Das Thema Selbstwert hat für uns Deutsche eine besondere Bedeutung. Nach zwei Weltkriegen, die von deutschem Boden ausgingen, und dem Holocaust der Nazizeit tragen wir alle das Thema Schuld in uns – auch wenn wir diese Zeit gar nicht selbst miterlebt haben und die Schuld nicht bewusst fühlen. Doch sie sitzt in unseren Zellen und hält uns klein und schwach. Zeit, sie dort herauszulösen und die eigene Kraft zuzulassen. Ein Selbsterfahrungsbericht von Jörg Engelsing.

Mein ganzes Leben lief ich mit dem Gefühl herum: Ich bin nicht in Ordnung, wie ich bin. Therapien, Selbsterfahrungsgruppen, jede Menge Workshops und Seminare brachten zwar kurzzeitige Durchbrüche auf eine Ebene von Richtigsein, konnten dieses Thema aber nicht wirklich lösen. Immer wieder ploppte es hoch und beförderte mich in ein inneres Gefängnis, in dem es mir nicht erlaubt war, ich selbst zu sein und mich so zu zeigen, wie ich bin. So langsam hatte ich keine Idee mehr, wo denn jetzt der Knoten sitzt.
Bis ich vor kurzem ein Fünf-Tages-Seminar bei einem amerikanischen Heiler besuchte, der genau diese Knoten wahrnehmen und Menschen unterstützen kann, sie zu lösen. Während der ersten Tage berichtete ich ihm mehrfach über bestimmte Symptome, und er fragte mich, ob ich denn glaube, dass der Ursprung etwas Persönliches sei. Natürlich, antwortete ich ihm, was denn sonst. Am letzten Tag entschloss ich mich, mit ihm zu arbeiten. Das geht so vor sich, dass er sich auf mich einschwingt, um das Thema zu erkennen, das gerade anliegt. Dann sagt er Sätze vor, die ich ihm nachspreche, was einen Bewusstwerdungs- und Heilungsprozess auslöst, bei dem sich alte blockierte Energien lösen. Ganz schlicht, aber äußerst effektiv. Ich kenne Don schon länger, habe erlebt, wie wunderbar seine Arbeit wirkt, und vertraue ihm daher.

 

Drückende Kollektivschuld

Ich war allerdings im ersten Augenblick schon etwas konsterniert, als er das Thema “Kollektivschuld” am Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust in den Raum stellte. Aber ich ließ mich einfach mal drauf ein und merkte nach einiger Zeit, wie mein ganzer Körper anfing zu vibrieren, meine Beine zitterten, und es entlud sich jede Menge festgehaltene Energie (ein Prozess, der tagelang anhielt und noch andauert). Ich glaube, ich stand zwei Stunden da und sprach währenddessen immer wieder Sätze nach, die mir bewusst machten, dass ich die Energie von „Ich bin schuldig“ in mich aufgenommen, doch real mit dieser Schuld nichts zu tun habe. Und ich wies diese in mein System eingedrungene Energie zurück. Auf die Frage, ob es denn nicht wichtig wäre, sowohl den Nazis als auch denjenigen zu vergeben, die den Deutschen kollektiv die Schuld gegeben haben, erklärte Don, dass der Prozess der Befreiung aus zwei Stufen besteht. Im ersten Schritt der Ablösung geht es darum, diese Energie von Schuld und Schuldzuweisung zurückzuweisen und nicht gleich zu vergeben. Ohne den ersten Schritt erhalten wir unsere Kraft nicht vollständig zurück. Um ein ganzer, vitaler Mensch zu sein, muss ich diese Kraft erst wieder in Besitz nehmen, die mir das Muster aberkannt hat, denn mit der Schuld auf meinen Schultern habe ich ja gar keinen Anspruch auf Kraft, Entfaltung, Wachstum, Größe, Glück, Liebe und Freude.
Eigentlich hatte ich mich mit diesem Thema vor über zwanzig Jahren schon ausführlich auseinandergesetzt und dachte, dass ich es bereits hinter mir gelassen hätte. “Vielleicht mental”, erklärte Don, “aber auf der Zellebene saß es weiterhin und hat dein Leben vergiftet. In Berlin haben diese Energien eine besondere Kraft, weil sich hier das Zentrum der Nazi-Energie befand.”

 

Du bist wertlos

In den nächsten Tagen wurde mir das ganze Dilemma immer klarer. Seit jeher trug ich eine Art Schuldgefühl mit mir herum, einen Drang zur Rechtfertigung, den ich mir nicht recht erklären konnte. Ich wunderte mich auch immer, warum all meine Versuche, dieses Gefühl des Nicht-in-Ordnung-Seins in mir zu transformieren, im Grunde nicht erfolgreich waren. Aus der Sicht dieses Schuld-Introjektes ist das allerdings vollkommen verständlich: Es impft mir ja ständig ein, dass ich grundsätzlich (einfach nur, weil ich Deutscher bin, obwohl es das nicht explizit sagt) nicht in Ordnung, dass ich schuldig bin. Da kann ich auf einer persönlichen Ebene noch so viel dran drehen – es nützt nicht wirklich was. Solange ich so etwas mit mir herumtrage, kann ich einfach nicht in meine Kraft kommen, darf nicht klar sehen, mich klar ausdrücken. Diese Struktur verbietet es. Sie sagt: “Du bist wertlos, krieche am Boden, begnüge dich mit dem, was man dir zuwirft. Und wage es nicht, den Kopf zu erheben, du bist schuldig, schuldig, schuldig.” Das Muster verbietet auch, dass ich meine Stimme erhebe, dass ich laut werde, dass ich mich ausdrücke. Ich muss klein und im Hintergrund bleiben, darf nicht ins Zentrum treten. Und solange ich nicht weiß, woher diese “Knechtung” kommt, kann ich mich auch nicht davon befreien.

 

Die Kraft im Bauch

Durch dieses Schuldpaket stehen ganze Generationen von Deutschen nicht mehr zu ihrer Lebenskraft, weil diese ja im Dritten Reich zu einem Ausdruck des Bösen mutierte und es – wie das innere Glaubensmuster es behauptet –auch heute noch ist. Um sie wiederzuerlangen, müssen wir alle erst einmal wieder lernen, am richtigen Ort Nein zu sagen, zu sagen: so nicht, nicht mit mir, Ende der Selbstgeißelung. Vergebung wäre aber ein Ja. Ein Ja ohne die Integration des Neins, ohne die Fähigkeit nein zu sagen, wenn es angebracht ist, ist schwächlich. Das findet seinen Ausdruck im berühmten männlichen Softie, ein lieber Kerl zwar, der die Frauen versteht, aber kein wirklicher Mann. Es zeigt sich auch im oberflächlichen Eso-Gesäusel von “wir haben uns ja alle so lieb, wir sind doch alle eins, alles ist okay”. Klar, auf einer hohen transzendenten Ebene ist alles so richtig, wie es ist. Aber auf der ganz konkreten Ebene möchte ich den Vater sehen, dessen Kind von irgendeinem Triebtäter missbraucht wird. Wenn der keinen Mordshass bekommt, dann stimmt mit ihm was nicht.
Das vollkommene Ja beinhaltet immer auch das Nein, schließt es mit ein. Ohne dieses Nein wäre das Ja nicht vollkommen. Wenn ich die Fähigkeit, ganz klar, einfach und ohne Drumherum Nein zu sagen, nicht integriert habe, fehlt mir etwas von meiner Kraft. Das wirkt sich im Umgang mit anderen Menschen aus oder bei Entscheidungen. Ist diese Kraft nicht integriert, eiere ich herum. Diese Power liegt im Bauch. Und wenn der nicht befreit ist, wenn die unteren Chakren nicht offen sind, dann erhält das Herzchakra auch nicht seine volle Kraft. Die immense Kraft der Liebe kann sich nie ganz entfalten, weil ihre Nahrung, der Energiefluss von unten, blockiert ist.

 

Krümel oder ganzer Kuchen?

Ohne diese Kraft leben wir auch nicht aus unserem Zentrum. Und ohne unser Zentrum, ohne die tiefe Verbundenheit mit uns selbst und unserer Kraft, bleibt unser Leben immer ein Betteln um Zuneigung. Keine Entscheidung wird dann aus unserem Zentrum getroffen, sondern quält sich durch einen Wald von unbewussten Glaubenssätzen, wer wir sind, was wir dürfen, sollten, müssten, was richtig und falsch ist – und kommt am Ende reichlich deformiert ans Tageslicht. Wir leben ein kleines, enges Leben, arbeiten in Jobs, die uns keine Freude machen, ja wir wissen eigentlich gar nicht, wo unsere echte Leidenschaft liegt. Wir verdrehen uns, haben aber schon vergessen, wie es sich überhaupt anfühlt, gerade zu sein (mehrfache Versuche einer geistigen Wirbelsäulenbegradigung hielten bei mir gerade mal eine halbe Stunde, in der ich aufrecht und kraftvoll ging, dann fiel alles wieder in sich zusammen). Wir treten in Beziehung mit Menschen, die uns nicht gut tun, nur um nicht allein zu sein. Wir geben uns mit den Krümeln zufrieden und können uns gar nicht vorstellen, dass es auch einen ganzen Kuchen gibt. Wir leben in mickrigen Verhältnissen, wo uns doch die ganze Welt offensteht.

 

Neonazis: Selbstwert verquer

Beim Thema Neonazis kommt das verdrängte Thema Selbstwert in einem kruden Nationalismus völlig verkorkst wieder an die Oberfläche. Denn was die Neonazis ja ausdrücken, ist das Thema Selbstwert: Wir Deutschen sind wer, wir sind stolz, Deutsche zu sein. Indem sich dieser Ausdruck von Selbstwert als Nazitum und Hass gegen Ausländer darstellt, zeigt er sehr klar den Ursprung unserer kollektiven Krankheit, für die die Neonazis ja nur aufgrund bestimmter eigener psychischer Strukturen lebendiger Ausdruck sind. Die Krankheit heißt nicht, dass latent in uns allen böse Neonazis schlummern oder dass es ein Krebsgeschwür in unserem Land gibt, das es herauszuschneiden gilt und dann ist alles gut, sondern dass unser aller Selbstwert durch die kollektive Zuweisung der Schuld am Dritten Reich völlig im Keller ist – und die Neonazis sind unbewusste Mahner und zeigen mit dem Finger drauf. Blind versuchen wir das Symptom auszumerzen, weil wir so in unserer Schuld verstrickt sind, dass wir unser eigenes Thema im Außen nicht erkennen können. Eigentlich verständlich, dass ein Amerikaner bei diesem Thema mein Geburtshelfer war, denn nur ein unbelasteter Beobachter kann hier klar sehen.

In diesem Sinne geht es auch für uns Deutsche als Volk nicht darum, ein Verzeihungsritual nach dem anderen durchzuführen und ein neues Denkmal nach dem anderen zu installieren, sondern erst einmal in unsere Kraft zu kommen – dann erledigt sich das Thema Neonazis mit der Zeit von selbst. Und mit dieser Kraft und dem darauf folgenden Schritt zum Herzen wird dann ein echtes, heilsames Tragen dieses kollektiven Schmerzes möglich – statt wie bisher gebeugt unter der Last einer Riesenschuld und eines schlechten Gewissens dahinzuschlurfen, das wir uns wie einen Mantel angezogen haben. Es ist Zeit, ihn abzulegen, damit wir in unseren Selbstwert und in die Liebe wachsen können. Die Welt braucht kraftvolle und liebende Menschen. Gerade jetzt.

 


Abb.: © Friedberg – Fotolia.com

 

2 Responses

  1. Magdalena
    Danke! ❤️

    Lieber Jörg ein ganz großes Danke!!! Ich sende dir von Herzen alles Liebe… von einem Menschen dem du gerade sehr geholfen hast indem du dein Wissen teilst und die Augen öffnest. Danke ❤️

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  2. Gabriele Helena

    Welch großes Thema! Beim Lesen habe ich gespürt wie mein Monster-Kloß zwischen Hals und Bauch endlich zu ruckeln beginnt. Danke für deine offenbarende Sicht über die Familie, den persönlichen Status als Frau, als Kind zwischen den Fronten usw. hinaus, Jörg. Schon lange beschäftige ich mich mit den nicht gelösten Aufgaben meiner Ahnen, dem kleineren kollektiven Feld um mich herum. Auch habe ich mir die vermeintlich gelösten Themen angeschaut und festgestellt, dass sie mich immer wieder aufwühlen. Als Angehörige eines KZ-Insassen und von Menschen, die glaubten für die „Gute Sache“ alles getan zu haben, habe ich die deutsche Kollektivschuld lange abgelehnt. An der Haltung meiner Familie habe ich jedoch etwas Unklares, mich Belastendes wahrgenommen, das sich über die Jahre hinweg erhalten hat. Es hat mich zu meinen ureigensten Fragen geführt. Heute nehme ich mehr denn je wahr, wie schwer ich an all den Themen meiner Entwicklung getragen habe. Ich spürte, dass da mehr ist als das persönliche „Schicksal“. Denn, je mehr ich mich auf das JA zum Leben einließ, umso mehr kamen auch tiefe Schatten auf mich zu, die ich mir nicht erklären konnte. Stimmen, die mich beschimpften, wie es meines Wissens auch nach Rückführungen kein Mensch je getan hatte. Sie bedrängten mich und wollten wie ich heute weiß einen Raum in mir. Im Außen spielte sich diese Zuspitzung so ab, dass ich immer wieder eine Abneigung verspürte, wenn jemand Neonazis „weg“ haben wollte. Ich dachte immer wieder:“ Wo sollen die hin, wenn wir ihnen keine Lebensberechtigung zugestehen? Warum spricht denn keiner mit ihnen und lädt sie wertschätzend dazu ein? Nicht einmal wir ganzheitlich denkenden Seelen?“ Lange habe ich keinen Menschen gefunden, der ähnlich dachte. Ich fühlte mich falsch dabei, zumal ich im Inneren auch nicht wußte wie ich mit meinen gruseligen Schattenstimmen sprechen sollte. Irgendwann hörte ich mir jedoch selbst zu und stellte fest, dass ich scheinbar viele kindliche Fragen nicht beantwortet bekommen hatte, die aus meiner heutigen Sicht ein Gewinn für meine Entwicklung gewesen wären. Ich begriff, dass ich diese Fragen ausdrücken und weiter geben mußte, wenn ich nicht an ihnen ersticken wollte. So begann ich, in Schulen Kindern beim Fragenfinden und Fragenstellen zu helfen. Und das ist für uns alle ein Gewinn.

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