Wie wahre Verantwortung die Wunden der deutschen Nazi-Vergangenheit transformieren kann

 

Am 24. und 25. April findet in Berlin zum dritten Mal ein großes Healing Event statt. Führende Vertreter der integralen Spiritualität wie Thomas Hübl, Andrew Cohen, Ken Wilber und Tom Steininger laden dazu ein, sich dem Holocaust in einer neuen, radikalen Verantwortung zu stellen. Ilona Kästner sprach mit Thomas Hübl.

 

Thomas, warum glaubst du, dass in Bezug auf die deutsche Nazi-Vergangenheit noch Schattenarbeit notwendig ist? Sind wir Deutschen nicht schon Meister der Aufarbeitung?
Dieser Schatten enthält noch sehr viele emotionale Inhalte, ganz einfach aufgrund seiner Dimension. In Deutschland ist viel Beschäftigung mit dem Thema passiert, dadurch ist die Wunde offen. Das ist auch gut so. Es gab vor allem eine Menge intellektuelle Aufarbeitung. Und viel individuelle Arbeit, das heißt, dass einzelne Leute wegen Symptomen in ihrem Leben in Therapie gehen und sich dann auch dieses Thema tiefer anschauen. Ich glaube aber, dass der Holocaust ein sehr tiefer Einschnitt ins menschliche Erleben aller Beteiligten war. Und es waren millionenfach Leben daran beteiligt, das heißt, es ist auch millionenfach Verdrängung passiert, aufgrund der extremen Umstände. Deshalb braucht es Ereignisse, wo sich Menschen in großen Gruppen zusammenfinden, um sich mit dieser kollektiven Verdrängung zu beschäftigen. Und es braucht Menschen, die sich intellektuell, emotional, spirituell und sozial auf dieses Erbe einlassen. Genau das wollen wir mit dem Healing Event machen: uns auf allen diesen Ebenen unseres Menschseins darauf einlassen.

Gleichzeitig gibt es auch die große Sehnsucht, das alles loszulassen, sich dem zu widmen, was Kraft hat und Freude macht, und auch mal wieder das Licht in der deutschen Kultur zu sehen…
Ich spreche ja nicht davon, dass wir uns ewig mit der Vergangenheit beschäftigen. Wenn ich von unintegrierten Anteilen oder von Schatten spreche, dann ist das etwas, was in unserem kollektiven Bewusstsein noch immer wirkt und Symptome in unserer Kultur und in unserer individuellen Erfahrung zeigt. Wir schauen mit dem Licht, das uns heute zur Verfügung steht, in unsere kollektive Bewusstseinsstruktur, um die Kraft, die hier noch im Schatten liegt, verantwortungsvoll zu integrieren. Ich bin auch dafür, dass wir in unser Innovationspotential schauen, dass wir mit dem Licht gehen, dass wir mit dem präsent sind, was jetzt ist. Nur: In diesem gegenwärtigen Augenblick hat ein unintegrierter Schatten einfach Effekte. Dieses kollektive Erbe wirkt durch unsere Körper, unsere Emotionen, durch unsere Gedanken und teilweise durch das, was wir gemeinsam als Kultur kreieren. Wir können zwar sagen, wir wollen ins Licht. Aber wir tragen trotzdem noch diesen eingewobenen Anteil in unseren Genen, in unserer Psychologie, in unserer sozialen Fähigkeit, in unserer Spiritualität. Ins Licht zu gehen, das heißt auch, sich dessen bewusst zu werden.

Wie würdest du das Potential beschreiben, das sich durch ein bewusstes Hinsehen entfalten kann?
Zuerst ist wichtig zu verstehen, dass wir kein Healing Event veranstalten, um etwas wegzuheilen oder damit etwas besser wird. Wir machen ein Healing Event, damit wir uns in die vollkommene Verantwortung stellen – in das, wie es wirklich ist. Und das, wie es wirklich ist, kann sehr unangenehm sein. Wir wollen nichts schöner machen, sondern eine Reife entwickeln, um uns in diesen Schatten wirklich hineinstellen zu können. Ein Schatten ist es ja nur so lange, wie wir das Thema verdrängen. Und wir verdrängen es kollektiv, das heißt, wir sind alle daran beteiligt. Deshalb braucht es Menschen, die sich zur Verfügung stellen und sagen, ja, ich öffne mein Gefühlsleben, ich öffne mein intellektuelles Leben, ich öffne meine Wahrnehmung dafür, dass es in unserer gemeinsamen Lebensgrundlage etwas gibt, das wir alle gerne ins Abseits stellen. Es ist an der Zeit, dass wir uns mit unserem ganzen Sein, unserem ganzen Wesen dem widmen, so dass wir mit der Lehre, die wir daraus ziehen, in einer neuen Richtung weitergehen können. Wir können das, was geschehen ist, nicht wieder gut machen. Aber wir können so verantwortlich drin stehen und die Auswirkungen und Konsequenzen erfassen, dass innere Bewusstseinstransformation möglich wird. Und da liegt auch das Potential: dazu vollkommen ja zu sagen, so dass unsere Seele aus dem, was geschehen ist, eine tiefe Erkenntnis gewinnen kann. Dadurch kann auch die spirituelle Anbindung, das innere Licht, das in uns und durch uns wirkt, wieder verstärkt wahrgenommen werden. Für viele Menschen gibt es durch diesen kollektiven Schatten eine Überlagerung, so dass der Zugang zum Licht schwächer erscheint. Die innere Angebundenheit erfahren wir nur, wenn wir ganz ehrlich sind. Wahrhaftigkeit ist eine Grundvoraussetzung für inneres Angebundensein, sie ist die Natur unserer Gottesanbindung. Das vollkommene Stehen zu dem, was geschehen ist, wird diese Wahrhaftigkeit erzeugen, die wir für unsere Gottesanbindung brauchen. Darin sehe ich das große Potential: als Kollektiv verantwortlich auf der Lebensbühne zu erscheinen und damit einen Weg aufzuzeigen, wie man mit solchen Dingen umgehen kann.

Das wäre auch die Basis für ein neues und vor allem gesundes, kollektives Selbstwertgefühl hier in Deutschland.
Genau. Denn dann gehe ich nicht weg von dem, was passiert ist, und schwäche mich dadurch, weil ich einen Teil von mir permanent ausklammern muss. Sondern ich stehe da drin, auch wenn das, worin ich stehe, nicht angenehm ist. Und damit kann ich auch wieder gerade in der Welt stehen. Dann bin ich nicht in einem geschwächten Schuldverhalten, sondern stelle mich ganz den Tatsachen. Dieses “gerade in der Welt stehen” ist, glaube ich, auch, was wir mit gesundem Selbstwertgefühl beschreiben. Ein gesunder Selbstwert heißt ja letztendlich nichts anderes, als dass wir mit unserer ursprünglichen Kern-Energie gesund in Kontakt sind. Mit unserem ursprünglichen Potenzial, mit dem, was wir ins Leben mitbringen, was sich durch uns ausdrücken möchte. Wenn das Potenzial leben kann und wir damit gut in Kontakt sind, dann fühlen wir uns in einem gesunden Selbstwert. Wenn wir Dinge tun in unserem Leben, zu denen wir nicht ganz ehrlich stehen, dann wird sich das immer so anfühlen, als würde uns etwas von unserer Basiskraft genommen, sobald das Gespräch oder die Energie in diese Richtung geht. Manchmal wird das dann überlagert von Sich- schuldig-Fühlen. Und in diesem „ich fühle mich schuldig“ kann ich nicht in meiner ganzen Größe oder in meiner Wahrhaftigkeit in der Welt stehen, weil ich ja einen Teil von mir ausklammere. Das was hier geschehen ist, kann nie wieder ungeschehen gemacht werden. Aus dem kann man nur lernen. Ich kann es nur wahrhaftig annehmen und sagen, ja, das ist ein Teil von mir. Wenn ich sage, das ist Vergangenheit, das hat mit mir nichts zu tun, dann hört meine Ethik mit mir auf. Aber meine Ethik soll ja im besten Falle eine kollektive oder universale Ethik sein und dann hat alles mit mir zu tun. Es gibt Taten im Leben, die aus einer Ignoranz und Verblendung entstehen. Wir lernen dadurch, diese Verblendung zu sehen, und gehen dann in einer neuen Weise weiter ins Leben. Dafür kann das hier in Deutschland ein großes Beispiel sein. Die Schuldhaftigkeit wird in eine wahrhaftige Verantwortlichkeit umgewandelt. Nur so kann sich unsere Seele im Endeffekt erlösen.

In welcher Form leistet das Healing Event einen Beitrag dafür, dass diese Transformation stattfinden kann?
Wir haben Leute eingeladen, die kreative Impulse geben können, die sich sehr lange mit Bewusstheitsfragen beschäftigt haben und die so eine Inspiration sein können für viele Menschen. Wir sind sehr daran interessiert, dass viele Teilnehmer kommen, die in sich den Ruf spüren, sich an dem ganzen Prozess wirklich zu beteiligen. Das heißt, es ist kein Event, zu dem ich gehe, weil ich etwas konsumieren möchte. Sondern ich gehe da hin, weil ich einen kollektiven Beitrag leisten und mich an der gemeinsamen Lebensgrundlage beteiligen möchte und weil ich spüre, dass dieser kollektive Aspekt unserer Kultur ein Teil unserer selbst ist, um den wir uns kümmern müssen. Wenn viele Menschen kommen, die ihre Präsenz, ihre Klarheit und ihre ganze Geschichte mit einbringen, dann schaffen wir gemeinsam einen großen Raum, in dem Inspiration, gegenseitiger Austausch und eine Heilmeditation zur kollektiven Transformation stattfinden können. Abends wird es ein Konzert mit israelischen Künstlern geben. Wenn sich viele Menschen gebündelt und synchronisiert so einem Thema zuwenden, können eine Menge Licht, Bewusstheit, Mitgefühl, Klarheit und Verantwortlichkeit dort hinein fließen. Das baut ein enormes Kraftfeld auf. Die Dynamiken des Zweiten Weltkriegs waren ja sehr starke kollektive Dynamiken und daher braucht es auch einen bewussten Gegenpol, um da wieder Licht rein zu bringen. Am zweiten Tag bieten wir noch einen Integrationsworkshop für die Teilnehmer an, die den Wunsch nach einer tieferen Aufarbeitung haben.

 

Healing Event “Wahrheit heilt”, Sa, 24.04., 10 bis 22 Uhr,
Anmeldung nicht erforderlich, Eintritt frei, Spenden erbeten

FU Berlin, Max-Kade-Auditorium, Henry-Ford-Bau, Garystr. 35, 14195 Berlin

Integrationsseminar So, 25.04.,
10 bis 18 Uhr
Nur für Teilnehmer des Healing Events am 24.4.
Anmeldung erforderlich, Eintritt 40 €

Infos und Anm.:
Alexander Heene,
Tel: 030 – 75 45 05 33, Mo 9-11 Uhr,
Do 17-19 Uhr
welcome@globalawareness.info

Filmfestival “Wahrheit heilt” in der Urania, Sonntag, 18.4. und Dienstag, 20.4.

www.globalawareness.info

 

 

Andrew Cohen

 

 

 

 

 

 

Ken Wilber

 

 

 

 

 

 

Tom Steininger

 

 

 

Über den Autor

Avatar of Thomas Hübl

ist ein zeitgemäßer spiritueller Lehrer, Begründer der Academy of Inner Science und Initiator des Celebrate Life Festivals, eines jährlich stattfindenden Non-Profit-Events in Norddeutschland. In seiner Arbeit verbindet sich die Essenz der großen Weisheitstraditionen mit heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Er hat die besondere Gabe, Menschen präzise zu erkennen und das ihm offenbarte Wissen ganz praktisch ­anwendbar rüberzubringen. So führt er Menschen mit außergewöhnlichem Gespür in tiefere Dimensionen ihrer Präsenz und in die Eigenverantwortung. Thomas Hübl lebt in Tel Aviv und Berlin.

Mehr Infos

Vom 28. Juli bis 06. August 2017 findet das 14. Celebrate Life Festival zum Thema Trauma auf dem Seminarhof Oberlethe statt. Die vor 13 Jahren entstandene Non-Profit-Veranstaltung hat inzwischen eine beachtliche internationale Strahlkraft entwickelt, die Menschen aus der ganzen Welt begeistert und inspiriert. 2016 haben über 1300 Teilnehmer aus 26 Nationen die einzigartige Energie dieses Festivals miterlebt. Alle Infos zu Programm, Unterkunft, Verpflegung u.a. auf https://celebrate-life.info/2017

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