Hier veröffentlichen wir ein Kapitel aus dem neuen Roman „Luzie und die Suche nach Gott“ von Dorothée Brüne. Mit Hilfe ihres Körpers lernt Luzie sich zu erinnern. Die Vergangenheit taucht in mythischen Bildern wieder vor ihr auf. An ihrer Seite hat sie eine Vogelspinne und eine mexikanische Schamanin, um kämpfen zu können. Ihren katholischen Glauben lässt sie dabei hinter sich, findet einen neuen Glauben an die Liebe und an die Kraft der Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen. 

Es war warm in diesem Haus. Sehr warm. Das spürte Luzie sogleich. Wahrscheinlich kam das von dem Sonnenlicht, das durch die Fenster des Daches noch einmal verstärkt wurde. Es war auch sehr feucht in diesem Haus. Luzie fühlte eine große Feuchtigkeit auf ihrer Haut. Und es war eine andere Zeit in diesem Haus. Luzie hätte nicht sagen können, wodurch das kam, aber sie spürte es sogleich. Die Zeit floss langsamer in diesem Haus. Ganz langsam. Sehr, sehr langsam. Und ihr Atem veränderte sich. Sie musste auf einmal viel tiefer in ihren Körper hineinatmen. Ganz tief. Sie hatte den Eindruck, als müsste sie den Atem bis in die Fußspitzen hineinziehen. Sie atmete laut, immer lauter, für alle vernehmbar. Die Atemzüge wurden immer länger. Sie hätte nicht sagen können, wieso.

Leicht wie ein Schmetterling

Dann sah sie sie. Der ganze Raum war erfüllt von ihnen. Ihr Flügelschlag erfüllte die Luft, erfüllte die gesamte Atmosphäre des Raumes, verlangsamte die Zeit in diesem Raum. Schmetterlinge. Das ganze Haus war angefüllt mit Schmetterlingen. Damit diese sich wohlfühlen, gab es Pflanzen in diesem Haus, große Pflanzen, Pflanzen, die bis zur Decke wuchsen, die dem Sonnenlicht entgegen wuchsen, die die Fenster des Daches berührten. Und zwischen all diesen Pflanzen Schmetterlinge. Riesengroße Schmetterlinge. Blaue Schmetterlinge. Sie saßen auf den Blüten der Pflanzen, auf ihren Blättern. Einige flogen durch die Luft. Immer mehr Schmetterlinge umschwärmten Luzie, umkreisten sie, flogen um ihren Kopf, um ihre Schultern, um ihre Arme, um ihren Rumpf, um ihr Becken, um ihre Beine herum. Ein Tanz der Schmetterlinge. Luzie inmitten all dieser Schmetterlinge.

Sie konnte ihren Flügelschlag hören. Sie konnte ihn fühlen. Sie fühlte ihn mit jeder Pore. Wie einen sanften, ganz sanften Wind. Und dieser Wind schien aus einer fernen, ganz anderen Welt zu kommen. Sie war so glücklich wie noch nie in ihrem Leben, hatte sie den Eindruck. Das hier war Glück. Das war reines Glück. Und sie selbst schien auf einmal ein solcher Schmetterling zu sein. Sie kam sich so leicht vor, so federleicht, so schmetterlingsflügelleicht. Sie konnte gar nicht anders, sie breitete die Arme aus, sie drehte sich im Kreis. Sie atmete noch tiefer, streckte den Kopf ganz nach hinten, um so viel Luft wie möglich in sich hineinzulassen, um noch mehr von diesem wunderbaren Gefühl der Leichtigkeit in sich hineinzulassen. Sie wurde ein Schmetterling, sie war ein Schmetterling. Und sie konnte fliegen. Sie war frei und konnte überall hin fliegen. Die ganze Welt stand ihr offen. Sie konnte überall hin.

Weibliche Seelenreise

Dann sah sie sich selbst. Sah sich als die Frau, die sie jetzt war. Sah sich als alte Frau, als die Frau, die sie noch sein würde. Sah sich dann als junge Frau, als junges Mädchen, als Kind, als Baby, wanderte immer weiter zurück. Sah sich in früheren Leben, zu früheren Zeiten, wanderten durch alle Welten, alle Zeiten. Sie sah die große Reise, auf der sich ihre Seele befand, die sie zu bestehen  hatte. Sie sah all die Menschen, die sie schon über viele Zeiten hinweg begleiteten. Sie sah all die Orte, an denen sie bisher war. Eine große, eine gewaltige Reise über Raum und Zeit hinweg.

Sie hatte sich bei dieser Reise durch Zeit und Raum offensichtlich immer weiter im Kreis gedreht. Die Schmetterlinge hatten sie begleitet. Doch dann kippte sie zur linken Seite. Die gesamte linke Körperhälfte schmerzte. Sie drohte zu fallen. Gregoria und die andere Alte waren bei ihr und fingen sie auf, hielten sie in ihren Armen und ließen sie sanft zu Boden gleiten. Sie legten sie auf den Boden, strichen über ihre linke Körperhälfte, strichen immer wieder über diese Körperhälfte. Gregoria zog sich nackt aus und legte sich dann mit der ganzen Länge ihres Körpers an Luzies linke Seite, nahm mit der kompletten Seite ihres Körpers Kontakt zu Luzies linker Körperhälfte auf.

Immer allein

Gregoria und die andere Alte sangen. Sie sangen ein zartes, sanftes Lied. Sie sangen in ganz hohen Tönen. Sie verstand ihre Sprache nicht. Es war Maya. Und es war egal, ob sie verstand, was diese beiden Frauen sangen. Sie sangen. Und es hörte sich wunderschön an. Es war so leicht, so federleicht. Luzie fühlte sich durch diesen Gesang wieder an die Leichtigkeit ihres Schmetterlingsdaseins erinnert. So leicht. So frei. Und dann begann Luzie zu weinen. Es schüttelte ihren gesamten Körper. Sie weinte und weinte und weinte. Gregoria blieb dabei unverwandt an ihrer linken Seite und streichelte immer wieder diese linke Seite. Die beiden Alten summten immer weiter. „Ich sehe ein junges Mädchen in Deutschland. Sie ist alleine. Ich sehe eine erwachsene Frau, die durch Mexiko reist und sie ist alleine. Ich sehe eine mächtige Frau in Mexiko, die als Hohepriesterin ihr Volk regiert. Sie ist alleine. Ich sehe die gleiche Frau als Tempeldienerin in Indien, die den großen Dienst an der Göttin vollbringt, und auch sie ist alleine.“ Sie erkannte, dass ihre Seele auf ihrer großen Seelenreise immer alleine, ohne einen Partner an der Seite durchs Leben gegangen war.

Dann sah sie alle Frauen ihrer Familie, sah ihre Urgroßmutter, beide Großmütter und auch die eigene Mutter und sah, dass auch die Frauen ihrer Familie alleine, ohne Partner durchs Leben gegangen waren. Zwar waren die meisten von ihnen verheiratet gewesen, aber keiner der Ehemännner war ein Partner, war ein Freund gewesen. Es tat ihr weh, das zu sehen. Es schmerzte. Ihre gesamte linke Körperhälfte schmerzte. Dieser Schmerz war kaum auszuhalten. Ein langer, ein ganz langer Vertrag schien von ihr und von allen Frauen ihrer Familie gemacht worden zu sein, alleine, ohne männlichen Partner durchs Leben zu gehen.

Der leidende Gott

Es schauderte sie, denn sie wusste auf einmal, mit wem dieser, mit wem dieser größte aller Verträge abgeschlossen worden war. „Ich rufe dich herbei, Gott des Christentums, Gott des Abendlandes, männlicher Gott, körperloser Gott, vernünftiger Gott, sanfter Gott, einsamer Gott, Gekreuzigter!“ Sie sah ihn vor sich, sah ihn am Kreuze hängen, sah ihn ebenso wie sich selbst leiden und mit schmerzerfülltem Blick. „Ich bin hier. Und ich bitte dich, einen alten, einen ganz alten Vertrag mit mir zu lösen. Einen Vertrag, der für dich mit allen Frauen aller Zeiten geschlossen wurde, der sie zu Müttern, aber auch zu einsamen Frauen gemacht hat, der dich einsam und körperlos hat werden lassen. Ein Vertrag, der uns alle zur Einsamkeit verdammt hat und zur Körperlosigkeit. Ich löse diesen Vertrag auf. Komme herunter von deinem Kreuz! Es ist nicht mehr nötig, dass du dort hängst. Ich möchte nicht mehr, dass du dort hängst. Komm herunter, bewege deinen Körper, genieße deinen Körper und suche dir eine Frau, schließe sie in deine Arme, küsse sie, nimm sie als deine Freundin, als deine Partnerin, vögle mit ihr, nach Herzenslust! Und gib  damit auch mir die Chance, nicht mehr alleine durchs Leben gehen zu müssen und auch allen anderen Frauen des christlichen Erdenraumes. Ich löse den Vertrag auf, der uns alle zur Körperlosigkeit und zur Einsamkeit verdammt hat!“

Verbundenheit

Nachdem sie so gesprochen hatte, war es ihr ein Bedürfnis aufzustehen, sich zu erheben. Und sich zu bewegen. Sie wollte dabei verbunden bleiben mit Gregoria, wollte Gregoria weiter an ihrer linken Körperhälfte spüren. Die beiden Frauen erhoben sich, erhoben sich gemeinsam, nackt, und ohne Scham. Luzie hielt sie umfangen, Gregoria hielt Luzie umfangen. Sie berührten einander. Und sie tanzten miteinander. Ihre Körper blieben in Verbindung, während sie tanzten, blieben immer in Verbindung, wurden zu einem Körper, einem Gemeinschaftskörper. Sie drehten sich gemeinsam, sie sprangen gemeinsam. Sie glitten gemeinsam zu Boden, standen wieder auf, wirbelten durch die Luft, fingen sich auf, hielten sich, unterstützten sich. Es war ein schönes Gefühl. 

 

Lesung:
Samstag, den 3.12. um 18 Uhr
im Atelier Feuervogel
Geschwister-Scholl-Straße 96
14471 Potsdam

 

dorothee-bruene-1Luzie und die Suche nach Gott
Dorothée Brüne
Taschenbuch, 274 Seiten
Verlag: CreateSpace Independent Publishing Platform 2016
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 1530641942
ISBN-13: 978-1530641949
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