von Dorothée Brüne

Einbildung, Imagination und Fantasie

„Was bildest du dir da eigentlich ein?“, ist ein Vorwurf, den wahrscheinlich so manch einer als Kind zu hören bekommen hat. Sich etwas einbilden zu können, gilt im allgemeinen Erziehungskontext oft nicht als wünschenswerte Fähigkeit. Wer sich zu viel ausdenkt, wird als Fantast beschimpft und flüchtet sich nicht selten in Kreise, wo die Fantasie nicht nur geschätzt, sondern oft sogar als die zentrale Erkenntniskraft bewertet wird. Was ich imaginieren kann, gilt dann als wahr und wird nicht mehr hinterfragt. Wie steht es aber um die Wahrheit des Eingebildeten? Was eigentlich ist das: Einbildungskraft?

Oft wird unterschieden zwischen einer reproduktiven und produktiven Einbildungskraft. Menschen besitzen die Fähigkeit, Gesehenes als inneres Bild zu bewahren. Ich sehe einen großen alten Baum und bin als Mensch in der Lage, diesen Baum bei geschlossenen Augen weiterhin zu sehen. Solche reproduktive Kompetenz wird als Imagination bezeichnet. Diese verändert die aufgenommenen Bilder nicht.

Wir können den wahrgenommenen Baum allerdings auch mit dem Bild einer Königin verbinden. Schon haben wir die Königin in den Bäumen, obwohl das adelige Herrschaften in der Regel nicht tun, außer in Italo Calvinos Roman Der Baron in den Bäumen. Der allerdings ist eine Fiktion, nämlich Produkt seiner Fantasie. Indem Menschen Bilder neu kombinieren, werden sie kreativ. Sie sind aktiv. Die Fantasie ist somit die produktive Seite unserer Einbildungskraft.

Manche Menschen haben die Fähigkeit, innere Bilder zu entwickeln. Manche sind in der Lage, Bilder neu miteinander zu kombinieren. Andere jedoch nicht. Einbildungskraft kann gefördert werden oder sie kann verkümmern. Paul Virilio hat erkannt, dass es vor allem der Berührung bedarf, um innere Bilder entstehen zu lassen. Jedes Streicheln fördert die Einbildungskraft. Tantriker und andere Berührungsfreudige kennen das.

Das eingebildete Ich

Aus der kindlichen Entwicklungspsychologie wissen wir, dass menschliche Wesen ein inneres Bild ihrer Bezugspersonen entwickeln müssen, um bindungsfähig zu sein, aber auch um etwas auszubilden, was als Ich bezeichnet und erlebt werden kann. Melanie Klein nennt diese inneren Bilder Introjekte. Ein Ausdruck, der sich bis heute in der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie gehalten hat.

Doch es bedarf nicht nur eines Bildes der Anderen. Auch von mir selbst sollte ich als Mensch ein inneres Bild entwickeln können. Das geschieht meist im Alter von 18 Monaten – dem sogenannten Spiegelstadium – wie Jacques Lacan durch Studien nachgewiesen hat.

Interessanterweise braucht es für eine gesunde Ich-Bildung ebenfalls Berührung. Ohne Streicheleinheiten werden Menschen krank. Sie sind dann nicht in der Lage, gesunde Ich-Grenzen auszubilden. Didier Anzieu spricht deshalb vom Haut-Ich. Ich werde berührt, also bin ich. Weil ich berührt werde, kann ich mir etwas einbilden. Ich bilde mein Ich. Ein kreativer Akt. Ein Produkt der Einbildungskraft, für den es der Berührung bedarf.

Wie aber kann ich feststellen, ob das Bild, das ich von mir selbst entwickelt habe, nicht bloße Fantasie ist? Wie weiß ich, dass ich keinem Größenwahn verfallen bin, bei dem ich allzu oft Bilder meiner selbst mit Bildern von Königen, Mächtigen, Herrschern, Gewinnern, Erleuchteten, Heiligen und Engeln kombiniert habe? Oder auch mit Göttinnen?

Die Kraft der Imagination

Im Katatymen Bilderleben, bei der Hypnose und auch im Autogenen Training wird die menschliche Einbildungskraft dazu genutzt, Bilder zu (er)finden, die entspannen können, die den Fokus schärfen, die helfen ein Ziel zu imaginieren, um dieses mit mehr Elan zu verfolgen. Ich imaginiere mich als schlanke Frau in schickem Outfit, um die Qualen einer Diät durchzuhalten. Ich sehe mich glücklich vereint mit einem Partner, um mir Hoffnung zu geben, mein Single-Dasein überwinden zu können. Innere Bilder sollen hier einen konkreten Nutzen haben. Sie sind noch keine Wirklichkeit, sollen diese jedoch mit meiner tatkräftigen Unterstützung entfalten.

Wer schon einmal mit solchen inneren Bildern bewusst gearbeitet hat, wird vielleicht die interessante Wirkung kennen, die dabei entstehen kann: Alle Sinne tauchen jetzt schon in dieses Bild ein. Ich kann die Hand des Partners in der meinen schon fühlen. Ich spüre jetzt schon die Leichtigkeit meines Idealgewichtes. Jetzt. Hier. Auch wenn ich noch immer die 85kg auf die Waage bringe und alleine auf meiner Couch liege.

Die Einbildungskraft hat somit eine große Kraft. Sie wirkt direkt auf unsere Sinne ein. Muskulatur entspannt. Hauttemperatur erhöht sich wie beim Autogenen Training. Ich habe keine Lust mehr auf eine Zigarette, weil ich mich schon als Nichtraucher gesehen, gefühlt und gerochen habe. Wir Menschen können das. Fantastisch, nicht wahr? Es wäre allerdings fatal, das solchermaßen Ein-Gebildete als objektive Wahrheit zu nehmen.

Die Einbildungskraft ist in der Lage, mein inneres Reich zu verändern. Die äußere Wirklichkeit bleibt zunächst davon unberührt. Solches zu behaupten wäre ein Akt der Aus-Bildungskraft. Wir nennen das gemeinhin Projektion (im Gegensatz zur Introjektion). Der äußeren Welt wird dabei ein Bild übergeworfen, das eigentlich Teil der inneren Bildwelten ist. Auch das machen Menschen. Auch das können Menschen. Um sich auf neue Welten einzulassen, um dem Fremden begegnen zu können, sind solche Projektionen zunächst sehr hilfreich. Sie schaffen Orientierung, geben Halt. Im weiteren Verlauf jedoch bedürfen sie der Adjustierung, denn selten ist Welt so, wie ich sie mir vorstelle oder erträume.

Substanzreisen und andere Visionen

„Wow, das war voll abgespaced. Ich hab lauter Engel gesehen. Die flogen in einem Kreis. Ich in ihrer Mitte. Reine Lichtwesen. Mein Körper aus Gold. Ich war echt ein Angel, einfach erleuchtet. Vergangenheit, Zukunft, ich konnte alles sehen. Voll krass!“

Menschen im Delirium sehen mitunter die berühmt-berüchtigten weißen Mäuse. Psychotiker werden im paranoid-halluzinatorischen Wahn von einer Horde von Zombies verfolgt. Werwölfe können den Träumenden verfolgen. In psychischen Ausnahmezuständen und menschlichen Krisen spielt uns die Einbildungskraft gerne einen Streich und lässt Monster entstehen. Meist hat es Gründe, warum sich solche Schattenseiten der Einbildungskraft zeigen. Die zu erforschen sind u.a. Psychotherapeuten angehalten in Zusammenarbeit mit ihren Patienten. Auch der frisch Erwachte nach alptraumgeschwängerter Nacht tut gut daran sich zu fragen, weshalb ihn solche Träume heimsuchen. In jedem Falle gilt bei all diesen Bildern: Sie sind Bilder des Inneren Reiches, subjektive Wahrheiten. Unser innerer Bildermacher liebt es, Bekanntes neu zusammenzustellen, Symbole zu schaffen, die einer Interpretation bedürfen.

Diese Vorsicht beim Umgang mit inneren Bildern wird allzu gerne über Bord geworfen, wenn es um Bilder geht, die angenehme Veränderungen bewirken. Da ist man dann wirklich eins geworden mit der alten Eiche, ist wirklich geflogen mit den Engeln, ist in vorherige oder zukünftige Leben gereist oder sogar in vormenschliche Frühstadien der Erdentwicklung. Ja, wir Menschen können das. Wir können uns einfühlen. Empathie wird diese Schwester der Einbildungskraft genannt. Wir können dadurch Ahnungen bekommen, wie es hätte gewesen sein können oder auch, wie es wird werden können. Bei allem aber bleibt dies: Es sind innere Bilder, subjektive Wahrheiten.

Um Eingebildetes nicht zum Wahn werden zu lassen, bedarf es des Austausches, der Kommunikation. Wer hat noch diese Bilder? Sehe ich sie alleine? Gibt es Korrelate für mein Eingebildetes im Außen? Stärken mich meine Bilder? Entfremden sie mich jedoch von anderen?

Wahrheit ist ein Kon-Sens, ein gemeinsam geschaffener Sinn. Für diesen bedarf es des aktiven Austausches über subjektiv Wahrgenommenes. Wir Menschen können uns viel einbilden. Die Einbildungskraft schenkt Kraft, die Kraft, ein Morgen zu gestalten. Wie wollen wir dies und wie wahrscheinlich ist es, dieses erreichen zu können bei den gegebenen Wirklichkeiten? Ein täglich neu aufzunehmender Prozess.

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Literatur:
Didier Anzieu: Das Haut-Ich, Suhrkamp Verlag 1996
Italo Calvino: der Baron in den Bäumen, Fischer Verlag 1960
Melanie Klein: Das Seelenleben des Kleinkindes, Klett-Cotta 2001
Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, 1948

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