Ein Erfahrungsbericht aus dem Herzen der Sufitradition

von Faridah Busemann

Gökçedere, das Ziel meiner Reise in die Türkei liegt etwa zwei Stunden entfernt von Istanbul. Eine Fähre trägt mich über das Meer auf den asiatischen Kontinent. Nach der Ankunft geht es noch einmal weiter mit dem Dolmusch, dem typischen Kleinbus, der gefühlt alle paar Meter  hält, um Menschen ein und aussteigen zu lassen.

Endlich stehe ich erschöpft, aber erwartungsvoll an der Bushaltestelle des Dorfes und beginne, meinen Koffer in der Hitze des späten Nachmittags über den löcherigen Asphalt bergan zu ziehen. Auf dem Rücken und in der anderen Hand trage ich meine Instrumente: eine Gitarre und eine türkische, Laute, Oud genannt, immer darauf bedacht, sie nicht fallen zu lassen. Das war mir zu meinem Entsetzen schon einmal mit meiner Oud passiert, so dass sie gerissen war und geklebt werden musste. Aber man sagt ja zum Glück, dass ein Instrument, welches schon einmal zerbrochen war, und repariert wurde, dadurch besonders veredelt wird.

Die Dergah, das Zentrum der Einheit

Oben angelangt, sehe ich gleich das achteckige Gebäude der Sufigemeinschaft, Derga genannt. Vor der Tür im Außenbereich stehen Bänke im Schatten eines Maulbeerbaums, auf denen einige Personen sitzen, welche sich leise auf Türkisch oder Englisch unterhalten oder schweigend ihren Tee trinken. Freundlich wird mir zugenickt, als ich nicht dem Eingangsbereich nähere. Welcome, welcome, merhaba… Meine staubigen Reiseschuhe wandern ins Schuhregal wo sie gemeinsam mit vielen anderen ordentlich aufgereihten Paaren ihren Platz finden. Auf Socken betrete ich den ebenerdigen, mit Teppichboden ausgelegten Raum. Aus dem oberen Stockwerk vernehme ich leise, gedämpfte Klänge: Die verspielte Melodie einer Ney, der türkischen Rohrflöte und der Rythmus einer Rahmentrommel erreichen meine Ohren. Endlich angekommen! Vertraut und gleichzeitig stetig wieder neu erscheint mir dieser Ort.

Ich öffne eine Tür und sehe, dass der Schlafraum für die Frauen sich noch im selben Raum befindet, die obligatorischen Ventilatoren brummen. Schnell schiebe ich meinen Koffer in eine Ecke und entnehme eine frische Bluse und einen Rock. Ungeduldig laufe ich mit meinen Kleidern in Richtung Duschhaus und stoße dabei fast einen jungen Mann um, der mir mit einer Küchenschüssel in den Händen entgegenkommt. Mach langsam, ermahne ich mich selbst. Hier an diesen Ort geht alles etwas ruhiger zu, Achtsamkeit wird groß geschrieben.

Ich habe die Musik und den Tanz zu meinem Gebet gemacht. (Hz. Mevlana Rumi)

Einige Minuten später steige ich erfrischt und erwartungsvoll die engen Stufen zur Semahane empor. Auf einer der obersten Stufen bleibe ich andächtig stehen, als plötzlich der Blick frei wird auf die Kreisrunde Tanzfläche im Zentrum des Raumes. Mir direkt gegenüber, hinter der Tanzfläche sitzen die Musiker mit ihren traditionellen Instrumenten: Rahmen, Trommel, Oud, Ney und einer speziellen Geige, Rebab genannt und spielen. Etwa ein Dutzend Personen drehen sich andächtig mit ausgebreitet Armen zur Musik im Kreis.

Sofort durchdringt mich die Magie dieses Augenblickes und mit ihr die Erkenntnis, dass in diesem Raum, Musik und tiefste Stille gleichzeitig existieren können. Tränen steigen mir in die Augen.

Um die Tanzfläche herum sitzen auf Kissen und Matratzen einige ZuhörerInnen. Ich erkenne vertraute Gesichter unter den Anwesenden. Lächeln, Winken, Umarmungen – Alles schweigend, um die Meditation nicht zu stören. Ich setze mich auf einen freien Platz, betrachte die farbigen, wehenden Röcke und Gewänder, von denen einige wie Teller kreisen, Männer und Frauen mit entrückten Gesichtern und halb geschlossenen Augen, an den Füßen spezielle Sema Schuhe tragend, eine Art lederne Socken, die auf dem glatten Holzboden besonders gut rutschen.

Die Tanzfläche ist überdacht von einem ebenfalls achteckigem Dach, mit einem Sonnenfenster in der Mitte. Ich hebe den Blick hinauf zu den arabischen Kalligraphien, welche die Decke schmücken.

La iIllahia illallah, steht da in verschlungenen Buchstaben geschrieben, die ebenfalls zur Musik zu tanzen scheinen: „Nichts existiert außer dem Göttlichen.“

Allah –  lebendiges göttliches Sein

Nach einer Weile erhebe ich mich, bewege mich an den Rand der Tanzfläche, verbeuge mich, berühre den Boden mit meiner Stirn. Ich stehe auf und beginne, mich ebenfalls langsam zu drehen. Ob ich das noch kann? Ein Jahr ist es her, dass ich an diesem besonderen Ort war und den Drehtanz der Derwische gelernt habe. Zunehmend fasse ich Vertrauen, breite behutsam meine Arme aus und beginne mich zu drehen. Den rechten Fuß um den linken Fuß, den Kopf leicht nach links zum Herzen geneigt. Die rechte Handfläche nach oben geöffnet, empfangend offen für die göttliche, kosmische Energie, die linke Handfläche nach unten geöffnet, verströmend, schenkend. Die Körpermitte aufrecht. Wir kreisen gemeinsam wie die Planeten, treten ein in die  ewige Kreise der Schöpfung.

“Allahim, Allahim Sen güzelsin, Allahim, Allahim Sen güzelsin” , jubeln die SöngerInnen. “Mein Gott, du bist so schön, mein Gott, du bist so schön!”

Allah, Gott ist hier universell gemeint, unabhängig von jeder Religion, nicht männlich und nicht weiblich. Die reine Schöpferkraft, unermesslich, grenzenlos, barmherzig, liebend.

Ich spüre, wie meine Füße sich im Takt der Trommel wie von selbst bewegen, die Welt beginnt, um mich herum zu fliegen. Ich bereite meine Arme aus. In meinem innersten Zentrum finde ich Stille. Die Welt der Gegensätze verschmilzt zu einem Ganzen. Allah, Allah, Du bist die Ewigkeit, die Essenz, das innen und das außen.

Al- Hamdulillah – von der Freude in die Dankbarkeit

Ich verliere das Gefühl für die Zeit und möchte ewig weiter drehen, in dieser Anbetung, aber irgendwann meldet sich mein Körper, die Gedanken kehren zurück. Ich werde langsamer, überkreuze die Arme vor der Brust und komme zum Stehen. Noch eine Verbeugung vor der Tradition, die Stirn neigt sich zu Ende, rückwärts entferne ich mich von der Tanzfläche, und die Welt hat mich wieder, entspannt und beglückt von der Semaerfahrung. Die Musiker werden weiterspielen, wenn ich den Raum verlasse, die Semazen sich weiter im Kreise drehen. Tag und Nacht ohne Unterbrechung für 114 Tage und Nächte wird das Ritual fortgeführt werden, 114 Tage und Nächte, so viele die die Anzahl der Abschnitte des Quoran.

Als ich die Treppe wieder herab steige, empfängt mich bereits der Duft des Abendessens und das klappern von Geschirr. Für Leib und Seele wird hier gesorgt. Dankbarkeit erfüllt mein Herz, für die Erfahrungen, die ich hier immer wieder machen darf. 

 

Sema ist Schulung der Herzensohren

von Azize Güvenç

Liebe ist ein Geschenk Allahs an die Menschen, eingepflanzt ins hörende Herz. Man muss sie pflegen & hegen, dann wird die Seele klingen und beben – und wird zum sehenden Geist. (Oruç Güvenç)

Wir leben in Zeiten großer Herausforderungen. Wo findet man Zuflucht im äußeren und inneren Sein? In solchen Zeiten ist es wesentlich, die eigene Persönlichkeit zu erforschen, um die inneren Qualitäten der Kraft, der Inspiration, der Zuversicht, des Vertrauens und der Hingabe zu finden und weiter zu entwickeln. Auf der Brücke des Lebens braucht der Mensch Freiheit und Offenheit für seine schöpferischen Prozesse, sein Leben zu gestalten und zu meistern.

Sema als ein zentrierendes Gebet des Einzelnen in der Gemeinschaft

Drehungen sind eine grundlegende Bewegungsart der Natur. Von den Planeten unseres Kosmos bis zu den Elementarteilchen in Atomen, alles um uns dreht sich in ständiger Entwicklung. Im Sema versuchen wir, uns mehr und mehr des Erwachens der göttlichen Energien und Qualitäten bewusst zu werden. Wir können erfahren, wie unser ganzes Wesen auf die Einheit der Schöpfung ausgerichtet werden kann. Gemeinsam erkunden wir das Drehen in der Hinwendung zu Allah. Sema öffnet einen Raum, in dem die Seelen in ihrem Bedürfnis nach Vervollkommnung und Veredelung zu streben, nachkommen können.

Das Bewusstsein des Menschen für das Göttliche im Menschen wird im Sema erweckt. Musik, Poesie und Tanz mögen eine tief im Inneren des Menschen liegende „Saite“ anklingen lassen, die uns eine Vorstellung von einem Zuhause schenkt, das jenseits menschlicher Struktur liegt – ein Verlangen, eins mit dem Leben zu sein und sich „zu Hause“ zu fühlen in der Art und Weise, wie jeder sein Leben gestaltet.

Musik ist gespielte Schöpferkraft und deshalb vielleicht auch so geeignet, den Menschen in seinen Lebensbewältigungsprozessen in so einzigartiger Weise zu umfangen und zu unterstützen, ob zuhörend, selber musizierend oder komponierend. Wer sich auf den Weg macht, seine eigene Wirklichkeit zu entdecken, wer nach dem Sinn des Lebens sucht, um ein immer umfassenderes Verständnis und mehr Klarheit zu erlangen, wird bereit sein für Veränderungen. Der Tanz und das Lied des Lebens bestehen aus Veränderung und Beständigkeit.

Inspiriert von Hz. Mevlana unter der Pionierarbeit von Dr. R. Oruç Güvenç wurde das Sema Ritual viele Male an verschiedenen Orten der Welt für 3, 5, 7, 16, 40, 66, 99, 114 Tage und Nächte, abgehalten. In diesem Sinne möchten wir dieseTradition fortsetzen. Der Hauptzweck dieses Rituals ist die Fortführung des Sema-Gebetes. Musiker und Semazens werden sich abwechseln und versuchen, die Kontinuität von Sema, Musik und Zikir für die angegebene Anzahl der Tage und Nächte zu gewährleisten. Wir heißen jede Person willkommen, die sich aufrichtig für das Sema Ritual interessiert und ermutigt ist, ihr Herz für den Fluss der göttlichen Gegenwart zu öffnen.

 

 

Weitere Infos zum Sema – Sohbets – Filmdoku:
https://tumata.com
www.sematradition.com
https://oruchoca.com
Dokumentarfilm: „Sounds of Angels“ über das 99 Tage/Nächte Sema Ritual:
https://youtu.be/hx-Js8RoQO3M?si=sEd6-HZBLqieFPtu

Seminare:
3 Tage und Nächte Sema-Ritual in Marcon, bei Venedig, Italien am 16.05.2024 um 22.00 Uhr bis 19.05.2024 um 22.00 Uhr

5 Tage und Nächte Sema-Ritual in Fethiye, Türkei vom 07.11.2024 um 21.00 Uhr bis 12.11.2024 um 21.00 Uhr

 

 

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