Pilgern nach Santiago im Ballengang 29. Juli 2017 Persönliches Wachstum Kennst du das? Schmerzen melden sich schon seit längerem im Körper, irgendwas läuft falsch! Die Suche nach Linderung beginnt: Der Osteopath soll’s richten, die Physiotherapeutin möge die Verspannungen fortmassieren, die Schuheinlage den Schmerz wegpolstern … Doch was ist mit meiner eigenen Verantwortung für Beweglichkeit? Was wäre, wenn die Auswirkung meiner Gangart meine Gesundheit massiv beeinflusst, so weit, dass ich mich wieder schmerzfrei bewegen könnte? Und was hat das alles nun mit Pilgern im Ballengang zu tun? Von Sabine Schumacher Monate, bevor ich mich mit meinen handgefertigten Barfußsandalen Richtung portugiesischen Pilgerweg nach Santiago de Compostela aufmachte, wurden schon einige Wetten darüber abgeschlossen, ob ich überhaupt dort ankommen würde. Dass es dazu kommen konnte, hat seinen Ursprung rund zehn Jahre zurück. Meine Forschungsreise begann 2007 mit schmerzhaften Gelenkentzündungen. Durch den Leistungssport waren meine Knie ständig angeschwollen und meine Außenbänder so geschwächt, dass ich mehrmals die Woche umknickte. Da ich Bewegung und Sport über alles liebe, musste eine einfache Lösung her. Aus eigenem Antrieb und komplett ohne Lehrer oder Vorwissen entdeckte ich für mich damals den Ballengang – genau genommen beobachtete ich kleine Kinder, wie sie sich tänzelnd in kleinen Trippelschrittchen auf dem Vorfuß fortbewegten, und begann sie zu imitieren. So kam ich über viele Jahre des Forschens und Ausprobierens zur Erkenntnis, dass der Ballengang für mich – und mittlerweile schon für viele andere – die natürlichste Gangart ist. Seitdem behandele ich in meiner Praxis viele Menschen mit Fuß- und Rückenproblemen. Seit fünf Jahren werden unter meiner Anleitung – nach einer ausführlichen Gang- und Bewegungsberatung – spezielle Sandalen für Menschen angefertigt, die sich entschieden haben, den Weg zurück zur natürlichen Bewegung und zum Ballengang zu finden. Sie berichten von gesundheitlichen Verbesserungen und positiven Wirkungen, sowohl auf der körperlichen als auch der seelischen Ebene. Pilgern blasenlos Im Januar 2017 entschied ich mich, 400 Kilometer auf dem portugiesischen Pilgerweg nach Santiago de Compostela auf meinen Sandalen und – wenn der Weg es zulässt – komplett barfuß zu wandern. Ich wollte erforschen, ob sich der Ballengang auf längeren Strecken – auch auf Asphalt – bewährt. Im Mai 2017 startete ich an der Kathedrale in Porto auf meinen „Tarasoles-Sandalen“, die ich mir aus einem anschmiegsamen Material aus recycelten Walnussschalen und einer flexiblen Kautschuksohle anfertigte. Ein weicher Schnürsenkel befestigte diese fußbettfreie Sohle komfortabel an meinen Füßen. Der aufkommende Regen tat meiner Abenteuerlust keinen Abbruch. Ich ließ die Stadt hinter mir und folgte dem Jakobsweg entlang der rauen Küste. Holzbohlen bis zum Horizont pflasterten meinen Weg. Trotz des immer gleichen Untergrunds fühlten sich meine Füße auf den Sandalen wohl und ich genoss den Regen und das Meer. Durchnässt träumte ich dann doch irgendwann von einem warmen Getränk und fand bald in einer netten Bar in einem bezaubernden Fischerdörfchen einen trockenen Platz. Die Menschen in Portugal sind extrem freundlich und herzoffen! Sogleich wurde ich liebevoll mit „Empanadas“ (frisch gefüllten Teigtaschen) von einem sehr alten Ehepaar versorgt, das sich neugierig neben mich setzte und munter ein Gespräch mit mir begann. „Warum wanderst du barfuß – tun da die Füße nicht weh?“ Diese Frage begleitete mich immer wieder – und tatsächlich gab es Mitpilger, die bezweifelten, dass ich es bis nach Santiago ohne festes Schuhwerk schaffen würde. Den ersten Abend verbrachte ich auf einem Campingplatz, der für Pilger ausgestattet war. Nach einem reichhaltigen gemeinsamen Mahl wurden unzählige Blasenpflaster herumgereicht und Diskussionen über richtiges und falsches Schuhwerk geführt. Die meisten Pilger kamen zu der Erkenntnis, dass möglicherweise harte Wanderstiefel die Ursache ihrer Leiden waren. Während ich meine blasenfreien Füße betrachtete, wunderte es mich, dass es meinen Mitpilgern überhaupt möglich ist, auf einer verwundeten Fußsohle noch einen Schritt weiterzugehen. Simples Da-Sein Am nächsten Morgen ging ich weiter an der Küste entlang. Malerische Fischerdörfer wechselten sich auf den nächsten Tagesetappen mit traumhaften Eukalyptuswäldern ab. Zwischendrin lief ich zu meinem Leidwesen auch viele Kilometer an größeren Asphaltstraßen entlang. Ich trug die meiste Zeit meine Sandalen, und wenn meine Füße müde waren, verweilte ich. Immer mehr fand ich zu meinem eigenen stimmigen Laufrhythmus zurück. Das kilometerlange Pilgern versetze mich innerlich oft in einen ruhigen und glücklichen Zustand. Ich erlebte, wie mein denkender Verstand mir immer öfter Pausen schenkte, in denen dann einfach die Wahrnehmung und meine Gefühle in den Vordergrund traten. Je mehr ich mich auf meine Füße besann und vollständig die Bewegung erlebte, desto mehr fiel ich „wie nach innen“. In diesen magischen Momenten erlebte ich die Wälder, die Gerüche, die Hitze, den Regen wie ein unschuldiges Kind und erfreute mich am simplen Da-Sein. Portugal ist im Frühling ein intensives Sinneserlebnis, alles blüht und wuchert. An einem weiteren verregneten Morgen lief ich komplett barfuß durch tiefe Pfützen. Den Duft des Waldes nahm ich mit jeder Pore auf und fiel wieder in das Gefühl der Gegenwärtigkeit und Freude. Am liebsten pilgerte ich allein. Ich vermied tagsüber bewusst das Grübeln und das viele Sprechen mit anderen. Abends in den Herbergen sprach ich mit Pilgern über die Erlebnisse des Tages. Wir diskutierten viel über Füße und Verschiedenheiten der Gangarten. Um den unbewussten Vorgang des Gehens besser zu verstehen, ist es sinnvoll, andere Menschen dabei zu beobachten. Wie ist dabei die Haltung des ganzen Körpers, wie setzen die Füße auf, ist der Gang steif, geschmeidig oder abgehackt? Wirkt der Mensch entspannt oder eher, als habe er einen Stock verschluckt? Was fällt auf bei den Schultern, dem Kopf und der Hüfte? Da ich über die vordere Zone des Fußes – den weichen Ballen – zuerst aufsetze, nutze ich die körpereigene Dämpfung. Ich vermeide ganz bewusst das harte Abrollen über die Ferse. Den Unterschied von Fersen- und Ballengang kann man hören, wenn man sich die Finger beim Gehen in die Ohren steckt. Die Erschütterung des „Fersenstoßes“ verursacht ein lautes „Tock-Tock-Tock“ – das sind zirka 50 Kilogramm pro Schritt, die Gelenke, Wirbelsäule und Schädelknochen belasten. Viele Mitpilger berichteten mir von Knie- und Rückenschmerzen. Oft erklärte ich kurz den Ballengang: „Visualisiere ein Band, das deinen Kopf nach oben zieht, lass die Schultern locker und entspanne deinen Bauch. Hebe ein Bein und lasse den Fuß locker hängen. Ein weiteres Band zieht jetzt vom Herzen nach vorn in die Laufrichtung. Tiefes Zur-Ruhe-Kommen Der Ballengang ist ein „Drei-Phasen- Schritt“: Zuerst setzt die Außenseite des kleinen Zehenballen und danach erst die Innenseite des Ballens auf den Boden auf, zuallerletzt die Ferse. So kann sich die Achillessehne optimal ausdehnen und auch das Fußgewölbe wird gestärkt. Der Ballengang beschränkt sich nicht auf die Füße. Erst die aufrechte Körperstatik mit entspanntem Bauch ist der Schlüssel zum Vorfußgehen. Der Impuls des Voranschreitens kommt dabei aus der lockeren Hüftbewegung. Aus diesem Grund bevorzugte ich ein minimalistisches Tragesystem an meinem Rucksack mit zirka sechs bis sieben Kilo Inhalt. Es war unglaublich erleichternd zu erleben, wie wenig ich zum Pilgern benötigte. Zum Waschen von Körper, Kleidung und Haaren genügt ein biologisch abbaubares Stück Pflanzenseife. Fast jeden Abend wusch ich mein Standard-Outfit, da ich mich nicht mit vielem belasten wollte. Das wasserfeste Regencape diente mir besser als eine durchnässte Regenjacke. In den letzten Tagen entschied ich mich für eine alternative Wegvariante, den „Camino Espiritual“. Diese Strecke wurde die berührendste und magischste Etappe meines Weges. Es wurde zu meiner Freude etwas bergiger. Unterkunft fand ich in einem Zisterzienserkloster. Morgens weckten mich die Nonnen mit einem wunderschönen Gesang und segneten mich für den Weg. Ihre Gastfreundlichkeit rührte mich zu Tränen. Der Weg verlief weiter durch moosgrüne Wälder und entlang eines reißenden Flusses. Ich passierte kleine und große Wasserfälle, die mich mit ihren Farben und Klängen durchdrangen. Besonders beim Barfußpilgern vertiefte sich mein inneres Erleben des Eins-Seins. Wenn der Ballen zuerst sanft auf die Erde aufsetzte, überkam mich eine kindliche Freude und Begeisterung am Leben. Die Ferse kommt bei mir erst zum Schluss zum Boden, was ich als ein tiefes Zur-Ruhe-Kommen erlebte. Der Ballen setzt auf – „ich fühle“, „danach die Ferse – „ich ruhe“. Konflikt Denken und Fühlen Am Ende des Weges, in einem Einzelgespräch mit einer weisen Nonne, berichtete ich ihr davon. „Viele machen die Erfahrung des Weges, doch die meisten verpassen dessen Bedeutung“, sagte die Nonne. Ich erzählte ihr freudig von meinen Barfußerfahrungen und dass ich tatsächlich bis zum Ende des Weges blasen- und schmerzfrei geblieben bin. Dass ich genau in mich hineinspürte, wenn die Etappe für mich zu lang wurde, dann lieber ausruhte oder in eine Herberge einkehrte. Der Arzt Dr. Peter Greb erforscht seit über 40 Jahren den Ballengang und benannte seine Erkenntnis international verständlich als „GODO“ („Gehe deinen Weg“). „GODO“ bedeutet im Italienischen auch „ich genieße“ (von „godere“). Dr. Greb beschrieb den Vorgang des Ballen-Gehens als eine Entscheidung, sich tiefer und bewusster aufs Fühlen einzulassen. Die Ferse ist übrigens in der Fußreflexzonentherapie die Zone der Geschlechtsorgane. Der Ballen entspricht dem Areal des Herzens und der Lungen. Entsprechend werden beim Gehen diese Organe massiert und aktiviert. Der Ballengang ist keine Methode, sondern eine Rück-Erinnerung an unser natürliches Bewegungsmuster, das wir von Kindesbeinen an praktizierten. Dadurch kann der Organismus selbst in eine Balance zurückfinden. „Ballengang-Coach“ ist für mich der Beruf der Zukunft. Das Erleben beim Gehen steht dabei im Vordergrund und begünstigt die Wahrnehmung und die Achtsamkeit im Alltag. Immer mehr Menschen klagen heute über Haltungsschäden, Fußbeschwerden, Schmerzen, psychische Probleme, für die der Ballengang einen neuen Weg aufzeigen kann. In den letzten Jahren kommen vermehrt Ärzte und Orthopäden zu unseren Seminaren. Mehr und mehr beginnen die Menschen das materialistisch geprägte Weltbild der Schulmedizin und Orthopädie zu hinterfragen. Der Ballengang beinhaltet die vollständige innere und äußere Aufrichtung des Menschen. Wichtig dabei ist, dass der Fuß in der Bewegung loslässt und dadurch der Vorfuß zuerst aufsetzt. Endlich kann der gesamte Organismus loslassen. Der Fersengang zwingt uns durch die gebeugte, angespannte Haltung schmerzhaft ins Hohlkreuz. Schmerzen, Verkrampfungen bis hin zu Depressionen können begünstigt werden. Wir sehnen uns alle nach Fühlen und Einheit. Der Fersengänger bleibt jedoch im unbewussten Widerspruch des „Ich will – Ich will nicht fühlen“. Wir können uns fragen: Wie berühren wir den Boden, wie stehen wir zur Erde? Hand aufs Herz: Der Konflikt „Denken und Fühlen“ ist momentan eines der zentralen Themen auf diesem Planeten. Wir ersehnen den „Fort-Schritt“ und suchen nach neuen Wegen miteinander, verbleiben aber gleichzeitig in der Körperstatik des „Ich will (dich) gar nicht fühlen“. Zur Selbsterforschung eine Übung: Gehe auf einen lieben Menschen im Fersengang zu und gib ihm die Hand. Dann setze mit dem Ballen zuerst auf den Boden auf und schreite auf einen lieben Menschen zu. Was erlebst du, wie fühlst du dich dabei? Hast du schon einmal deine Liebste, deinen Liebsten auf dem Hacken stehend geküsst? Viel Spaß beim Ausprobieren! Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. 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