Shiatsu kennen die meisten Menschen in Deutschland unter dem Begriff Shiatsu-Massage. Doch Shiatsu ist mehr als eine Massagetechnik. Sie ist eine alte Heilkunst aus Japan und eignet sich als Maßnahme zur Gesundheitsfürsorge, als prozessorientierte Begleitung während einer Psychotherapie, zur Unterstützung bei Erkrankungen und als Hilfe in Krisensituationen wie Burnout oder Stress.

Von Andrea Kleinau und Katrin Schröder

Shiatsu existiert seit undenklichen Zeiten als Heilverfahren. Seine Beliebtheit in westlichen Kulturen wächst rasant und hat mehrere Gründe: Shiatsu ist einfach zu lernen, ohne großes theoretisches Wissen anwendbar und es ist sehr angenehm, Shiatsu zu empfangen. Zentrales Element von Shiatsu ist die Berührung. Handauflegen, Berühren, Massieren sind eine instinktive Form des Heilens, die der Mensch schon immer angewandt hat, um nicht nur physische, sondern auch emotionale und energetische Genesung zu bewirken. Es wurden vor dem Zeitpunkt, an dem beispielsweise Steinnadeln zur Lenkung des Energieflusses im Körper genutzt wurden, Punkte und Meridianverläufe gerieben und pressiert.

In der Ausbildung japanischer Ärzte beispielsweise blieb die Beherrschung von Palpations- und Massagetechniken lange Zeit eine Voraussetzung, bevor sie zum Nadeln übergehen durften. Die klinische Forschung im Bereich der therapeutischen Berührung und Massage ist umfangreich. Zu den bedeutenden Forschungsergebnissen über die positive Wirkung therapeutischer Berührung und Massage gehören verbessertes Wachstum (bei Frühgeborenen), verminderte Schmerzen (zum Beispiel Fibromyalgie), verringerte Autoimmunerkrankungen (beispielsweise erhöhte Lungenfunktion bei Asthma und verminderter Glukosespiegel bei Diabetes), verstärkte Immunfunktion (erhöhte natürliche Killer-Zellen bei HIV und Krebs).

Berührung als zentrales Element

Berührung – das zentrale Element von Shiatsu – ist essentiell. Sie gehört bei Babys zu den wichtigsten Elementen bei der Entwicklung des zentralen Nervensystems. Der Tastsinn wird auch als „Mutter der Sinnesorgane“ bezeichnet, weil er sich in der Evolution als erster Sinn entwickelt hat. Rhythmische Berührungsreize führen zu Wohlbefinden und Entspannung, da sie die Ausschüttung des „Kuschelhormons“ Oxytocin bewirken. Dies ließ sich sowohl an Tieren als auch am Menschen zeigen. Jeder kennt das Gefühl des Halts, das uns eine aufgelegte Hand beim Trösten gibt, oder das Gefühl von Liebe und Unterstützung, das wir haben, wenn ein Freund unsere Hand hält. Berührung kann ganz allgemein beruhigen, trösten, Nähe vermitteln und sogar Schmerzen lindern. Sie beeinflusst die körperliche und geistige Entwicklung und zeigt erkennbare Effekte auf die Stoffwechselleistung. Mit gezielter Berührung wird die Wahrnehmungsfähigkeit in einer Weise gesteigert, die dem Organismus zu verbesserter Koordination, Flexibilität und angemessener Reaktion verhilft. Shiatsu-Praktiker mit langjähriger Erfahrung und entsprechenden Kenntnissen tragen dazu bei, dass sich der betroffene Mensch „gehalten“ fühlt, dass jemand da ist, der mit ihm „mitfühlt“ und ihm einen Raum zur Verfügung stellt, in dem er wieder „zu sich kommt“. Sein Energiesystem wird durch Shiatsu unterstützt, wieder in eine Balance zu kommen.

Die Hand im Shiatsu

Berührung im Shiatsu wirkt nicht nur physisch, sondern auf allen Ebenen. Wir nutzen dabei unseren Körper und unsere Hände als Werkzeug. Shiatsu beruht auf dem Prinzip, das eigene Körpergewicht über die Hände in achtsamer und angemessener Weise auf den Partner zu übertragen. Durch den Kontakt wird die Zirkulation der Lebensenergie, des vitalen Ki, aktiviert. Die Hände sind wahrscheinlich die feinsinnigsten Werkzeuge, über die der Mensch verfügt, jedoch nehmen wir ihre Funktion meist als selbstverständlich hin. Shiatsu-Praktiker haben ihre Hände, mit denen sie arbeiten, unter Aufwand von Zeit, Geduld und Selbsterfahrung zu sehr sensiblen Wahrnehmungs- und Behandlungsinstrumenten weiterentwickelt.

Eine besondere innere Haltung ermöglicht es hierbei, fein differenzierte Vibrationsqualitäten am Klienten zu spüren und über die Meridianebene damit zu arbeiten. Noch bevor der erste Berührungskontakt stattfindet, versetzt sich der Shiatsu-Praktiker in einen Zustand der inneren Zentrierung, um sich damit auf die bevorstehende Behandlung einzuschwingen. Meistens werden die Hände dabei wärmer. Das Ki, die Lebenskraft, ist aktiviert. Der Shiatsu-Praktiker beginnt daraufhin mit dem Abtasten des Bauchraums (Hara) und erforscht dann in einer bestimmten Folge den energe tischen Zustand der zwölf Meridianzonen. Danach richtet sich die Behandlung aus. Die Shiatsu-Theorie hilft dabei, die verschiedenen Schwingungserfahrungen in Informationen zu übersetzen, die das Verständnis vom Zustand des Empfängers unterstützen. Es werden so Erkenntnisse über Ursachen von Dysbalancen und Blockaden gewonnen, die auf der körperlichen Ebene oft nicht erkennbar sind.

Shiatsu als Methode

Shiatsu hat seine theoretischen und praktischen Wurzeln in der fernöstlichen Philosophie. Grundsatz der östlichen Medizin ist es, mit der Natur in Einklang zu leben und nicht die Natur unseren Bedürfnissen anzupassen. Um gesund zu bleiben, muss sich der Mensch fortlaufend den sich innerhalb und außerhalb des Körpers vollziehenden Wandlungen anpassen. Ziel ist es, den Menschen darin zu unterstützen, sein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, um so mit den Belastungen des Alltags gelassener umzugehen.

Shiatsu ist eine nichtpharmakologische, achtsamkeitsbasierte Berührungsform und ein meist auf die Leitbahnen (Meridiane) ausgerichtetes Verfahren einer Körper-Einzel-Arbeit. Es ist kein symptombezogenes Verfahren. Die Behandlung organisiert sich überwiegend nach der Hara-Befundung (Fuku-shin) und der Anamnese des Beobachtens, des Hörens, des Nachfragens und Berührens (Bo-shin, Bunshin, Mon-shin, Setsu-shin). Ausgangsbefundung und integraler Bestandteil der Behandlung ist der im Moment der Behandlung vorherrschende energetische Zustand des Menschen. Ein zentrales Element im Shiatsu sind die Meridiane. Wie Arterien, Venen und Nerven durchziehen sie unseren Körper. Sie existieren nicht in materieller Form, sondern sind nur über ihre energetische Funktion wahrnehmbar. Meridiane sind Ausdruck unserer Vitalität und beschreiben unterschiedliche Aspekte unserer Lebenskraft.

Ist diese Lebenskraft blockiert und der Lebensfluss stagniert, versucht der Shiatsu-Praktiker über die Meridiane den Fluss wieder zu befreien. Der Meridian hat im Shiatsu weniger den Charakter einer Linie, sondern beschreibt eher einen Resonanzraum, in dem sich das Ki entfalten darf. Auf den menschlichen Körper bezogen beschreibt der Meridian eine Verbindung aller Bereiche, die gleichzeitig einem Aufgabenkomplex dienen. Jeder Meridian steht für eine spezifische Lebensbewegung, die sich auf verschiedenen Ebenen (physisch, emotional, mental, spirituell) ausdrückt.

Energetische Befundung der Meridiane

Shiatsu-Praktiker richten ihre Wahrnehmung in besonderer Weise darauf, in welcher Intensität und Dauer und an welchen Bereichen des Körpers sie mit der Lebensenergie des anderen Menschen durch bestimmte Techniken in Kontakt treten. Bei der Shiatsu-spezifischen Berührung kommt es auf die unmittelbare Energiewahrnehmung im Moment der Berührung an. Dies gelingt oftmals am besten durch absichtsloses, entspanntes „Hinspüren und -lehnen“. Im Bauchbereich (Hara) hat jeder Meridian einen bestimmten Bereich, an dem man über die Hände seinen aktuellen Energiezustand erfühlt. Dort zeigt sich, welche Meridiane im Ungleichgewicht sind. über eine sehr differenzierte, energetische Befundung findet die Shiatsu-Praktikerin heraus, welche Meridiane aktuell zu behandeln sind und welche Energiequalität sie haben.

Ziel von Shiatsu ist es, die Prozesse von Selbstheilung und persönlichem Wachstum durch die Ausbalancierung der Zirkulation der Lebensenergie Qi im Körper zu fördern. Shiatsu löst Spannungen; damit kann ein Teil der Lebenskraft wieder fließen, der normalerweise in muskulärer Dauerverspannung gebunden ist. Daneben fördert Shiatsu das allgemeine Wohlbefinden, unterstützt und nährt die Lebenskraft. Es ist zu vermuten, dass durch die Stressreduktion bei der Behandlung, ähnlich wie bei der achtsamen Meditation, auch entsprechende Strukturen im Gehirn verändert werden. Shiatsu-Praktiker erhalten über die Berührung und die beschriebene Befundung des Klienten nicht nur Auskunft über dessen physische Disharmonien, sondern auch über dessen Fähigkeiten, den eigenen Körper zu spüren sowie generell annehmen und loslassen zu können.

Diese Themen werden in der Shiatsu-Behandlung über das Gespräch und die Shiatsu-spezifische Berührung aufgegriffen und bearbeitet. Der Erfolg beim Shiatsu resultiert auch daraus, dass die Körperwahrnehmung der Klienten angeregt und sensibilisiert wird. Die vorhandenen Stärken und gesunden Potenziale (Ressourcen) werden gezielt wahrgenommen und kommen dadurch leichter zur Entfaltung. Zudem wird das Vertrauen der Klienten in die Selbst-Regulierungskräfte des eigenen Organismus gestärkt. Der Mensch fühlt wieder Kraft, um sich im Leben besser zurechtzufinden. Das unterstützt ihn auch dabei, Probleme oder Konflikte als Herausforderung zu sehen, notwendige Veränderungen zu akzeptieren und kreative Lösungen für sich zu finden.

Autoren

Dr. Andrea Kleinau führt seit neun Jahren das Europäische Shiatsu Institut Berlin. Ihre Ausbildung zur Shiatsupraktikerin vollzog sie Anfang der 2000er. Sie ist zudem seit zwölf Jahren als Dozentin der Wirtschaftskommunikation tätig und forscht über die Integration von Shiatsu in die deutsche Gesundheitswirtschaft.

 

Katrin Schröder ist Shiatsu-Praktikerin und Shiatsu-Lehrerin und arbeitet in eigener Praxis seit 1997. Unterrichtstätigkeiten europaweit am Europäischen Shiatsu Institut in der Schweiz, Österreich und in Deutschland.

Info und Kontakt über das Europäische Shiatsu Institut Berlin unter Tel.: 030-960 654 82 oder esi-berlin@shiatsu.de

www.shiatsu.de/berlin

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