Veränderte Bewusstseinszustände sind in unserer Kultur ein heikles Thema. Das hat eine lange Vorgeschichte, die mit dem Siegeszug des etablierten Christentums begann und in dem Machbarkeits- und Machtwahn von Naturwissenschaft und Technik ihre (konsequente) Fortsetzung erfuhr. Eigenständige Erkundungsreisen in andere und höhere Ebenen des Geistes, die „Anderswelt“, gerieten schnell in den Ruch der Ketzerei oder der Pathologie, was sicher erleichtert wurde durch den Unwillen (oder auch die Unfähigkeit?) vieler „Psychonauten“, das Erfahrene sprachlich adäquat oder überzeugend zu vermitteln, also jenseits einer bloß poetischen, „mystischen“ oder „stammelnden“ Redeweise.

Der gesellschaftliche Konsens heute scheint zu sein: jeder darf sich mit Alkohol, Nikotin und den vielen legalisierten Drogen ruinieren, jede Dumpfheit des Geistes und der Seele „darf sein“, ja soll geradezu sein, damit tiefergehende Fragen gar nicht erst aufkommen, die den „Wahnsinn der Normalität“ (Arno Grün) durchbrechen könnten. Wer aber ernsthaft andere/ höhere/ transpersonale Bewusstseinszustände anstrebt – aus dem existenziellen Bedürfnis heraus, die kollektive Pathologie, die sich als „normal“ ausgibt, zu verlassen – sieht sich trüben Verdächtigungen ausgesetzt von seiten der vielen „Korrekten“, die sich im herrschenden „Flachland“ (Ken Wilber) zu Hause fühlen. Wenn gar, beispielsweise, psychoaktive Pflanzen ins Spiel kommen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, hört der Spass vollends auf. Die kollektive Hysterie – und Verlogenheit – ist gerade hier atemberaubend.

Drogensucht als metaphysische Sucht

In einer solchen kollektiven Bewusstseinslage wächst die Bedeutung der bewusstseinsverändernden, der transformativen Verfahren, die es dem Einzelnen ermöglichen, nicht nur über andere oder höhere/ transpersonale Bewusstseinszustände zu lesen, sondern diese selbst zu erfahren. Der Hunger nach echten spirituellen Erfahrungen war einer der wichtigsten Motoren für die (gescheiterte) psychedelische Revolution der 60er und frühen 70er Jahre.

Drogensucht ist im Kern metaphysische Sucht. Wer sakrale Pflanzen mit psychogener Wirksamkeit tabuisiert oder verteufelt, muss Ersatz schaffen. Wo ein spirituelles Vakuum herrscht, tanzen die Dämonen. Das ist unabweisbare Psycho-Logik.

Psychoaktive Stoffe (in einem weitgefassten Sinne) bergen in sich das Potenzial, die Seele zu öffnen für die „Anderswelt“, die Welt hinter der Welt, die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit. Doch die bewusstseinserweiternden Stoffe („Drogen“) können den Einzelnen auch psychisch und sozial ruinieren, zumal die westliche Zivilisation keine adäquaten Rituale kennt für den Umgang mit psychotropen Substanzen. Als pures Genussmittel eingenommen für den sanften oder ultimativen Kick zeigen fast alle Stoffe dieser Art schnell ihre dämonische Seite.

Die erfahrene Überwältigung überfordert die Integrationskraft des Ich; dies wird zum Korken, der auf der wuchtigen Brandung der Bilder und Impulse hilflos tanzt. Häufig, ja wohl meistens, wird dabei das Ich nicht überschritten, sondern schlicht unterschritten: Regression statt Transformation. Ken Wilbers Unterscheidung von präpersonal und transpersonal ist gerade hier hilfreich. Im übrigen hängt hierbei alles an der wirklich erreichten und realisierten (stabilen) Bewusstseinsstufe (Wilbers „stable adaptation“).

Anderswelt – was ist das eigentlich?

Was unterscheidet die „Andere Welt“, eben die Anderswelt, von „dieser Welt“, also der physisch-sinnlichen und mentalen?

Im „Lexikon der keltischen Mythologie“ von Sylvia und Paul Botheroyd heißt es:

„Abweichend von den anderen Indoeuropäern dachten sich die Inselkelten ihre Anderswelt, das Reich der Ab- geschiedenen, nicht von der realen Welt getrennt, nicht als abgesonderte Sphäre oder in himmlischen Gefilden, sondern im Hier und im Jetzt. In den Sagen ist sie überall und nirgendwo: Die Menschen leben mitten in ihr, auch wenn sie sie normalerweise mit ihren sterblichen Augen nicht wahrnehmen.“

So wäre die Anderswelt, in diesem Sinne, kein „anderer Ort“, sondern eine ständig gegenwärtige und wirksame Schicht der Wirklichkeit, die uns umgibt und durchdringt, die wir sind. Was für „sterbliche Augen“ unsichtbar ist, wird offenbar für „unsterbliche Augen“ erkennbar. Diese seelisch-geistigen und höheren Augen, die in jedem Sterblichen vorhanden sein müssten, lassen uns schon jetzt sehen oder besser schauen, was wir im Nach-Tod-Zustand schauen – und sind.

Alle grenzüberschreitenden / höheren / transpersonalen Erfahrungen – und das hat die Bewusstseinsforschung der letzten drei Jahrzehnte gezeigt, vor allem die der transpersonalen Psychologie – belegen zweifelsfrei, dass es möglich ist, in veränderten Bewusstseinszuständen die „anderen Augen“ in uns zu aktivieren bzw. uns an sie zu erinnern. Dies kann durch spontane Öffnungen oder Schauungen geschehen oder durch Psychotechniken der höheren Art oder auch durch einen streng und konsequent verfolgten Schulungsweg oder auch in seltenen Fällen, den geeigneten rituellen Rahmen voraus- gesetzt, mittels psychoaktiver Stoffe.

Allen Erfahrungen dieser Art ist eines gemeinsam: die oft erschütternde Verschiebung der Grundkoordinaten von Raum, Zeit und Selbst, und zwar in Richtung auf den „höheren Raum“ (den „Raum hinter dem Raum“), die „höhere Zeit“ (die „Zeit hinter der Zeit“) und das „höhere Selbst“ (den „Menschen hinter dem Menschen“, den „kosmischen Anthropos“).

Es gibt Indizien dafür, dass diese andere oder höhere Welt hinter der Erscheinungswelt (und zwar jenseits aller religiösen Projektionen) die Ursache der Sinnenwelt darstellt, den Seins- und Quellgrund, der die materielle Welt trägt und ermöglicht und ohne den sie kollabieren würde. Dann wäre die Welt der Erscheinungen „nur“ eine Welt der Wirkungen und die so genannte Anderswelt die eigentliche (ursächliche) Wirklichkeit.

Wie wir uns dazu stellen, ist keine theoretische Frage, sondern eine solche der Lebenspraxis. Wie wirklich ist – oder wie wirklich empfinden wir – die Realität der Sinnenwelt? Was sind für uns die Schlüsselkriterien für Wirklichkeit oder Unwirklichkeit? Wie weit oder tief reicht unsere Erfahrung? Der Materialist hält die Sinnenwelt für kompakt und einzig wirklich, wie auch sein Bankkonto, seinen Arbeitsplatz und – vor allem – sein Ego, die aufgeblähte Form des kleinen Selbst.

Ich-Impuls und Seelenraum

Über die Außenwelt können sich die Menschen, wenigstens die eines Kulturkreises, relativ schnell einigen. Sie wird als zweifelsfrei gegebenes „objektives Etwas“ gewertet, das vor aller Augen daliegt. Anders steht es um die Innenwelt, die Innenwelten der unzähligen Einzelnen. Traditionelle Kulturen kennen einen verbindlichen kollektiven Seelenraum, der die Innenwelt des Einzelnen einbettet. In der technisch-mentalen Sphäre, die heute herrscht, ist der kollektive Seelenraum weitgehend zerstrahlt. Die Seele ist zur „Privatsache“ degeneriert. In einer solchen Situation wächst das Bedürfnis, sich neu-alte Seelenräume höherer oder gar kosmischer Natur wieder zu erschließen. Offenbar ist das „metaphysische Bedürfnis“ des Menschen unzerstörbar.

Müssen wir unser Ich an der Eingangspforte der Anderswelt abgeben?

„Shoes and minds are to be left at the gate“, hieß es einst in Poona. Die Frage des Ichs, auch die des Selbst (mit fließenden Übergängen), ist zentral wichtig bei grenzüberschreitenden Erfahrungen. Viele wollen Ich und Selbst streng trennen, was sich in der Praxis als recht schwierig erweist (sehr erhellend hierzu die „Integrale Psychologie“ Ken Wilbers).

Die historisch gewachsene Ichheit des Abendländers ist zwar spürbar abgestürzt auf die Betondecke des nackten Ego, wo sie einen eher unerfreulichen Anblick bietet, aber das heißt nicht, dass der Ich-Impuls als solcher einfach ein Irrweg wäre. Es ist zu vermuten, dass dieser große Impuls der Bewusstseinsevolution noch gar nicht vollgültig zu sich selbst gekommen ist. Das kann er wohl erst, wenn die vorherrschenden Pathologien durchschaut werden; davon sind wir weit entfernt. Der Ich-Impuls harrt noch immer seiner höheren Einlösung, und zwar in einer integralen, alle Wesensschichten des Menschen umschließenden Gestalt.

Der „kosmische Intelligenztest“

Wir haben gute Gründe, die so genannte Anderswelt als die ursächliche Wirklichkeit zu werten, als die innere Kosmologie „hinter“ der äußeren. Das heißt auch, das kleine Selbst im großen Selbst zu verankern, den Anschauungsraum im höheren Raum und die lineare Zeit in der höheren Zeit. Wenn der Mensch, der „gemeinte Mensch“ (also nicht der bereits verkleinerte und reduzierte), überhaupt noch eine Chance haben soll auf diesem Gestirn, kann nur gehofft werden, dass „Anderswelt-Forschung“ als (seelisch-geistige) Grundlagenforschung und höhere Wirklichkeitsforschung betrieben wird. Damit ist eine große Bewusstseinsaufgabe angedeutet, die etwas zu tun haben wird mit dem, was der Physiker und Psychologe Peter Russell als den „kosmischen Intelligenztest“ der Menschheit bezeichnet.

Ist das „utopisch“ oder an den Realitäten vorbeigedacht? Das glaube ich nicht. Der Einzelne, jeder Einzelne (der sich nicht schon aufgegeben hat), kann mehr leisten und bewirken, als es zunächst erscheint. Insofern ist jeder, auf irgendeine Weise, an diesem „kosmischen Intelligenztest“ beteiligt oder zu ihm aufgerufen.

Gerade du, der du dies liest, bist es…

Im Juni 2002 erscheint sein neues Buch „Die Anderswelt. Eine Annäherung an die Wirklichkeit.

Die innere Kosmologie von Raum, Zeit und Selbst“

(Drachen Verlag, Edition Hagia Chora).

Über den Autor

Avatar of Jochen Kirchhoff

lebt als Philosoph und Bewusstseinsforscher in Berlin.

Lehrtätigkeit an der Humboldt-Universität und an der Lessing-Hochschule.

Autor zahlreicher Veröffentlichungen, zuletzt der Bücher „Was die Erde will“ und „Räume, Dimensionen, Weltmodelle“. Jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Feld der anderen oder transpersonalen Bewusstseinszustände.

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