Vier Tage und Nächte allein in der Natur, fastend, ohne Zelt und Campingkomfort. Nur eine Plane, ein Schlafsack und paar Kanister mit Trinkwasser. Eine Erfahrung, die uns mit unseren tiefsten Ängsten und Sehnsüchten konfrontiert. Ob in Kalifornien, Italien, im Chiemgau oder auf der schwäbischen Alp – Visionssuche ist immer eine Reise zu uns selbst.

Wer sich auf dieses Abenteuer einlässt, hat gute Gründe und die Absicht, der Wildnis zu begegnen. Der Wildheit der Natur, vor allem aber der im eigenen Inneren. Dieser Ursprünglichkeit tief in uns, die die Quelle unerschöpflicher Kraft ist; die Instinkt, natürliche Weisheit ist, tief verwurzelt in der Erde, verbunden mit allem, was lebt. Hier münden alle Fragen des Lebens in die Quelle aller Antworten.

 

Um Antworten zu finden auf die tiefen Fragen des Seins, machen sich die Menschen seit Jahrtausenden auf die Suche. Ihre Abenteuer auf der Reise zu sich selbst sind in Mythen, Märchen und Legenden überliefert. Der Grundstoff solcher Heldenreisen findet sich in jeder Kultur und Tradition rund um den Erdball.

 

Die Angst suchen, um Mut und Kraft zu finden.
Sich Entbehrung aussetzen, um Reichtum zu entdecken.
Den eigenen Drachen begegnen, um die Schätze die sie hüten, zu erringen.

Einen symbolischen Tod sterben

Das Prinzip ist bis heute das Gleiche, ob wir wie Odin neun Tage und Nächte an der Weltenesche Yggdrasil verbringen oder wie Jesus 40 Tage fastend in der Wüste: Der Rückzug aus der Gemeinschaft und aus den Sicherheit versprechenden Gewohnheiten ins Allein sein ist der erste Schritt.
Der Verzicht auf Gesellschaft, Nahrung und das schützende Dach über dem Kopf hält die Zeit an, hebt unsere kleine Welt schnell aus den Angeln. Die Kraft wird spürbar, alles zurückzulassen und zu geben, um alles zu bekommen. Einen symbolischen Tod zu sterben, um das Leben ganz zu umarmen.

Kompetente Begleitung ist essentiell bei dem, was so einfach klingt. Es braucht jemanden, der diesen Weg vor uns gegangen ist. Jemanden, der hilft, gut vorbereitet in dieses Abenteuer zu gehen. Eine, die uns zur Schwelle, bis an die Grenze begleitet. Die bezeugt, dass wir den Schritt hinüber tun, uns mit Gebeten unterstützt und Wache hält. Jemanden, der uns empfängt, wenn wir von der Schwelle zurückkehren und uns beim Verstehen und Integrieren hilft.

 

Die Zeit der Suche

Drei intensive Tage lang werden die Visionssucher auf die Zeit draußen vorbereitet. Praktische Übungen helfen, das gewohnte Leben hinter sich zu lassen, die Wahrnehmung zu schärfen und sich dem Wald und der Natur zu nähern. Die Erprobung traditioneller und selbstgestalteter Zeremonien hilft, mit inneren Herausforderungen wie Angst, Zweifel oder Langeweile umzugehen und Seelenballast abzuwerfen. Auf einer Wanderung findet jeder seinen Kraftplatz für die Zeit der Quest und bringt sein Trinkwasser dort hin. In einem persönlichen Gespräch wird die Absicht jedes Visionssuchers geklärt. „Wofür wirst du 4 Tage und Nächte hinausgehen?“

 

Schwellenzeit

Dort draußen findet sich nichts, was ablenkt, kein Handy, kein Fernseher oder Pausensnack. Niemand, der Verfügbarkeit rund um die Uhr erwartet. Die Sinne schärfen und verfeinern sich.

Entschleunigung

 

Schatten zeichnen Muster. Ameisen und Mücken sind noch lästig. Sonne wärmt den Körper, erhitzt den Waldboden, lässt würzige Düfte aufsteigen. Ein Baum zum anlehnen und als Schattenspender.
Etwas, jemand macht Höllenlärm, ganz nah, Adrenalin… Herztrommel… fliehen oder einen Stock finden und den Mut sich zu verteidigen… eine Maus sieht einen Menschen, der beginnt, sich an seine Natur zu erinnern. „Viel Glück, großer Bruder“.
Wind bringt Kühlung und Wolkenbilder. Die Dämmerung hilft Schleier zu entfernen, den Blick freizugeben auf Baumgestalten, Sternenlichter. Die Nacht hüllt samten ein, birgt andere Geheimnisse als der Tag, macht staunen, nicht Gegnerin ist sie, sondern Verbündete. Langsam die Natur lesen lernen, sich in ihrem Spiegel erkennen.
Langeweile und das Hungergefühl im Bauch verblassen, so viel ist aufzunehmen und zu verdauen, so vieles loszulassen, damit Neues Platz findet und gelebt sein kann. Ständiger Wandel.
Mäuse werden zu Lehrern. Lehrer werden von Schlangen gefressen. Leben und Tod sind nah beieinander. Das Vertraute geht und macht dem Unbekannten Platz. Neuland. Freiheit. Geschmeidig sich vom Kleinen zum Großen bewegen. Sich häuten. Eine Schlangenhaut, ein gewundener Stock als Zeichen und Erinnerung.

 

Rückkehr in Etappen

Der Körper geschwächt, die Seele voller Energie und Leuchten, es ist Zeit, diesen Kraftplatz zu verlassen. Das Geschaute will in die Welt, ins Leben getragen werden, bewahrt und verschenkt. Zurück von der Schwelle begegnen sich strahlende Augen. Die Begleiter werden zu Geburtshelfern in einen neuen Lebensabschnitt.
Jetzt gilt es sanft und achtsam zu sein. Behutsam das Fasten zu brechen. Die Enthaltsamkeit von Nahrung, Gesprächen und Kontakt mit Menschen schrittweise aufzugeben. Eine Umarmung vermittelt die Gewissheit willkommen zu sein, zurück in der Gemeinschaft, gewürdigt und geachtet für das Vollbrachte. Sie ruft in Erinnerung, dass jeder Tag allein da draußen auch ein Tag für die anderen war. Das erste Essen, duschen, frische Kleidung anziehen, jede alltägliche Handlung wird, zumindest eine Zeit lang, zu etwas ganz Besonderem.

Dann ist es Zeit, die aus dem Alleinsein mitgebrachten Geschichten zu teilen. Die Begleiter, helfen, das Erlebte ganz in die Wirklichkeit zu holen und im Hier und Jetzt zu verankern. Ihre spiegelnde Antwort ist Wertschätzung und Würdigung und hilft, die gefundenen Zeichen und Antworten zu deuten.
Die restliche Nachbereitungszeit ist dem Feiern und der Integration des Erlebten gewidmet. Jeder wird unterstützt, eigene Wege zu beschreiten, die gefundene Größe zu bewahren, auch wenn das Haus und die Umgebung, in die man nun zurückkehrt, im ersten Moment viel zu klein scheinen.

Über den Autor

Avatar of Sylvia Wollwert

Sylvia Wollwert leitet Visionssuchen und andere Naturseminare für Erwachsene und Jugendliche seit 1994. Natur- und Wildnistherapeutische Ausbildung u.a. in den U.S.A., durch die Bear Tribe Medicine Society (Sun Bear) und durch Dr. Steven Foster und Meredith Little, (Gründer der School of Lost Borders, Kalifornien). Mitglied von Lost Borders International. Ausbildung zur systemischen Familientherapeutin. Geschäftsführerin und Initiatorin von healing nature e.V. Der aus einer Vision entstandene Verein healing nature hat es sich zur Aufgabe gemacht, Übergangsriten wie die Visionssuche Jugendlichen, Erwachsenen und älteren Menschen wieder zugänglich zu machen, um wichtige Abschnitte im Leben markieren und Krisen bewältigen zu können. Kraftvolle und heilsame Zeremonien und Rituale, wie die Arbeit mit dem Medizinrad und der Schwitzhütte sind dabei wichtiger Bestandteil, vor allem aber die Erkenntnis, dass die Natur die beste Lehrerin und Therapeutin für uns Menschen sein kann.

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