Treue – was bedeutet das wirklich? Wem oder was sind wir da eigentlich treu – ist es wirklich unser Partner, oder eher unsere Angst? Sind wir vor allem uns selbst wirklich treu? Dem, was wir fühlen und brauchen? Treue oder Liebe – ein Widerspruch?

Was ist Treue?

Ist ein Leben ohne Liebe lebenswert? Wohl kaum! Das, was uns Menschen von den anderen Lebewesen im Besonderen unterscheidet, ist unsere Liebesfähigkeit. Die Treue, ist immer wieder ein zentrales Thema in unserer Arbeit in der Begleitung von Menschen und ihren Wegen der Liebe. Um Einklang und Freiheit in der Liebe zu erlangen, ist eine zeitgemäße Neubetrachtung von so wichtigen Gebrauchswörtern wie ‚Treue‘ sehr sinnvoll, dieser sollte sich jede Generation von Liebenden widmen.

Ich möchte zu Beginn darauf aufmerksam machen, dass die folgenden Erfahrungen und Überlegungen keinen Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit in sich tragen. Falls Ihnen die folgenden Worte Impulse geben, die eigenen Liebes- und Lebensweisen zu überdenken und bewusst Neues auszuprobieren, so hat dies Essay sein Ziel erreicht.

 

Das Treue-Paradigma

In unseren Paarberatungen kommen wir natürlich oft mit dem Thema der Treue in Kontakt. Exemplarisch möchte ich ein erst vor kurzem abgehaltenes Gespräch mit einem langjährig verbundenen Paar skizzieren:

„… Ich fragte dann die Partner, ob sie Abmachungen oder, wie wir es gerne nennen, Commitments in ihrer Beziehung hätten. Die Antwort lautete:„Nein, brauchen wir nicht, wir sind uns treu!“. Die beiden Partner nickten mir zu. Ich fragte dann das Paar, ob einer der Partner mit einem anderen lustvolle Begegnungen haben darf. Was genau ich damit meinte, war dann die Rückfrage. Ich sagte:“Na ja, zum Beispiel zusammen auf einen Tangoball gehen, eng umschlungen zu tanzen und miteinander zu flirten.“ Es kam ein zögerliches: „Das ist schon okay!“. Ich fragte weiter, ob es denn auch möglich wäre, nach dem Tangoabend in eine Bar zu gehen, gemeinsam auf einem gemütlichen Sofa zu sitzen, einen Cocktail zu trinken und zärtlich einen Kuss auszutauschen. „Nein, so etwas machen wir nicht!“, kam von beiden direkt als Antwort. Ich fragte sie vorsichtig, ob dies vielleicht eine ihrer stillen Abmachungen wäre. Sie sagten:“Ja schon, nur muss man doch darüber nicht sprechen, das ist doch klar!“ Ich bat dann zuerst einmal den Mann nach draußen und fragte die Frau, was sie sich in Bezug auf Liebe und Sexualität für sich und ihren Körper wünschen würde. Ihre Antwort lautete in etwa: „Ich weiß es nicht, wir sind jetzt schon so lange zusammen, früher war es sehr intensiv zwischen uns … ich weiß nicht was ich mir wünsche.“ Dann bat ich die Frau heraus und ihren Mann herein, um ihm die gleiche Frage zu stellen. Er sagte, dass er sich mehr Sex wünsche, auch sehne er sich nach sexuellen Kontakten zu anderen Frauen, aber er würde dies nie machen, weil er seine Beziehung nicht gefährden wolle.“

Diese Antworten sind nicht ungewöhnlich, sie sind sogar tief verwurzelt in unserer Gesellschaft. Gibt man in dem Online Wörterbuch „Wiktionary“ den Begriff Treue ein, stößt man auf eine recht einfache, aber bezeichnende Beschreibung der Bedeutung:

(1) Beibehaltung einer Lebenseinstellung oder eines Zustandes.
(2) Monogamie in einer Beziehung.

Dieses Paradigma: „Treue = Monogamie in einer Beziehung“ ist in den meisten von uns verankert. Redet Mann/Frau über die Treue, so wird dies in den meisten Fällen mit einer strikt monogamen Beziehung gleichgesetzt. Wenn die Liebe über uns kommt, und wir verliebt sind, gehen die meisten Paare einen stillschweigenden Pakt ein, über den kaum geredet wird. Wenn wir ihn aussprechen würden, könnte es wie folgt heißen: „Ab jetzt möchte ich nur noch Dich lieben, … und ich erwarte das Gleiche von Dir! Wirst Du Dich nicht daran halten, so werde ich Dich mit Liebesentzug oder anderen gewalttätigen Maßnahmen strafen … bis dass der Tod uns scheidet!“

Treue – Absicherung der Liebe?

Das stillschweigende Abkommen der Treue wird also als Absicherung des Zustandes der Liebe genutzt. Es wird hierdurch ein Rahmen geschaffen, in dem sich frei bewegt werden darf. Es ist eine Entscheidung, die Halt und Sicherheit gibt! Aber hat in diesem Gefüge die Liebe noch Raum zum Atmen? Stellt dieser ‚Zusammenschluss‘ von zwei Menschen einen Entwicklungsschritt für die Partner dar? Ich glaube in den meisten Fällen eher nicht! Wenn die Treue in dieser Form „benutzt“ wird, schützen wir uns eigentlich nur vor allen möglichen Erschütterungen, schotten uns ab und begraben unsere Wünsche, Bedürfnisse und zuletzt auch unsere Sehnsüchte!

Was passiert hier? Warum sind wir hoch zivilisierten Menschen an diesem Punkt so dermaßen ängstlich? Wie möchte ich meine Sexualität leben, was wünsche ich mir von meinem Partner, was mag ich, was mag ich nicht? … Wenn wir uns mit unseren Geliebten offen und hingebungsvoll auseinandersetzen, kommen wir auf dem Weg zu Antworten und Lebensqualitäten an diesen Fragen nicht vorbei. Ob wir nun eine monogame, eine offene, eine ‚polyamore‘ oder sonst eine Beziehungsform leben, so gelten immer die gleichen Grundsätze: Beziehung braucht Mut, Vertrauen und Hingabe. Wenn dies von den Beziehungspartnern bewusst gelebt wird, dann ist Transformation zur Menschwerdung möglich, und darum sollte es uns unserer Ansicht nach gehen!

Mein Lehrer, Mentor und auch Freund, Dieter Jarzombek, hatte einmal in einem seiner Teachings einen Satz gesagt, der mir nicht wieder aus dem Kopf geht. Bezüglich der Menschen, mit denen wir leben und die uns umgeben sagte er: „Erst mit meinem Gegenüber komme ich zu mir, wir brauchen das Lebensmittel Gemeinschaft, um uns selbst zu erkennen“. Die wunderbare Erkenntnis hierin war für mich, dass wir Menschen uns gegenseitig auf unserem individuellen Weg brauchen! Die Auseinandersetzung mit meinem Gegenüber hilft uns also, uns Stück für Stück selbst zu erkennen und zu wachsen.

 

Bewusste Treue durch Commitments

In unseren ‚Mystik & Eros’Seminaren beschreiten einige ‚Forscher der Liebe‘ das Feld von Liebe, Sexualität und Partnerschaft schon seit vielen Jahren. Ich selbst bin seit 2004 in dieser Gruppe und blicke hier auf einen lebendigen, lehrreichen Weg der Lebensgestaltung und Persönlichkeitsentwicklung zurück.

Ich möchte nun kurz eine Essenz dieser Arbeit schildern, wie ich sie für mich selbst erfahren habe und wie ich sie auch bei vielen neuen Teilnehmern beobachte. Es geht schlicht um zwei Fragen, deren Antworten eine Basis für eine ‚bewusste Treue‘ und somit für eine ‚bewusste Liebe‘ sein könnten.

Nach den ersten verliebten Spielereien oder Enttäuschungen kommt man in dieser Arbeit recht schnell auf eine der essentiellen Fragen: „Was ist – genau jetzt – mein Empfinden?“

Man sollte meinen, dass dies zu beantworten doch recht einfach ist. Aber die Erfahrungen zeigen, dass viele unter uns nicht in der Lage sind, ihr eigenes Befinden klar und sachlich zu beschreiben. Aber wie kann jemand mit einem anderen Menschen in Beziehung treten, wenn er sich selber nicht wahrnehmen kann, wenn er nicht weiß, wie er sich gerade fühlt, was sich in ihm/ihr bewegt, welche Einflüsse sich wie äußern? Zuerst einmal geht es also darum, sich selbst wahrzunehmen.

Die zweite Frage schließt hier direkt an: „Was brauche ich?“

Auch dies ist eine recht einfache Frage. Hier ermöglichen wir es den Teilnehmern ihre Wünsche zu formulieren, mitzuteilen und somit Verantwortung für ihre eigene Lebensqualität anzunehmen. Aber seien wir doch ehrlich, wer kann von sich selber behaupten, voll und ganz für sich einzustehen? Legen wir doch einen kurzen Moment den hohen menschlichen Wert des ‚Mitgefühls‘ beiseite, legen wir auch die Verantwortung und Fürsorgepflicht, die wir alle tragen, beiseite. Und jetzt schauen wir einmal nach innen und fragen uns, was wir wirklich brauchen. Teilnehmer unserer Gruppen können ein Lied von diesen Fragen singen: „Was brauchst Du?“ Jetzt, hier, in diesem Moment, mit diesen Menschen um dich herum! Jetzt geht es nur um Dich, sprich es einfach aus! Ob es in Erfüllung geht, ist eine ganz andere Sache. Was für Wünsche hast Du? Wie sind Deine Phantasien? Sprich es aus!

Nun sind wir einen großen Schritt weiter gekommen. Im Rahmen der Gruppenarbeit bringen wir die Teilnehmer in vielschichtige Situationen, eröffnen Räume, in denen sie ihre eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse sammeln können und so sich ihrer selbst und ihrer wahren inneren Impulse bewusst werden. Nachdem wir uns immer wieder mit den Themen der Liebe offen und ehrlich in der Form der ‚Herzensrede‘ auseinander setzen, stabilisiert sich eine Kommunikation in den Teilnehmenden, die es ihnen ermöglicht, einander wirklich wahrzunehmen und zu verstehen.

Eine wahrhaftige Kommunikation unter Liebenden ist dann möglich. Erst dann sind sie in der Lage, sich darüber auszutauschen, wie ihre Form der Partnerschaft lebendig gelebt werden soll. Sie können nun individuelle Commitments vereinbaren, die ihnen Halt und Kraft geben. Nun ist es möglich, treu zu sein und die Form der Treue zu leben, die den Betreffenden gut tut und die genau zu ihnen passt.

 

Vom Ich zum Wir

Einige unter den Lesern mögen die Ebene der „wahrhaftigen Kommunikation“ in Ihrem Beziehungsleben bereits erreicht haben und wissen darum, wie schwer ein bewusster, ehrlicher und liebevoller Austausch in dieser offenen und rückhaltlosen Form ist. Denn wir dürfen nicht vergessen, es geht hier nicht um ein Auto oder eine Handtasche, es geht um Liebe und intime Bereiche unserer Persönlichkeit!

Um in der Liebe in die angestrebten Einheit zu kommen reichen die bisher beschriebenen „Basistools“ oft nicht aus. Immer wieder kommen Partner an Themen die entzweien, an denen sie sich keinen Schritt bewegen wollen. Kompromisse in Liebesdingen sind meist „faul“! Eine Entscheidung für etwas oder gegen etwas sollte voll und ganz aus dem Herzen kommen. Wollen Beziehungspartner von dem Ich zum Wir zu kommen beschreibt folgendes Gedicht von Dschelaleddin Rumi einen Weg zur Lösung:

„Weit weg von unseren Vorstellungen über richtig und falsch ist ein Feld. Ich treffe dich dort.“

Dieser Schritt ist für unseren Verstand sehr paradox. Beziehungspartner sind häufig in der Lage, Tage, Wochen, Monate ja sogar auch ihr ganzes Leben lang über etwas zu streiten. Jeder hat Argumente, die sicherlich gut und richtig sind, jeder besteht auf dem Recht, die Wahrheit zu besitzen. Jedoch begegnen werden sich ihre Herzen so nicht. Die Liebenden verstricken sich in Abmachungen und ‚Handelsgeschäften‘, die mit der Liebe nichts mehr zu tun haben. Der Schlüssel, um in dieses von Rumi beschriebene Feld einzutreten, ist die Hingabe. Sobald Menschen vom Ich zum Wir kommen, verändert sich etwas. Etwas Magisches breitet sich aus, wenn Ich und Du im Gleichklang sind.

Treue sollte als Erstes bedeuten: sich selbst treu bleiben, d. h. authentisch die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. Durch solch ‚echtes‘ und vertrauenswürdiges Verhalten werden auch die Partner ermutigt, sich frei und lebendig zu entfalten. Um diese Form der Treue zu leben, braucht es Mut. Treue heißt auch sich zu trauen‘. Es braucht Mut, um aufrichtig, ehrlich und liebevoll die Bedürfnisse in Bezug auf Liebe, Sexualität und auch auf die Form unserer Partnerschaft auszudrücken, und es braucht Hingabe, um ein neues Feld des Wir zu erzeugen, in dem das Ich und Du verschwinden, bzw. auf eine andere Ebene gehoben werden.

 

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Über den Autor

Avatar of Nirvan (André Sadjadian)

studierter Architekt, widmet sich seit 1998 den verschiedenartigsten Wegen der Spiritualität und der humanistischen Psychologie. Im Besonderen sind die Bereiche Meditation, Liebe, Sexualität und Partnerschaft zu Schwerpunktthemen geworden.
Im Jahr 2001 begegnete er seinem späteren Lehrer und Mentor Dieter Jarzombek. Dies, sowie die Teilnahme am SET und die jahrelange Teilnahme, Assistenz und Trainerfunktion in der Mystik & Eros Gruppe bildeten hierfür das Fundament. Seit 2008 leitet er im Shakti Sangha Institut Seminare und gibt Einzelsitzungen zu den o.g. Bereichen.

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