von Dorothée Jansen

Ligurien 2023. Ein Naturschutzgebiet in 1200m Höhe. Wir dürfen zwischen alten Buchen unsere Zelte aufschlagen. Kein Shampoo, keine Seife, keine Spülmittel – das ist unser Versprechen. Bäche rauschen neben uns die Felsen hinunter. Das Wasser sammelt sich in einem See. 9 Tage Tanz in der Natur. Zwei Musiker begleiten uns. Wir sind 40 Tänzer und Performer aus der ganzen Welt. Die Sehnsucht nach tiefer Verbundenheit mit der Erde, dem Wasser, der Luft, dem Feuer hat uns hierhergeführt. Täglich tanzen wir bis zu 12 Stunden. Immer wieder werden wir von einer Herde von Wildpferden begleitet. Mal kreuzen Schafe unsere Wege. Es ist der japanische Ausdruckstanz, in dem wir uns üben – Butoh.

Entstanden Ende der 50er Jahre in Japan, feiert Butoh derzeit ein Comeback in der internationalen Ökoszene. Italien und Mexiko sind zwei der Hauptaustragungsorte – neben Berlin. Wie geht es, nachhaltig Kriege und die Schrecken von Hieroshima zu verhindern – das waren zunächst die Hauptfragen der beiden Gründer: Kazuo Ohno und Tatsumi Hijikata.  Beide waren sie beeinflusst vom deutschen Ausdruckstanz. Wie ist es möglich, die Schatten im eigenen Inneren anzunehmen, um sie nicht im Außen bekämpfen zu müssen? Wie lässt sich Zerrissenheit tanzen, damit nicht immer mehr Grabenkämpfe stattfinden? In der derzeitigen Weltsituation sehr aktuelle Fragestellungen.

Wie bewegt sich ein Körper, der verletzt ist, der nicht mehr funktioniert und auch nicht funktionieren muss? Kann ich als Tänzerin meine Wunden zeigen und annehmen? Wie sehen solche Tänze dann aus? Tanz der Dunkelheit wurde Butoh oft genannt. Den hiesigen Sehgewohnheiten von Tanz widersetzt er sich. Da kippt eine menschliche Gestalt aus der Symmetrie, hängt die rechte Gesichtshälfte, dreht sich ein Fuß nach innen. Verunstaltete Menschen, behinderte Menschen. Wie perfekt bist du? Den Menschen nicht als die perfekte Maschine denken und gestalten, den Menschen als das verletzliche Wesen sehen und ihn so wertschätzen. Eine somatisch vollzogene Wertschätzung durch Tanz.  

Tanz der wilden Seele

Wir wühlen uns durch alte Buchenblätter, braun und verwelkt, wühlen uns ins Erdreich hinein, spüren Erde auf der Haut, kriechen unter das Laub, sind von ihm bedeckt. Haut wird staubig, Blätter kleben in den Haaren. Es riecht leicht modrig. Wie nah traue ich mich der Erde zu kommen? Um mich herum Natur im ständigen Prozess des Werdens und Vergehens. Sterbende Natur. Welchen Bezug habe ich als 59-jährige Tänzerin zum Älterwerden, zum Welkwerden? Kann ich es annehmen, mich dem Prozess überlassen? Wie ist mein Verhältnis zum Tod? Auch wenn er manchmal noch ganz weit weg scheint. Er ist da. In jedem Moment.

Immer wieder tanzen wir Bäume, die als kleine Sprösslinge aus der Erde emporsteigen, zum Baum werden, der erste Äste verliert, immer älter wird, schließlich stürzt. Wir tanzen mal schnell, mal langsam. Mein Körper findet die Spiralform als Bewegung lebender Organismen. Was macht es mit mir, wenn ich dieses Werden und Vergehen stundenlang tanze, mich immer wieder spiralförmig nach oben winde und dann stürze? Immer wieder. Fallen. Eines der zentralen Elemente des Butoh-Tanzes. Fallen und dem Fallen keinen Widerstand leisten. Fallen. Liegen. Tod.

Ich weine. Trauer. Ich trauere um mich, die ich irgendwann enden werde. Ich trauere um die Meinen, die schon geendet sind. Ich trauere um die um mich liegenden Bäume, die gestürzt sind. Ich beweine all die, die noch fallen werden. Tote, Tode, Tod. Immer wieder aufs Neue getanzt wird der Tod zum Vertrauten. Tränen fließen, ja, bei vielen. Manchmal fallen wir gemeinsam, schauen uns dabei in die Augen. Gemeinsam sterben. Wann werde ich sterben? Wann werden wir sterben? Werden wir als Menschheit sterben und untergehen? Wäre das so schlimm? Will ich weiterleben? Und wenn ich weiterleben will, darf dann auch die Natur um mich herum weiterleben? Wie sehr liegt es mir am Herzen, dass auch diese Erde, diese Blätter, diese Bäume, der Bach, der See und die mich umgebenden Pferde weiterleben?

Deep Ecology

Bereits in den 80er Jahren entstanden hat die tiefenökologische Bewegung nichts an Aktualität eingebüßt. Wie geht es, Natur nicht mehr als fremd und aus der Distanz zu betrachten? Wie kann es gelingen, empathisch mit ALLEN Lebewesen zu sein? Sie zu fühlen. Sie durch die eigene Haut dringen zu lassen. Um zu erkennen, dass ich Natur bin, dass du Natur bist, dass Natur nichts da draußen ist. Natur, das sind wir. In Worten formuliert geht das schnell und ist das einfach. Das zu fühlen, es anzunehmen, nicht mehr als denkende Maschine durch die Welt zu schreiten mit einem Körper als Ausführungsgehilfen, das ist etwas anderes. Es braucht Zeit. Es braucht Wiederholung. Es braucht immer wieder ein Hinfühlen.

Da gelangen dann Konzepte über das, was Menschsein und was Leben ist, durcheinander. Da wird gar nicht mehr gedacht, sondern einfach nur erlebt. Keine Vernunft, sondern Intuition, manchmal auch Einbildungskraft. Da kann Geschichte sichtbar werden, verschieben sich die Zeiten, legen sich aufeinander, übereinander, vereinigen sich. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, alles in einem Moment.    

Steine tanzen

Rund um den See befinden sich Felder von größeren und kleineren Steinen. Wir legen uns auf sie, spüren ihre Härte. Manche ihrer Formen drücken in die Haut hinein. Was hat dieser Stein schon alles erlebt? Was für Geschichten hat er zu erzählen? Was erinnert er? Wenn ein Stein eine Geschichte hat, dann kann er sich auch erinnern und ich kann mittels meiner Haut seine Erinnerungen empfangen. Verrückte Vorstellung, nicht wahr? Täglich ver-rückt sich mein bisheriges Bild von Leben, werde ich verrückt und rücke in die Welt der Steine hinein. Bilder, Gefühle, ganze Landschaften tauchen auf. Ich tanze einen versteinerten Urvogel mit großen Schwingen. Ruckartig bewegen sich meine Flügelarme. Es ist ein bizarrer Tanz, der mit seinen abgehackten Bewegungen die Grazie einer Ballett-Tänzerin vermissen lässt. Ich bin Stein. Ich bin hart. Es ist schwer, mich zu bewegen. Dazu passen keine fließenden Bewegungen. Ich bin versteinerter Urvogel. 

Die Tage vergehen. Zeit fühlt sich von Tag zu Tag anders an. Sie wird dichter. In jedem Moment öffnen sich die Pforten zu fernen Zeiten, Urzeiten, legen sich auf die jetzigen Impressionen. Alles hat eine Geschichte, denke ich. Ich bin umgeben von Tausenden von Geschichten, ganze Bibliotheken umweben mich. Nicht nur ich habe eine Geschichte. In meinem Tanz verbindet sich die Geschichte meines Körpers mit der Geschichte des großen Steines, auf dem ich geruht habe und der mir seine Erinnerungen geschenkt hat. Damit ist der Stein mir zum Freund geworden. Das gesamte Steinfeld wirkt auf einmal lebendig. Steine leben und sind in Bewegung. Verrückte Vorstellung. 

Nach den 9 Tagen ist mir dieses kleine Gebiet in den Bergen Liguriens zur Heimat geworden. Ich habe mich mit ihm verwoben. In den Zellen meiner Haut nehme ich nicht nur Staubkörner, sondern gelebte Erinnerungen mit. Das Element, das mich von allen am meisten bewegt und berührt hat, ist das Wasser. Als ich mit dem Bus langsam wieder zurück Richtung Deutschland fahre, weiß ich: Ich werde für das Wasser und im Wasser tanzen – zur Erhaltung der Wasser dieser Erde, als mein ästhetischer Beitrag zur Tiefenökologie.     

 

Dorothée Jansen wird dieses Jahr drei Retreats zum Tanz in der Natur anbieten: 2.-5. Mai in Brandenburg; 4.-7.7. im Erzgebirge; 22.-29.9. auf der Insel Poel. Außerdem realisiert sie derzeit ein ArtHouseFilmprojekt, bei dem sie im, am und für das Wasser tanzen wird: Dancing the Beauty of the Waters. Sie bietet in Potsdam im Kunst- und Atelierhaus Rechenzentrum Butoh-Kurse an.

2 Responses

  1. Birgit
    TANZEN

    So etwas Spannendes habe ich lange nicht gelesen, das wäre was für mich. Weiß nur nicht wie ich das realisieren kann
    Liebe Grüße Birgit aus Storkow

    Antworten

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