Introvertiert sein scheint out. Höher, schneller, weiter – in unserer extrovertiert geprägten Gesellschaft findet sich dieses Motto inzwischen selbst in der Spiritualität wieder…

von Anja Mueller

Gerade jetzt in diesen instabilen Zeiten können Introvertierte das Ruder rumreißen und für einen sanften Ausgleich sorgen. Unsere Gesellschaft fußt seit jeher auf einer Höher-schneller-weiter-Mentalität. Verdiene viel Geld, damit du viel konsumieren kannst! Arbeite hart, damit immer mehr Konsummaterial hergestellt werden kann! Bilde dich ständig weiter, gib dein Bestes, verpass nicht die nächste Party, das nächste Event, das nächste Smartphone mit super ultra HD-Kamera …

Puh!

Ist introvertiert sein out?

Glücklicherweise hat unsere Gesellschaft zwei Seiten, würde man denken. Und ja – Themen wie Achtsamkeit, Healthy Living und Spiritualität nehmen inzwischen einen bedeutenden Platz im Alltag der Menschen ein. Mittlerweile praktizieren knapp 2,6 Millionen Deutsche Yoga, Meditations-Apps boomen und spirituelle Lehren wie die von Eckart Tolle verkaufen sich in den Buchhandlungen wunderbar.

Aber Vorsicht – auch hier macht sich der Trend zur Immer-mehr-Gesellschaft bemerkbar. Social Media Plattformen wie Instagram laufen über von Yoga-Accounts, die uns zeigen, wie biegsam man sein kann, und uns dabei das angesagteste Yoga-Outfit präsentieren. Mit Achtsamkeit hat das wenig zu tun, vielmehr macht es ein schlechtes Gewissen, wenn man selbst nur einmal die Woche in Schlabberhose eine Yogasequenz ausübt.

Höher, schneller, weiter in der spirituellen Szene – was ist da passiert?

Der ursprüngliche Sinn und Zweck von Achtsamkeit, Meditation und spirituellen Körperpraktiken ist es, zu ent-schleunigen und sich zu ent-stressen. Stattdessen gerät man heutzutage regelrecht in Stress, wenn man nicht dazu kommt, die morgendliche Journaling-Routine auszuführen oder seine Atemübungen vergisst. Das karikiert geradezu den eigentlichen Zweck

Woran liegt das eigentlich? Wieso wurde Spiritualität zum Be- statt Entschleuniger? Weil es ein Trend wurde. Weil sich immer mehr Menschen dafür interessieren. Trends lassen sich wunderbar vermarkten, damit lässt sich die Wirtschaft ankurbeln, Geld machen. Und wir Menschen leben schon so lange in dieser wirtschaftsbasierten Gesellschaft, dass wir darauf anspringen und gar nicht merken, wie wir selbst Yoga, Meditation und Co. zum Stressfaktor werden lassen.

Unsere Gesellschaft ist extrovertiert geprägt

Extrovertierte Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich auf die Welt mit ihren äußeren Reizen fokussieren und ihre Energie aus der externen Stimulation ziehen. Introvertierte hingegen sind zuerst auf ihr Innenleben gerichtet und benötigen weitaus weniger Stimulation von außen. Ihre Energie ziehen sie aus dem Rückzug (Unterscheidung basierend auf C. G. Jung).

Ein Blick in unseren Alltag zeigt direkt, wie extrovertiert ausgerichtet unsere Gesellschaft ist – überall steht externe Stimulation an erster Stelle. Die Werbung suggeriert uns, wir sollen kaufen und konsumieren und fühlen uns dadurch schnell besser. In den Großstädten reiht sich eine Bar an den nächsten Club, Cafés zum sozialen Austausch und Läden zum Shoppen sind immer für einen Besuch geöffnet.

Introvertiert sein sorgt für Entschleunigung

Ohne Frage – Einrichtungen für den kommunikativen Austausch sind wichtig und diesbezüglich stellen Extrovertierte eine wichtige Vorbildfunktion dar! Nur haben wir es in der letzten Zeit mit dem Konsumwahn und der Immer-mehr-Mentalität deutlich übertrieben. Wie in so vielen Aspekten unseres Lebens ist auch hier Balance das richtige Stichwort. Und für diese Balance können Introvertierte mit gutem Beispiel vorangehen.

In einer Zeit, in der Corona uns zwingt – ob wir wollen oder nicht – unsere sozialen und konsumorientierten Aktivitäten runterzufahren, ist es wichtiger denn je, den wirklichen Nutzen von Entschleunigung und echter Achtsamkeit wiederzuentdecken. Introvertiert sein bedeutet, Mitmenschen dazu inspirieren, einen Gang runterzuschalten, indem sie ihre Fähigkeiten voll einsetzen.

Introvertiert sein ist in

Einfach mal Nichtstun – Introvertierte wissen wie das geht und bringen somit die idealen Voraussetzungen für Achtsamkeits- und Meditationsübungen mit. Wer Zeit mit einem Intro verbringt, fühlt sich automatisch ruhiger. Viele stille Menschen verfügen über diese entspannte Ausstrahlung, die auch auf Extros übergreift. Wer weniger redet, ist in den seltensten Fällen unsozial – sondern folgt einfach nur seinem natürlichen Charakter. Das eher stille Auftreten wird durch eine hervorragende Beobachtungsgabe kompensiert.

Viele Introvertierte können deswegen akkurate Vorhersagen treffen oder zwischenmenschliche Nuancen im Gespräch entdecken, die sonst niemandem auffallen. Da zurückhaltende Menschen weniger Stimulation von außen benötigen, konsumieren sie ganz automatisch weniger. Weniger Konsum ist bekanntermaßen gut für die Umwelt und fördert einen achtsamen Umgang mit unseren Ressourcen.
Introvertierte pflegen oftmals weniger Freundschaften, dafür sind diese jedoch besonders intensiv. Wer gut mit einem Intro befreundet ist, kann auf eine tiefgehende Beziehung vertrauen.

Viele zurückhaltende Personen sind gleichzeitig auch Empathen: Diesen wiederum wird nachgesagt, dass sie mit der Aufgabe (seelisch) zu Heilen auf unsere Welt gekommen sind. Das passiert i.d.R. ganz von selbst durch ihre reine Präsenz und ihr großes Mitgefühl.

Diese kleine Liste soll als Inspiration dienen – für Introvertierte, die nach Selbstbestätigung suchen, und für Extrovertierte, die offen für einen anderen Blick auf die Welt sind. Es geht dabei keinesfalls darum, aus einem extrovertierten Charakter einen introvertierten zu machen – das wäre auch gar nicht möglich und würde die Kräfteverteilung nur umkehren, aber keine Balance herstellen. Doch genau wie Introvertierte auch soziale Wesen sind – nur eben nicht rund um die Uhr – tut Rückzug Extrovertierten ebenso gut – nur eben sporadischer.

Wenn beide Persönlichkeitstypen diesbezüglich ihr volles Potential entfalten und sich auf ihre Stärken und Bedürfnisse fokussieren, statt blind einem gesellschaftlichen Trend hinterherzulaufen, können wir schon viel bewirken.

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