Brief eines Lehrers an eine Schülerin

von Benares

Es wollte ein Vogel Dir ein Lied singen, doch Du mochtest sein Vogelsein nicht. Dabei kam er extra aus seiner sicheren Heimat, dem Herzen, zu Dir geflogen. Er setzte sich für Dich mutig der Welt aus, welche so viele Gefahren für ihn barg.

Aber: Mochte sein Lied noch so süss, so zart, so flehend sein; mochte der Gesang des Vogels noch so verletzlich, so geschlagen vom Leben, da fern der Heimat, welche er für Dich verlassen hatte; mochte sein Trällern noch so traurig, so klagend und erweichend klingen, und von seiner Heimat, dem Herzen, Deinem Herzen, erzählen, um Dich zu erreichen: Sein Vogelsein war für Dich nicht annehmbar.

Doch der Vogel sang und sang, und er gab alles, um Dir zu gefallen. Ja, zugegeben, von aussen gesehen war er nicht mehr der Adretteste. Sein Gefieder war da und dort, mehr oder weniger, vom Leben gezeichnet. Am Schwanz war eine Feder gebrochen, und das Gefieder auf seiner Brust war nicht mehr amselschwarz, sonder eher mausgrau. Das eine Auge des lieben Gesellen war bereits ein bisschen matt, einerseits von den vielen unschönen Dingen die er in seinem langen Leben gesehen hatte. Andererseits hatte der Vogel hier und dort, bei seinen Kämpfen mit anderen Artgenossen, auch schon mal einen Schnabelhieb einstecken müssen, der nicht selten ins Auge ging.

Eine Kralle seines rechten Füsschens fehlte ganz. Er hatte sie auf der Flucht vor einem Deiner wütenden Ausbrüche verloren, in dem er nicht schnell genug das Weite fand und die zugeschlagene Tür, wenn auch, Gott sei dank, nicht sein ganzes Bein, jedoch noch einen Zeh einquetschte. Deine Wut war so gross, das er sich seinen eigenen Zeh an der Türe ausriss, um grad so davon zu kommen und nicht noch, durch einen garstigen Tritt mit einem Fuss deinerseits nach ihm, ums Leben zu kommen. Als wäre er ein Fuss- oder Federball, ein Fussabtreter oder einfach nur dazu da, um zu sterben, weil die blinde Wut eines Menschen und dessen aufgekochten Gefühle danach verlangten.

Sein Gesang war aber auch danach wie eh und je: voll Leidenschaft und Anmut, voll Gefühl und Inbrunst. Und gerade dann, wenn das Leben für Dich sehr anspruchsvoll oder gar unannehmbar war, wollte er sich in Dein Herz singen, in Deine Himmel fliegen, über Deinen Horizont hinaus seinen Gesang verbreiten.

Doch: Du mochtest seine Anwesenheit nicht.

Nicht, dass der Gesang Dir nicht gefiele, nein, darum ging es nicht: sein Gesang war geradezu erschreckend perfekt, auch wenn Du die, sehr seltenen, Misstöne aus seinem Gesang eher heraus hörtest als die mehrheitlich perfekten Noten. Aber dies lag wohl daran, das Du ihn einfach nicht mochtest, ja meist sogar als Zumutung empfandest.

Es war sein Vogelsein, sein Sosein, sein Wesen, das Dir einfach nicht passte, ja, welches Du oft auch völlig abgelehnt hast: Er war Dir zu direkt, zu nah, zu aufsässig. Er hat Dich ständig an etwas erinnert….. Du weisst bis heute einfach nicht, an was, obwohl eine Ahnung, die schon lange in Dir schwelt, ab und an wie ein Schreck durch Dich fährt, Du aber dann im gleichen Moment wieder eine Türe schlägst, oder/und einen nahestehenden Menschen kränkst.

Es war also sein Vogelsein. Er hatte Dich mit seiner Art und seiner Bestimmung, dem Herzen zu dienen, zu sehr konfrontiert: zum Beispiel, wenn er traurig seinen Kopf unter sein Gefieder steckte und nur noch Laute von sich gab, die voll Klage und Trauer waren. Wenn es den Anschein hatte, das er nach Streicheleinheiten von Dir verlangte, welche Du nicht zu geben gewillt warst/bist. Denn wo kämen wir denn hin, jetzt auch noch Vögel zu trösten, wo die Welt und die Zeit, wo das Ich und das Du, der Intellekt und Deine mühsam zurechtgeschusterten Konzepte über das Leben doch nach etwas wichtigerem verlangen, als das vermilbte Gefieder von hässlichen Vögeln zu streicheln.

Früher (diese Erinnerung liegt schon lange und tief als perlmuttschimmernder Schatz in fest verschlossenen Muschelschalen der Angst auf dem Meeresboden Deiner Lebensjahre), ja früher als kleines Kind, als Dich die Gesetze der Welt, des Verstandes noch nicht beeindrucken konnten; als es Dein Wesen noch nicht nötig hatte, sich um Meinungen, Konzepte, Lügen, Schuldzuweisungen, Bevorteilung, Eifersucht, Sex, Vergleiche, Rechthaberei oder um meins oder Deins, ja nicht ein mal um einzelne Gefühle zu scheren, und schon gar nicht um die Äusserlichkeiten und Eigenschaften, Eigenheiten, ja sogar nicht einmal um Gut oder Böse, Schön oder Hässlich zu kümmern; ja, damals, als Dein Wesen noch vom Moment direkt gestillt wurde, von der Mutter aller Dinge: ja, da hast Du dem Gesang des Vogels gerne gelauscht. Er war Dein einziger und innigster Freund. Du hast in jeder Minute gestaunt über die Einladung der Stille, welche sein Singen Dir noch erweiterte, vertiefte, ja, welches Dir zeigte, das Du Dich trotz als ein in diese Erscheinungswelt geborenes Wesen, im Paradies befindest. Und sein Lied sang von der Freiheit, vom Friede, von der Allgegenwärtigkeit des Einen, der absoluten Einheit. Und Dir war gewisser als alles andere, das der Vogel die Wahrheit verkündete und nichts anderes wichtiger war, als ihm zu trauen, als ihn zu lieben wie Dein eigenes Sein. Ja zeitweilen war es gerade so, das es keine Trennung zwischen Dir und dem Vogel zu geben schien. Er war Dein eigenes Sein.

Aber es kam, wie es fast immer kommt, wenn Menschen im Spiel sind, wenn Köpfe sich einmischen, wenn Angst die Welt beherrscht: Die Menschen um Dich herum mochten Deinen Vogel nicht, denn ihr eigener Vogel wurde bereits auch von ebensolchen Menschen, ja von der allgemeinen Gesellschaft, vertrieben, davongejagt, verstossen.

Jedoch zu singen aufgehört hat er nie, dies konnte ihm kein Mensch je austreiben, denn es war seine Bestimmung, zu singen. Und der Vogel gab immer sein Bestes. Und das nächste Lied, das er mit Innbrunst sang, schien immer noch inniger, noch hingebungsvoller als das vorhergegangene.

Doch die Welt will keine Vögel, die von wirklicher Freiheit singen, die das Paradies auf Erden besingen und ihre Lieder davon erzählen, das es Dein Paradies ist. Der Mensch mag die wirkliche Freiheit nicht. Er möchte Geschichten von Freiheit hören, um davon träumen zu können. Um darüber Bücher schreiben und über Freiheit zu philosophieren. Der Mensch möchte gesagt bekommen, was er zu tun hat: egal, ob von anderen Menschen oder von seinem eigenen Verstand. Wirkliche Freiheit ginge zu weit. Wirkliche Freiheit wäre zu vogelhaft.

Und so hast Du gelernt, auch selbst diesen Vogel nicht mehr zu mögen. Er wurde lästig, da er von etwas anderem sprach, sang, als die Menschen, denen Du begegnetest. Du hast gelernt, weg zu schauen von der Wahrheit, hast die Ohren verschlossen vor den Liedern, den Blick abgewendet von allem, was Dich erinnert hat. Und anstelle der Lieder hörtest Du nun dem Geschwätz in Deinem Kopf zu. Und Du hast gelernt, weg zu schauen wenn es galt, abgeklärt und vernünftig zu sein oder Dich angepasst und regelgerecht zu verhalten, um zu Deinem Vorteil, zu Deinem Willen und Wollen, ja: zu Deinem Ziel zu gelangen, was, und das war nicht selten sehr ersichtlich, nicht das Herz, sondern das Ego war.

Später, viele Jahre später einmal, ganz überraschend (der Vogel war schon lange vergessen, Deine Ohren, so dachtest Du, gut genug für seine Lieder verschlossen), vernahmst Du wieder ein Lied, ein Liebeslied, ein Lied wie für ein grosses Fest gemacht. Zuerst wusstest Du nicht, wie Dir geschah bis Du erkanntest: Es war der Vogel, der zu Dir sang. So etwas schönes, erhabenes, erfüllendes hattest Du seit jener Zeit im Paradies des Kindseins nie mehr gehört. Doch es verschwand sehr schnell wieder, es sollte lediglich eine Einladung sein, Dich wieder auf Deinen Ursprung zu besinnen.

Stattdessen aber wollte es Dein Verstand besitzen, als Machtinstrument gegen die Angst, als schönes Kleid seiner Arroganz, als Verkleidung für den Maskenball der Verlorenen.

In Wahrheit hattest Du nur Angst, das es Dir wieder genommen würde! Und so suchtest Du stundenlang nach dem Vogel, fandest ihn auch und sperrtest ihn panisch in einen Käfig. Du gabst ihm Wasser und Brotkrumen, mehr hattest Du nicht zu geben für so einen, Deiner Ansicht nach, hässlichen Vogel. Aber nützlich konnte er sein. Jetzt, so Deine Annahme, konntest Du endlich mit Hilfe Deines Verstandes dieses Lied konservieren, um es zu Deinem Werkzeug zu machen, um die Macht über die Liebe, die Macht gar über das ganze Universum zu besitzen, Gottgleich zu sein, ihm ebenbürtig zu sein und im besten Falle ihn sogar eines Tages als den König allen Seins abzulösen, um selbst die Herrscherin des Universums zu sein. Du wolltest also den Vogel trainieren, damit er genau dieses Lied, welches Dich wieder erinnert hat, immer wieder für Dich sänge. Verloren gehen durfte es jetzt auf keinen Fall mehr.

Doch Vögel in einem Käfig singen nicht. Und schon gar nicht, wenn sie nur Wasser und Brot bekommen (und dies noch glutenfrei, ohne Salz und Zucker, ohne Lust, ohne all die Dinge eben, welche ein Paradies ausmachen können).

Alles trainieren und hoffen jedoch; alles zwingen und drohen, alles üben und wollen, alles erpressen und foltern, alle Liebesschwüre, alle Ideen und Verführungen nutzten nichts. Ein Vogel im Käfig singt nur aus Schmerz. Er will Dein Herz erreichen, Du mit seinem Gesang aber Deinen vor Wollen nimmersatten Verstand. Das passt nicht, das geht nicht zusammen. Herz kann nie mit dem Verstand verstanden werden.

Eines Tages war Deine Wut über das nicht erreichen Deines Willens, dem Vogel das Schlüssellied zum heiligen Raum zu entlocken, wieder einmal so gross, so blind, so gnadenlos, dass Du den Käfig samt Vogel mit der ganzen Kraft Deines Zorns an eine Wand warfst und Dich davon machtest: weg von allem, weg aus der Nähe des Vogels, weg aus seinem Dunstkreis, weg aus der Hörweite seines Klageliedes, weg von allem, das Dich erinnert, weg aus dem Leben, weg aus dem Universum, ja weg aus allem was ist, was war, was sein wird, weg aus Dir, weg von all den Gefühlen, welche Dir zeigten, wo es zum Paradies geht, der Weg dahin aber nicht durch den Verstand führt und somit zwischenzeitlich uninteressant für Dich geworden ist. War dieser hässliche Vogel doch selbst Schuld daran. Was fiel diesem Federvieh überhaupt ein, in eine, in meine abgesicherte, kontrollierte, hochaufgerüstete, mit klar aufgezeigten Grenzen, Vermutungen, Hoffnungen, Glauben, Ideen, Verboten, Geboten mühsam errichteten und über viele Jahre, ja fast ein ganzes Leben lang mit allen architektonischen Frei- und Feinheiten, die ein Verstand zu bieten hat, errichteten Königreich der Vorstellungen (auch wenn dieses Königreich selbst nur eine perfide Vorstellung war und ebenfalls nur aus Schall und Rauch bestand) einzudringen. Geschieht es ihm doch recht. Ja, soll er doch bleiben, dieser Vogel, wo der Pfeffer wächst.

Was von Dir unbemerkt blieb, auch, weil es Dir, vom Trotz getrübt, vielleicht völlig egal war: der Vogel überlebte, wenn auch mit Blessuren. Und er schlüpfte aus dem, von der Wucht des Aufschlages an der Wand aufgesprungenen Türchen im Käfig. Und flog davon. Er flog und flog, singend, laut lachend, sich freuend, und zelebrierend, jubilierend, so sehr, wie er es von sich selbst noch nicht kannte! Er sang schöner, als je zuvor, lauter, mit Triolen und Quintolen, paradiesisch, ja er wurde geradezu zu einem Paradiesvogel.

Er flog dahin, wo Du ihn nicht suchtest, also auch nicht fandest: direkt in Dein Herz, nach hause. Und fortan war er nicht mehr darauf aus, zu Dir zu singen. Er sang nur noch für das Eine. Er sang nur noch für das Singen selbst. Für die Freude, die sein Singen ihm machte.

Und er war sich gewiss: wenn Du ihn jemals noch einmal singen hören wolltest, so müsstest Du zu ihm nach Hause kommen. Er selbst würde nie mehr auch nur eine Kralle in Deine kalte, vom Verstand geschmückte traurige Welt ausserhalb des Herzens setzen.

Aber singen: ja, singen kannst Du ihn immer noch hören. Am besten durch Deine eigene Stimme.

Infos und Termine unter: www.theperfumeoftruth.com

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