Gefühl von Falschheit und tiefer Wertlosigkeit. Da in jedem Geben immer ein Haben-Wollen versteckt ist, stelle ich mich im Grunde immer in den Mittelpunkt.

Wenn ich beispielsweise etwas schenke, dann möchte ich, dass der Beschenkte sich freut – ich erwarte Freude. Tut er das nicht, bin ich enttäuscht. Das heißt: Das Geschenk ist nicht frei, sondern ist mit meinen Erwartungen behaftet. Ich sehe das und kann es doch nicht ändern. Aber ich schäme mich für diese ständige Unehrlichkeit. Letztlich bin ich ein kleines Kind, das vor den anderen vorgibt, ein Erwachsener zu sein, der etwas zu geben hat (denn das bedeutet für mich echtes Erwachsensein). Wieder eine Lüge – und auch dafür schäme ich mich. Und ich habe immer in der Angst gelebt, dass man diese Unvollkommenheit entdecken könnte.

Damit das nicht geschieht, habe ich mich verdreht und verspannt und jede Menge Anstrengung auf mich genommen. Ohne die Liebe kann ich auch kein echter Freund sein, weil ich nicht bereit bin, für die Freundschaft alles zu geben. An einem Punkt bin ich mir wichtiger als die Bedürfnisse des anderen (es geht darum, dass weder der anderen noch ich eine höhere Wichtigkeit haben, sondern die Energie des Momentes entscheidet, was zu tun ist). Darum halte ich einen Teil von mir zurück. Und wieder fühle ich mich als Betrüger. Letztlich gilt mein Dank allen Menschen, die mir gespiegelt haben, dass ich nicht liebenswert bin, auch wenn das sehr unangenehm war. Denn dadurch musste ich mich mit diesem Thema ständig auseinandersetzen. Und darin und im immer wieder ehrlichen Hinschauen liegt die Chance, dass es sich irgendwann ändert.

 

Jörg Engelsing

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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