Ein Plädoyer für die Körpertherapie von Wolfgang Rühle

Was immer wir als Menschen sonst noch sind oder sein mögen – auf jeden Fall sind wir verkörperte Wesen. Und das, was wir als Selbst-Bewußtsein empfinden, ist nicht von unserem Körper zu trennen. Das Selbst-Bewußtsein, die Erfahrung “Ich bin ich” bildet sich über den Kontakt mit der Welt.

Schon im Mutterleib, in weitaus stärkerem Maße aber vom Augenblick der Geburt an, speichert der Körper in komplexer Vernetzung mit dem Gehirn die unterschiedlichsten Erfahrungen, die sich in positiver oder negativer Weise auf das Selbst-Bewußtsein auswirken. Begreift man den Menschen als Wesen, das sich im Leben entwickeln und  entfalten will, kann man in entwicklungsfördernde und entwicklungshemmende Erfahrungen unterteilen. Man kann die ganze Sache unter dem übergreifenden Gesichtspunkt der Beweglichkeit betrachten. All das, was Beweglichkeit erweitert, ist förderlich für die persönliche Entwicklung, was Beweglichkeit einschränkt, wirkt dagegen in der Regel hemmend auf die Entwicklung.

Das Bild der eingeschränkten Beweglichkeit bezieht sich auf alle Ebenen. Wenn ich Gelenkschmerzen habe ist meine körperliche Beweglichkeit eingeschränkt. Habe ich eine Depression, ist die Beweglichkeit auf der Gefühlsebene eingeschränkt – ich kann mich dann nicht mehr richtig selbst empfinden. Und wenn ich mich beispielsweise zwanghaft an irgendwelchen ideologischen Vorstellungen festklammere, dann ist meine geistige    Beweglichkeit, d.h. meine Flexibilität und Lernfähigkeit eingeschränkt. Geistige Einstellungen können ebenso unnachgiebig und verkrampft sein wie Muskeln. In gewissem Sinne ist diese Trennung in körperliche, gefühlsmäßige und geistige Bereiche künstlich, denn der körperliche Gelenkschmerz hat ebenso mit Gefühlsreaktionen zu tun wie die geistige Unnachgiebigkeit.

Sind die Erfahrungen vorwiegend negativ, entwickelt sich wahrscheinlich erst einmal ein eingeschränktes Selbst-Bewußtsein und damit eine eingeschränkte Lebendigkeit. Übrigens setzt sich auch in der wissenschaftlichen Forschung  mehr und mehr  durch, daß es keine rein geistigen Erfahrungen gibt, sondern sie sind immer an emotionale Erfahrungen gekoppelt, die eine Art Bindeglied zwischen dem Geist und dem Körper darstellen.
Diese emotionalen Erfahrungen und Prägungen sind – und das ist für den Ansatz der Körpertherapie eben das Entscheidende – nicht nur irgendwo im Gehirn gespeichert sondern im wörtlichen Sinn verkörpert. Der Teil der Erfahrungen, der traumatisch, negativ und entwicklungshemmend ist und den der Betreffende aus seinem Bewußtsein verbannt hat, um den damit zusammenhängenden Schmerz nicht mehr zu spüren, findet sich im Körper als emotionale und energetische Blockade wieder: in der Muskulatur, in den Gelenken, im Bindegewebe, in den inneren Organen, in der Haut.
Mein Körper ist das Resultat all der “einverleibten” Erfahrungen und Emotionen, die mir widerfahren sind. Wenn man dieser Argumentation folgt, wird es unsinnig, von psychosomatischen Erkrankungen zu sprechen. Krankheit ist prinzipiell ein Prozeß der sich auf der Ebene der komplexen Vernetzung von Psyche und Soma (Körper) abspielt.

Milton Trager, einer der Pioniere der Körperarbeit, schildert seine körpertherapeutische Intention folgendermaßen: 

Der Hauptfokus der Körpertherapie richtet sich auf den freien Fluß der Energie. Körperarbeit heißt deshalb in erster Linie gezielte Arbeit an strukturellen und energetisch- emotionalen Blockaden. Fluß ist hier nicht nur Metapher. Unser Körper besteht aus pulsierenden Strömen von Flüssigkeiten und von Elektrizität. Je mehr ich als Therapeut in der Lage bin, den Selbstheilungskräften Impulse zu geben, also den Fluß auf allen Ebenen anzuregen, desto mehr Möglichkeiten der Entfaltung schaffe ich für meinen Klienten. Nicht nur Schmerzfreiheit oder die Befreiung von einem depressiven Zustand ist das Ziel. Es geht um die Entfaltung eines positiv und stabil geprägten Selbst-Bewußtseins, was nichts anderes bedeutet als ein Mehr an Beweglichkeit, Flexibilität, Kreativität, Liebesfähigkeit und Lebensfreude.

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