Wir alle sind auf der Suche nach der bedingungslosen, der tiefsten Form der Liebe – viele von uns, ohne es überhaupt zu wissen. Ich habe mich zum Beispiel irgendwann einmal gefragt, warum es eigentlich im Verhältnis zur Menge aller existierenden Lieder so wenige gibt, in denen die Sehnsucht nach der Liebe Gottes (oder wie immer man das nennen will) thematisiert wird. In den meisten Liedern ist doch das Thema eine Frau oder ein Mann, die wir an unserer Seite haben wollen oder die uns verlassen haben. Bis mir auffiel, dass das ja alles nur Projektionsflächen für unsere tiefste Liebessehnsucht nach unserem verlorenen Ursprung sind. Man kann jedes Lied, in dem von Liebe die Rede ist, von dieser Projektionsfläche lösen und sich einfach vorstellen, dass die Sehnsucht des Sängers (oder seine Wut über das Verlassensein u. ä..) sich auf das Göttliche richtet. Klappt immer.

Von diesem Zeitpunkt an konnte ich mir die tränendurchtränktesten Texte und flachsten Schnulzen anhören, ohne über sie zu urteilen, weil ich einfach gemerkt habe, dass sich die oft schmerzlichen Wünsche des Interpreten unbewusst letztendlich doch immer auf die Essenz fokussieren. Doch was ist eigentlich Liebe? Ich erinnere mich, wie ich einmal in einer Bank saß und auf den Berater wartete. Gelangweilt schaute ich auf den gekachelten Boden. Auf einmal öffnete sich ein anderer Raum und die Kacheln strahlten einfach nur Liebe ab. Ich merkte: Alles ist diese Liebe, es gibt keine Ausnahmen. Aber warum nehmen wir das normalerweise nicht wahr? Weil wir die Liebe nur im Kontakt zum aktuellen Moment fühlen können – und genau diesen Moment wollen wir nicht fühlen, weil in ihm auch all unser verdrängter Schmerz, unsere Verzweiflung und Angst enthalten sind.

Mit anderen Worten: Das, was wir da fühlen, das Leben, ist nicht gut und es ist besser, da schnell wieder auszusteigen. Doch nach meiner Erfahrung kommen wir um genau das Jahr zum Fühlen nicht herum. Ich nenne ihn Hingabe. Hingabe vor allem an das Fühlen des Körpers, auch wenn es sich noch so elend anfühlt. Und ich es nur Sekundenbruchteile schaffe oder diese Übung sogar wochenlang wieder vergesse. Hier beginnt die Liebe – im Ja zum Fühlen meines Körpers.

Jörg Engelsing

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Innenweltreisender, Redakteur der SEIN.

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