Helena Berger portraitiert Johannes Krause, der sich mit einem selbstorganisierten Grundeinkommen hauptberuflich für gelingendes Zusammenleben in seiner Wahlheimat Schmerwitz in Brandenburg einsetzt

Johannes Krause wurde 1977 in eine DDR-Pastorenfamilie hineingeboren. ­Ikonen seiner Jugend waren Jesus, Franz von Assisi und ­Mahatma Gandhi – Figuren, die für den bedingungslosen Einsatz für den Frieden standen. Die ­moderne Konsumkultur hat er später schnell als lebensfeindlich durchschaut. Nach längerer poli­tischer Kampagnenarbeit setzt er sich heute für gesellschaftliche Transformation auf vielen Ebenen ein. Er hat sich selbst ein Grundeinkommen organisiert und setzt sich nun hauptberuflich für gelingendes Zusammenleben von alten und neuen Bewohnern seiner neuen Heimatregion Fläming ein.

Über Berlin nach Schmerwitz

Mit zwei dampfenden Teetassen setzen wir uns an den Küchentisch, und ich fühle mich mit Johannes’ besonnener Art zu ­erzählen sofort wohl. Aus dem Fenster des kleinen Landarbeiterhäuschens sehe ich den beschaulichen Ort Schmerwitz in der Frühlingssonne liegen. Vor einem Jahr ist Johannes mit ­seiner Frau Jantje und den zwei Kindern aus Berlin hierher in den Fläming gezogen. Für ein 300-Seelen-Dorf ist Schmerwitz ungewöhnlich lebendig: Einige Wohnhäuser gehören einer Suchthilfegemeinschaft, die drogenkranke Menschen aufnimmt. Durch die Nähe zum ZEGG, einer Gemeinschaft in Bad Belzig, gibt es viel Zuzug von »Alternativen« – und dann sind da die Alteingesessenen. Seit letztem Herbst leben auch sieben aus Syrien geflüchtete Familien hier, und so entsteht ein Konglomerat, das den Ort herausfordert. Johannes Krause ist davon überzeugt, dass das Zusammenleben gelingen kann.

Als Kind lebt Johannes in einem Dorf bei Magdeburg zwischen zwei Welten: der Welt der Eltern, die in der evangelischen Kirche aktiv sind, und der Außenwelt im Staatssozialismus der DDR, wo alle anderen Kinder bei den »Jungen Pionieren« mitmachen und der Glaube keine Rolle spielt. »Mit vier Jahren haben mich die großen Jungs im Kindergarten einmal mit einem Drahtseil gefesselt, und dann sollte ich bekennen, dass es keinen Gott gibt«, erinnert sich Johannes. In seiner Familie werden soziale und ökologische Themen diskutiert, man geht für den Frieden auf die Straße, und die Kinder werden mit den Leitideen »Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« vertraut gemacht. In der Aufbruchstimmung der friedlichen Revolution lernt Johannes, dass Utopien Wirklichkeit werden können; 1989 ist er 12 Jahre alt. Mit der neuen Gesellschaftsform ändert sich der soziale Stand der Familie. Jetzt haben sie zwei Autos und ein Haus.

Johannes beginnt in seiner Pubertät, sich aktiv gegen die für ihn befremdliche Konsumkultur abzugrenzen. So fährt er in den letzten Schuljahren täglich die 20 Kilometer mit dem Fahrrad zur Schule, einem christlichen Gymnasium, obwohl seine Mutter, die dort Lehrerin ist, für dieselbe Strecke das Auto nimmt. »Dann stand sie im Stau, und ich habe sie überholt. Ich fragte mich damals, wie es sein kann, dass wir alle wissen, wie krass ungerecht die Verteilung von Wohlstand ist, wie schnell wir auf ökologische Katastrophen zusteuern und trotzdem alle mitmachen. Wenn ich damals gegen die Lebensweise meiner Eltern rebellierte, dann in der Überzeugung, die Werte zu leben, die sie mir selbst vermittelt hatten.«

Nach dem Abitur führt Johannes’ Weg nach Frankreich, wo er als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen in einer Kommunität der von Abbé Pierre gegründeten Emmaus-Bewegung mitarbeitet. In diesen Lebensgemeinschaften finden Menschen, die auf der Straße hausen oder unter Alkoholproblemen leiden, einen Lebensort – manchmal auch nur Unterschlupf für einige Tage. Die Kommunität finanziert sich durch den Verkauf von alten Möbeln und Kleidern. Außerdem führt sie soziale Projekte durch, in denen die Menschen ihre Selbstwirksamkeit erfahren. Johannes ist fasziniert.

Erstmals lernt er hier, Verantwortung für etwas Größeres, Gemeinsames zu übernehmen, und erlebt, wie sich einfache Menschlichkeit am rauhen Rand der Gesellschaft anfühlen kann. Hier braucht er kaum Geld, lässt sich einen Bart wachsen, und orientiert sich mehr und mehr an der radikalen Ethik von Jesus. Johannes lacht, wenn er über diese Zeit erzählt: »In meinen Briefen an die Menschen, die meinen Aufenthalt mit kleinen Beträgen finanziert haben, wurde meine Kritik an der bestehenden Gesellschaft immer schärfer. Ich habe mir schon ganz schön gefallen in meiner Radikalität und war für viele kein angenehmer Zeitgenosse.«

Wirklich etwas bewegen

In der Kommunität wäre er gern geblieben, aber er lässt sich von seinem inneren Bürgerkind zum Studieren überreden – Politikwissenschaften und Evangelische Theologie in Jena. In seiner Dachkammer im Theologenkonvikt arbeitet er mehrfach die »Grenzen des Wachstums« – den berühmten Bericht an den Club of Rome von 1972 – durch und ernährt sich von dem, was andere in die Mülltonne werfen. Erst seine Teilnahme an dem entwicklungspolitischen Qualifizierungsprogramm »ASA«, durch das er ein Stipendium für einen dreimonatigen Lern- und Arbeitsaufenthalt in Tansania erhält, holt ihn aus seinem Eremitendasein. In den die Reise begleitenden Seminaren, die von ehemaligen ASA-Stipendiaten vorbereitet werden, trifft Johannes auf Gleichgesinnte, die sich wie er voller Leidenschaft für eine bessere Welt einsetzen – jedoch ohne bitteren Ernst, sondern mit viel Freude und tollen Partys.

»Das war wie eine neue Welt für mich und hat einige Prioritäten verschoben«, erinnert sich Johannes. Er lässt sich vom Zusammengehörigkeitsgefühl der ASA-Leute anstecken. Bald arbeitet er selbst für den Verein und verdient so sein erstes Geld, trampt nicht mehr jeden Kilometer und nimmt auch mal den ICE. Dann zieht er für einen festen Job beim ASA-Programm nach Berlin und initiiert Kampagnen. Hier kann er endlich etwas bewegen. »Ich saß nicht nur da und gefiel mir in meinem konsequenten Lebensstil, sondern hatte das Gefühl, vielleicht etwas zu bewirken«, erzählt er. Nebenbei schreibt er seine Dissertation über das Grenzregime Europas.

Weiterhin reist er in die Kommunität nach Frankreich und erlebt dort immer wieder den starken Kontrast zu der privilegierten bildungsbürgerlichen Welt, in der er inzwischen wieder lebt und die ihm erneut immer fremder wird. Er lässt seine Stelle bei ASA nach fünf Jahren hauptamtlicher Arbeit auslaufen, um eine Ausbildung zur »Friedensfachkraft« zu absolvieren. Seinen Wunsch, mehr mit Menschen jenseits der eigenen Nische in Kontakt zu sein, erfüllt er sich 2009, indem er die lokale Bürgerinitiative gegen den Neubau eines Kohlekraftwerks in Lubmin bei Greifswald unterstützt. Die Aktion ist ein großer Erfolg, aber angesichts der gescheiterten Klimakonferenz in Kopenhagen und der anhaltenden Krisendiagnosen erscheint sie wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

Die Einsicht, als Teil von organisiertem Protest längst mit dem kapitalistischen System verschmolzen zu sein, lässt Johannes innehalten. Vielleicht leiten ihn in diesem Moment seine von Kind an aufgesaugten Ideale, denen er inzwischen jenseits des konfessionellen Rahmens nachspürt. Auch viele seiner Mitstreiter haben das Gefühl, dass etwas anderes, Wesentlicheres getan werden müsse, um gesellschaftliche Veränderungsprozesse nicht nur im Äußeren, sondern auch im Inneren anzustoßen: Auch die eigenen Denk- und Verhaltensmuster erscheinen ihm tief von Konkurrenz, Egoismus, Leistungs- und Wachstumsdenken geprägt. Aus dieser Einsicht heraus gründet sich 2011 der Berliner Verein »Impuls – Agentur für angewandte Utopien«, der seither partizipative Dialogprozesse gestaltet, Visionsentwicklung für Organisationen unterstützt, Querdenkende vernetzt und Fortbildungen anbietet. Unter Johannes’ Regie entsteht unter anderem ein Praxisleitfaden für Bürgerbeteiligung, der dafür plädiert, die Menschen nicht nur im Sinn von Akzeptanzbeschaffung einzubeziehen, sondern aktive Mitgestaltung zu ermöglichen.

Arbeiten für die Dorfgemeinschaft

Inzwischen ist Johannes nicht nur als Berater für partizipative Prozesse unterwegs, sondern steckt selbst in ­einem solchen. Ich wandere mit ihm durch Schmerwitz, in dessen Zentrum es einen großen, autofreien Bereich mit Wohnhäusern, Wiesen und einem See gibt. Vor der kleinen Backsteinkirche begegnet uns ein Mann in blauen Hausmeisterhosen, der sich über einen unangemeldeten Sperrmüllhaufen am Wegrand ärgert. Für ihn ist klar, wer die Übeltäter sind: »Diese strukturlosen Ökos!« Johannes ist es wichtig, mit Angehörigen der sehr unterschiedlichen Gruppen in Schmerwitz gut in Kontakt zu sein.

Neben dem heute verfallenen Schloss Schmerwitz und dem riesigen Gutshof liegt ein Töpfercafé, wo wir uns unter den alten Kastanien niederlassen. Johannes berichtet, wie er letzten Sommer die Eigentümer einiger freistehender Wohnungen fragte, ob diese nicht Asylsuchenden zur Verfügung gestellt werden könnten. Daraufhin begannen Verhandlungen mit dem Landkreis, und nachdem Johannes eine Weile lang vertröstet wurde, stand plötzlich fest: Die Unterbringung von 36 Menschen ist genehmigt, der Übergabetermin der sieben Wohnungen sei in zwei Wochen. So überstürzt hatte sich Johannes das nicht vorgestellt, er hätte sich eine solide Verankerung dieses Plans im Dorf gewünscht. Über Nacht wurde er zum Koordinator der Schmerwitzer Willkommens­initiative.

Jetzt musste es schnell gehen: Dorfversammlung einberufen, Informatio­nen verteilen, Arbeitsgruppen einteilen, Patenschaften organisieren. Viele Dorfbewohner beteiligten sich mit Sachspenden oder als aktive Mitträger der Initiative. Bedenken verstummten nach der Ankunft der syrischen Familien. Auf dem Rückweg zeigt mir Johannes den vom deutsch-syrischen Heimwerkertrupp renovierten Begegnungsraum.

Für Johannes stellte sich die Frage, wie er ohne Erwerbsdruck sein Engagement für ein gelingendes Zusammenleben von alten und neuen Bewohnern der Region Fläming vertiefen könne. Ihm kam die Idee, private Unterstützer darum zu bitten, ihn für ein Jahr mit einem Grundeinkommen auszustatten. Das hat geklappt! Nun kann er sich seiner neuen Wahlaufgabe widmen.

In Schmerwitz versucht er, den neuen Dorfbewohnern das Heimischwerden zu erleichtern und zugleich Begegnungsräume zu schaffen: ein Gemeinschaftsauto, ein interkultureller Garten, ein syrisches Fest, eine Friedenswanderung mit Einheimischen und Geflüchteten aus der ganzen Region stehen auf dem Plan. Vielleicht entsteht aus der Willkommensinitiative für Flüchtlinge ja eine interkulturelle Dorfinitiative, die das Zusammenleben für alle bereichert. Inzwischen bekommt die Initia­tive Anfragen aus anderen Dörfern, die Rat suchen, wie die Begleitung neu ankommender Menschen gut organisiert werden kann. Johannes ist überzeugt: Der Zuzug von Migran­ten ist für den ländlichen Raum eine Riesenchance – wenn es gelingt, ein lebendiges Miteinander in der Nachbarschaft, im Dorf, in der Gemeinde zu gestalten.

Nach einem Jahr scheint Johannes in Schmerwitz angekommen zu sein. Er fühlt sich als Teil einer Dorfgemeinschaft, in der immer wieder Einzelne die Initiative ergreifen und das Potenzial des Gemeinschaft­lichen aufblühen lassen. 

 

von Helena Berger, erschienen in Oya 38/2016
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Helena Berger (23) engagiert sich für ästhetische Bildung, solidarische Wirtschaftsformen und Permakultur. Sie studiert Kulturwissenschaften in Leipzig.

Mehr über die Schmerwitzer Dorfinitiative: hier

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