Beim Erlernen des Spielens auf der japanischen Zenflöte geht es um mehr als nur um die Meisterung eines Instruments. Die hingebungsvolle Beschäftigung mit der Flöte ist ein Weg zu sich selbst: Der Spieler kann verschwinden und zum Spielen werden, die Welle geht auf in der ‚Stille des Meeres’… – spielend meditieren.

 

Vor nun schon fast 30 Jahren hörte ich zum ersten Mal den tiefen, zauberhaften Klang der Kyotaku, einer langen japanischen Zenflöte. Drei Monate später saß ich im traditionell gebauten japanischen Haus des Flötenmeisters Koku Nishimura in Kumamoto/Japan und bat ihn, sein Schüler werden zu dürfen. Ich ahnte damals nicht, dass dies der erste Schritt einer  lebenslangen Reise war, die in einem alten Text so beschrieben wird:

Kein Streben.        
Unendliches Gehen.
Kein Anhalten.                      
Kein Ziel.
Werde wie die Stille des Meeres!

Die japanischen Zenflöten gehören zu den ältesten Instrumenten der Menschheit. Wie auch der Buddhismus gelangte die Zenflöte etwa im 9. Jh. n. Chr.  über  China nach Japan, wo sie von buddhistischen Wander- und Bettelmönchen gespielt wurde, den sogenannten Komuso. Der Legende nach war es Zenmeister Fuke, ein Zeitgenosse Rinzais, auf den sich die Komuso-Bewegung gründet. Fuke benutzte auf seinen Bettelgängen lediglich eine Glocke. Einer seiner Schüler ahmte den Klang der Glocke mittels einer Bambusflöte nach – der Name der Flöte war geboren. Kyotaku bedeutet: der „imitierte“ oder “vorgetäuschte“ Klang einer Glocke. Diese Geschichte illustriert ein wichtiges Prinzip im fernöstlichen Verständnis der Meister-Schüler-Beziehung: Der Schüler beginnt seinen Weg mit dem Versuch, den Meister so gut und getreu wie möglich zu imitieren, und findet auf diese Weise schließlich seinen eigenen Ton und Weg.

 

Erinnerung an das Wesentliche

„Das Wesen aller Dinge ist Leere. Form und Leere sind nicht von einander zu trennen.“ Die kontemplative Beschäftigung mit der Flöte sollte den Mönch auf seiner einsamen Wanderung stets an diese Grundaussage des Buddhismus erinnern. Das geschieht symbolhaft durch die Form der Flöte, die ja einen leeren Raum umschließt: Aus dem Nichts, dem Hohlraum der Flöte entsteht auf wunderbare Weise der Ton. Und aus dem einen Ton die vielen…

Die Zenflöte wird hier auch zum Sinnbild für das Menschsein selbst: So wie der Atem durch den hohlen Bambus streicht und die Vielfalt der Töne erzeugt, so sind wir alle vielfältiger Ausdruck und Materialisation der existenziellen Energie, die uns Leben gibt.

Auch das Spielen der traditionellen Lieder sollte den Mönch in seiner Konzentration auf das Wesentliche unterstützen. Es existiert ein Kanon von 36 überlieferten Zenliedern. Sie wurden  Jahrhunderte lang ohne Niederschrift weitergegeben und atmen die Lebens- und Meditationserfahrung von Generationen von Wandermönchen. Das ist auch heute noch hör- und spürbar, wenn man diese Lieder spielt oder hört. Die Zenlieder tragen Namen wie: „Kyo Choshi“ (leeres Lied), „Reibo“ (Sehnsucht nach Glocken“ , „Rei“ (Glocke) oder „Kyo Rei“ (leere Glocken). Als Teil des Titels wird sehr oft das Schriftzeichen  für „Kyo“ (leer) oder „Rei“ (Glocke) oder beides verwandt, wodurch auch hier an das Wesen der Dinge und an Fuke und seine Lehre erinnert wird.

 

Spielend meditieren: Atem-Meditation

Das Wichtigste beim Spielen der Kyotaku ist der Atem. Eine der ältesten Meditationsanweisungen des Buddha lautet: kurz ein, lang aus. Und das ist ja genau das, was beim Flöten geschieht. Der Atem steht also im Zentrum als Bezugspunkt für die Meditation. Die Töne dienen vor allem dazu, den Atem hörbar und für den Spieler dadurch spürbarer werden zu lassen und damit noch stärker als beispielsweise in der Vipassana-Meditation in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken.

Einatmen, Ausatmen – und sonst nichts. Der Spieler kann verschwinden und zum Spielen werden, die Welle geht auf in der „Stille des Meeres“. Obwohl das „Musikmachen“ gar nicht im Vordergrund steht, kann dabei eine sehr berührende, tiefe und heilsame Musik entstehen.

In erster Linie geht es beim Spielen der japanischen Zenflöte um Achtsamkeit. Eine der wesentlichen Anweisungen von Koku Nishimura lautete: Spiele aus Leibeskräften (issho kemmei), mit allem, was du hast, voller Intensität und Achtsamkeit. Egal, wie es sich anhören mag, das Ergebnis ist dann immer richtig. Denn dann ist der Flöter ganz da für das, was in diesem Moment geschieht.

 

Ein-Ton-Zen

Eine mögliche Praxis, die in vielen meditativ orientierten Zenflöten-Schulen ausgeübt wird, besteht im Spielen einfacher langer Töne, zum Beispiel im ­sogenannten ‚robuki’, dem wiederholten Spielen des tiefsten Tons. Der Spieler kann hier beim gemeinschaftlichen Spielen vollkommen im Atmen und ­Tönen aufgehen, weil er sich nicht mehr hören kann und nur noch an der Vibration der Flöte spürt, ob er mittönt. Es handelt sich um ein besonderes Erlebnis, bei dem man sich wie auf einer Welle in der Gruppe getragen fühlt.

Es gibt Kyotakuspieler, die den direkten Weg in die Atemmeditation nehmen und sich Flöten ohne Grifflöcher bauen lassen, um sich ganz dem Ein-Ton-Zen widmen zu können. Jeder muss seinen ganz eigenen Weg finden, um aus der anfänglichen Verliebtheit in den Klang der Kyotaku eine tragfähige dauerhafte Beziehung zu entwickeln.

Beim Spielen der traditionellen Lieder wird der Geist bei seiner Freude an jeglicher Bewegung, seiner Neugierde und seinem Ehrgeiz gepackt, wobei sich die meditative Praxis ganz unmerklich vertieft. Die Töne spiegeln dem Flöter, wo er mit sich in diesem Moment steht. Sie locken ihn voran, weiter zu üben. Sie lehren ihn Geduld, weil sie zum Teil schwierig zu erlernen sind, und sie üben gleichzeitig eine mysteriöse heilsame Wirkung auf Körper, Geist und Seele aus. Das, was der Flöter beim Flöten-Lernen über sich lernt (ohne darauf aus zu sein), im Durchschreiten aller möglichen Höhen und Tiefen, wird ohne sein Zutun in sein alltägliches Leben einfließen. Und das, was er damit im täglichen Leben erfährt, wird wiederum in seiner Flötenpraxis Ausdruck finden.

Schließlich bietet die Flöte die Möglichkeit zur Improvisation, die Chance, mich so, wie ich jetzt gerade bin, ungeschminkt und frei zum Ausdruck zu bringen; ganz meinem Gefühl zu folgen, vielleicht dabei auch meinen eigenen Grenzen im Kopf zu begegnen. Die Flöte wird hier in anderer Weise zum Spiegel des Momentes.

 

Absichtslosigkeit und Anfängergeist

So wie ich beim Meditieren die ständig auftauchenden Ideen und Konzepte immer wieder von neuem loslasse, immer wieder neu ohne Wissen, Wollen und Erwarten empfange, was sich da auch zeigen mag an Gedanken, Gefühlen und Sinneswahrnehmungen, so empfange ich auch beim Flöten das, was kommt, mit offenem Herzen. Auch beim Kyotakuspielen bin ich – wie im Umgang mit mir selbst – in Versuchung, die „unschönen“ Seiten auszublenden, nur „schöne“ Töne hören und spielen zu wollen. Doch damit verpasse ich die ungewollt zauberhafte Schönheit dieses Momentes: das Zischen, das pfeifende Geräusch, den ungewollt schrägen oder leisen Ton. Mit Hingabe, ohne Wertung und voller Intensität gespielt, entfalten diese „Fehler“ ihre eigene Schönheit. Und diese Schönheit liegt darin, dass wir ganz da sind (im Atmen/Spielen), selbstvergessen zuhören und auf den Prozess vertrauen, durch den uns die Flöte führt, dieselben Lieder immer wieder spielen, als wäre es das erste Mal. Was bleibt, ist die Hingabe.

Die Kyotaku als Lebensgefährte

Ich blieb damals mehr als ein halbes Jahr in Japan und kehrte danach immer wieder zu meinem Sensei zurück. Gelegentlich besuchte er auch mich in Deutschland. Wir haben uns noch oft gesehen und zusammen gespielt bis zu seinem Tod 2003. Irgendwann ermunterte mein Lehrer mich, Schüler zu unterrichten, und das vertiefte Lernen durch das Lehren begann. Wie mein Lehrer habe ich irgendwann auch begonnen, diese Flöten in traditioneller Weise zu bauen, den Bambus dafür unter anderem in Japan zu suchen und zu schlagen.

Die Kyotaku ist zu einem treuen Begleiter meines Lebens geworden. Nach einem anstrengenden Tag spiele ich vielleicht nur lange Töne und das tiefe Atmen, die rauchigen sanften Töne helfen mir, mich zu entspannen und zu regenerieren. Mag sein, ich bin in einer dieser etwas schwierigen Stimmungen, für die man keine Worte findet, für die es keine Lösung gibt, und das Spielen der Flöte hilft mir, sie einfach da sein zu lassen, sie zu spüren, indem ich diesen Gefühlen die Form von Tönen gebe. Mag sein, dass ich nach einer Sitzmeditation eintauche in die Klarheit eines der traditionellen Lieder. Nach fast 30 Jahren spiele ich immer noch dieselben Lieder. Als ich Koku Nishimura damals traf, wusste ich nicht, was mich erwartete. Ich dachte, ich bleibe ein paar Wochen, dann ziehe ich weiter … Es wurde eine Begegnung fürs Leben. Ich bin ihm zutiefst dankbar.


Abb. 2: Koku Nishimura

Konzert:
Freitag, 11. Okt. 13, 20 Uhr im Gotischen Saal, Schmiedehof 17

Info und Kontakt
Tel.: 030-80 10 57 11 oder  tiloburdach@web.de
www.tilopa.de

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