Sicherheit ist etwas, das wir uns vorgaukeln, damit wir einigermaßen angst- und sorgenfrei unseren Alltag bewältigen können. Wir machen uns vor, dass wir immerwährend jung, schön, kraftvoll und gesund sind und damit möglichst gegen alle Situationen des Lebens gewappnet. Was aber passiert, wenn diese Komfortzone plötzlich auseinanderbricht? Wenn wir plötzlich ernsthaft erkranken oder ein von uns geliebter Mensch stirbt? Eva Terhorst über Situationen, die uns zwingen loszulassen – und wie wir darauf reagieren können.

 

Wir sind nicht wirklich darauf vorbereitet, dass das Leben mit uns Pläne haben könnte, die nicht unseren Wünschen entsprechen. Denn allgemein haften wir sehr an klaren Vorstellungen, wie wir selbst und unser Umfeld zu sein und zu agieren haben. Wir kleben fest an unseren Bildern eines perfekten Lebens, und wenn uns dann die Realität einholt, können wir nur schwer mit ihr umgehen.

Ein Ursache dafür ist, dass unser Bewertungssystem uns wenig Spielraum gibt, nach Lösungen und Möglichkeiten ein wenig weiter links oder rechts des Weges zu suchen. Der Grund: Von Beginn unseres Lebens an werden wir durch die Erziehung unserer Eltern und Großeltern wie auch in Kindergarten und Schule bezüglich unserer Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten beeinflusst, was meist heißt: viel kritisiert und in unserem Selbstausdruck mehr begrenzt als gefördert. Das führt zu einer inneren Unsicherheit bezüglich dessen, was gut und richtig ist und einer Orientierung an vorgegebenen äußeren Regeln.

Stillstand in der Komfortzone

Obwohl in der heutigen Zeit das Individuum und seine Bedürfnisse mehr im Mittelpunkt stehen als jemals zuvor, traut sich doch nur eine Minderheit, sich auszuprobieren und dabei zu riskieren, gesellschaftlich anzuecken oder negativ aufzufallen. Der Mensch als soziales Wesen ist sich meist sehr deutlich bewusst, dass die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft eine wichtige Basis ist, um sich sicher und verbunden zu fühlen. Daher achten wir oft viel zu sehr darauf, was andere für richtig und angemessen halten, und orientieren uns an Werten, die unseren persönlichen Bedürfnissen unter Umständen wenig oder gar nicht entsprechen.

Obwohl der Mensch sich durch einen hohen Erfindungsreichtum und eine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit auszeichnet, verkümmern darum viele Fähigkeiten im glattgebügelten Alltag und wir nehmen lieber die vorgegebenen und eingeübten Pfade als solche durch unbekanntes Terrain.

Kontrollwahn

Der Trend, Schwierigkeiten unreflektiert möglichst schon im Keim zu ersticken und auf eine vermeintliche Nummer sicher zu gehen, zeigt sich besonders in der Medizin und dem Irrglauben, alles heilen und bekämpfen zu können. Helfen tut es nicht: Jedes Jahr sterben beispielsweise tausende Menschen an den Nebenwirkungen von Medikamenten, die sie teilweise wie Bonbons konsumiert haben. Ein hoher Preis für die Illusion, man hätte ein sicheres Mittel gegen jedes Wehwehchen. Ein wirklich hoher Preis auch dafür, dass wir meinen, ständig fit und perfekt sein zu müssen, um unsere Leistungsfähigkeit ins Unermessliche zu treiben.

Der Kontrollwahn schleicht sich bereits in die Erziehung unserer Kinder ein, indem Eltern glauben, ihre Sprösslinge vor jedem Problem behüten zu müssen und auch zu können. Es gibt mittlerweile schon einen Begriff dafür: „Helikopter- Eltern“. Diese Eltern wachen sozusagen nahtlos über das Leben ihrer Kinder. Sie kreisen wie ein Hubschrauber über ihnen und versuchen, für sie jedwedes Hindernis und jede Schwierigkeit aus dem Weg zu räumen. Gleichzeitig wird der Tagesplan des Kindes klar durchstrukturiert – ja, schon während sich das Kind noch im Mutterleib befindet, wird die Karriere geplant und alles unternommen, was der Entwicklung erfolgreicher und leistungsfähiger Nachkommen dienlich erscheint.

Loslassen ist leichter als Festhalten

Unsere über Generationen entwickelte und eingeübte Kontrollstruktur gaukelt uns Sicherheit vor und wir klammern uns mit aller Kraft daran fest. Eigentlich ist Loslassen leichter als Festhalten und trotzdem fällt uns das Loslassen schwerer. Warum ist es so, dass wir uns so schwer tun, unsere eingetretenen Pfade zu verlassen? Weil sie uns Sicherheit bieten, da wir sie kennen und sie uns risikolos erscheinen. Doch entwickeln sich leider durch unsere starren Tagesabläufe und Verhaltensweisen tief eingefahrene Automatismen, die es uns enorm erschweren, unser Verhalten, Wohlbefinden und Fühlen an eine veränderte Situation anzupassen.

Beim Tod eines geliebten Menschen zeigt sich das besonders stark. Der Mensch, mit dem man sein Leben geteilt hat, ist plötzlich nicht mehr da – eine Leerstelle. Dabei war alles auf das gemeinsame Leben ausgerichtet. Dieser Verlust bricht uns nicht nur das Herz, auch unser Gehirn ist komplett überfordert. Denn dort ist eine Unzahl von Handlungsweisen gespeichert, die ganz eng mit dieser Person verknüpft sind, Wege, die wir zusammen gegangen sind und die uns erfüllt haben. Unser ganzes Leben ist oft bis in den kleinsten Unterpfad unseres Gehirns vom Zusammenspiel mit dem Verstorbenen durchwoben und teilweise sogar fest verknotet. Mit einem Schlag sind diese Pfade nutzlos und jeder Versuch, sie zu gehen, ist unendlich schmerzhaft und führt in ein Nichts, das man getrost als unendliches schwarzes Loch bezeichnen kann. Wir haben das Gefühl, als befänden wir uns im freien Fall – ein unangenehmer und bedrohlicher Zustand.

Aktiv in die Struktur eingreifen

Wir kommen wir da heraus? Selbst unter guten Bedingungen fällt es uns sehr schwer, selbst gewählte Verhaltensweisen zu ändern, sie zu unterlassen oder neue einzuführen. Forscher empfehlen deshalb, immer nur eine Verhaltensweise in Angriff zu nehmen und sich dafür je nach Vorhaben 21, 30, 60 oder 90 Tage Zeit zu nehmen. Beim Todesfall eines Menschen, mit dem wir den Alltag geteilt haben, geht es um unzählige Verhaltensweisen auf einmal, die wir unter keinen Umständen ändern wollen, es aber müssen, weil der geliebte Mensch nicht mehr da ist. Dies überfordert uns maßlos, und zwar ständig – für Wochen und Monate. Es erfordert unendlich viel Geduld und Durchhaltevermögen. Verzweiflung und Erschöpfung sind vorprogrammiert. Es scheint wie ein Marathon, der nie enden will.

Das Trauertagebuch: sich heil schreiben

Das Trauertagebuch: sich heil schreiben

Der Prozess der Umprogrammierung, den wir nun ad hoc zu leisten haben, zieht unglaublich viel von der Kraft ab, die sonst für die Bewältigung der normalen Alltagsanforderungen reserviert ist. Und dennoch wundern wir uns darüber, dass wir oft nicht mehr in der Lage sind, unseren Tagesablauf wie bisher zu regeln. Dabei können wir froh und dankbar sein, wenn wir überhaupt noch irgendetwas zustande bringen, denn die Umgewöhnung absorbiert unsere Reserven total.

Zu den normalen täglichen Aufgaben kommen nun neue und unfreiwillige Erledigungen, wie die Planung, Organisation und Durchführung der Beerdigung, Amtsgänge, Kündigungen von Konten, Mitgliedschaften, Abonnements, Verträgen, Eröffnungen von Testamenten etc. hinzu. Die Liste scheint endlos. Keinen dieser Vorgänge wollen wir wirklich umsetzen, denn mit jeder Erledigung wird der Tod unseres geliebten Menschen realer. Wir möchten einfach nicht, dass es wahr ist, dass der geliebte Mensch verstorben ist – und das ist auch sehr verständlich.

Während unser Gehirn auf Hochtouren läuft, um neue Pfade einzuschlagen, sind wir also gezwungen, uns mit Dingen auseinanderzusetzen, die wir bis in die letzte Faser unseres Denkens, Fühlens und Wollens ablehnen. Jeder, der sich das vor Augen führt, wird erkennen, um welch große Anstrengung es sich hierbei handelt und dass Geduld und Verständnis für uns selbst und von unserem Umfeld im höchsten Maße gefordert sind.

Neue Pfade anzulegen hilft

Doch so sehr es uns widerstrebt: Es ist wichtig, dass wir neue Pfade anlegen. Denn mit jeder neu gelegten Spur erhalten wir wieder ein wenig mehr Kontrolle über unser Leben zurück. Gleichzeitig können wir in diesem Prozess unsere Automatismen aufspüren, sie wertschätzen, wenn sie uns den Alltag erleichtern, und darangehen, sie Stück für Stück loszulassen, wenn sie uns behindern.

So schmerzhaft dieser ganze Prozess ist, kann er uns doch helfen, unser Leben zu weiten und ihm neue Aspekte hinzuzufügen. Angefangen mit mehr Toleranz für andere Sichtweisen, Kulturen und Religionen über mehr Aufgeschlossenheit für Neues bis hin zu dem Mut, das Leben, das uns geschenkt wurde, mit beiden Händen zu packen, statt immer nur den Weg der Sicherheit zu gehen. Eine Sicherheit, die für unsere Eltern und Großeltern verständlicherweise nach den Erschütterungen der beiden Weltkriege das zentrale Lebenselement war. Doch nachdem wir schon so lange in Frieden leben, können wir es heute wagen, all unsere Kontrollmechanismen zu überprüfen, sie Schritt für Schritt loslassen und unsere Grenzen erweitern.

Über den Autor

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arbeitet als Heilpraktikerin für Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Trauerbegleitung in eigener Praxis in Berlin-Charlottenburg. Sie bietet neben Einzelsitzungen auch regelmäßig Trauer-Online-Seminare an. Das nächste beginnt am 2. Dezember 2016 – Einstieg jederzeit möglich.

Kontakt
Tel.: 030-39906558

Blog: www.das-erstetrauerjahr.de
Mehr Infos

2015 erschien ihr Buch „Das erste Trauerjahr“ im Kreuz-Verlag. Nach dem Verlust ihres Partners 2006 hat sie ein Trauertagebuch entwickelt, das Orientierung und Halt in der Trauerzeit geben kann.

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