Die Quellen des Selbstwerts speisen sich aus Selbstachtung und Selbstliebe – weil ich es mir wert bin.

von Sabine Groth

Selbstwert, Selbstbewusstsein, Selbstachtung, Selbstvertrauen, Selbstliebe, Selbstverantwortung – wenn mich jemand fragte, was ich für das Wichtigste halte, würde ich ohne zu zögern die Selbstverantwortung nennen, denn wir können alles verlieren, wenn wir nicht bereit sind, die Verantwortung für uns selbst zu übernehmen. Selbst-ver-antwort-ung bedeutet, unsere eigene Antwort auf die Fragen zu finden, die uns das Leben stellt. Die Worte selbst weisen uns buchstäblich darauf hin, dass es hier nicht nur um unser Selbst geht, sondern dass wir selbst dafür verantwortlich sind, die obigen Qualitäten ins Leben zu rufen.

Meine besondere Leidenschaft gilt dabei der Selbstliebe. Das kommt daher, weil ich mich seit frühster Jugend mit den Fragen beschäftige: Was bedeutet Selbstwert für mich? Wie kann ich meine Selbstliebe stärken und ein stabiles Selbstbewusstsein gewinnen? Und was sind die Quellen des Selbstwerts? An diesen Fragen forsche ich nun schon seit über 30 Jahren. Ich habe mich in Psychologie, Psychotherapie und Religionswissenschaften ausbilden lassen, arbeite seit Jahrzehnten mit Menschen, die diese Fragen ebenfalls beschäftigen … und noch immer lebe ich in die Antworten hinein.

Wenn das Kartenhaus zusammenbricht

Die klügsten und hilfreichsten Antworten erhielt ich in Situationen, in denen scheinbar nicht viel von meinem Selbstwert übrig geblieben war: Wenn sich der Partner von mir trennte, ein wichtiges Projekt scheiterte, die Wohnung gekündigt wurde, sich eine gute Freundin verabschiedete…Immer wenn ich mein Selbstbewusstsein an Äußerlichkeiten wie Erfolg, Status, Beruf, Aussehen, Besitz usw. geknüpft hatte, brach der eben noch unerschütterlich erscheinende Selbstwert wie ein Kartenhaus in sich zusammen, und ich musste mich auf den Weg zu den tieferen Quellen machen, aus denen ich ihn neu schöpfen konnte. Die Reise zum Kern meiner Selbstliebe war kein kurzer Wochenendausflug. Es war kein All-Inclusive- Urlaub, bei dem mir alles auf einem Silbertablett serviert wurde. Es war, wie jeder tiefgreifende seelische Prozess, ein langsamer Vorgang, eine lange Reise. Selbstvertrauen und Selbstwert entwickeln wir ja nicht, wenn wir in unserer Komfortzone und im bequemen Fernsehsessel sitzen, sondern wenn wir hinausziehen in die innere oder äußere Wildnis, dorthin, wo Gefahren und Herausforderungen auf uns warten, bei denen wir unseren ganzen Mut zusammennehmen und erfahren: Das schaffe ich! Ich kann mich auf mich selbst verlassen und mir vertrauen. So wächst Selbstvertrauen.

Hinwendung zu mir selbst

Das zarte Wachstum des Selbstwerts und der Selbstliebe ist das Ergebnis einer beständigen Hinwendung zu mir selbst und lohnt jede Mühe, immer und immer wieder. Die innere Transformation zu mehr Selbstliebe vollzieht sich allmählich und fortwährend, indem ich mir – neben Kindern, Partner, Beruf, Haushalt, Freunden etc. – Zeit für mich selbst nehme und mich immer wieder entschließe, mich meinen Innenwelten zuzuwenden – meinen tiefen, hintergründigen Gefühlen, meinen Sehnsüchten, den tatsächlichen Bedürfnissen, den verborgenen Motiven hinter meinem Handeln, den Verletzungen aus Kindertagen und alten Seelenwunden sowie meinen besonderen Begabungen und Talenten, den nächtlichen Träumen, den Tagträumen und großen Visionen, den zarten Ahnungen und klaren Eingebungen – und indem ich die verschiedensten und widersprüchlichsten Aspekte meines Selbst erkunde und in mein Selbstbild integriere. Unbekannte Seelenwinkel zu betreten, bedeutet, mich in mir selbst besser auszukennen – einen Gewinn an Selbst-Bewusstsein zu erleben.

In den Momenten, in denen die Not am größten war, erlebte ich, dass es vor allem drei Quellen waren, die meinen Selbstwert wieder nährten: Die größte und vielleicht tiefste Quelle ist, dass wir um unserer selbst willen geliebt werden von einer Kraft, die manche Gott und andere Allah, Jahwe oder Buddha nennen. Es ist das gefühlte Wissen, dass wir als Menschen wertvoll sind, weil wir den Geist der Liebe selbst verkörpern. Es ist die Ahnung, dass es diese unergründliche Liebe ist, die unser Herz schlagen lässt, unsere Zellen in jeder Sekunde erneuert, dieses Wunderwerk an Körper versorgt und uns am Leben sein lässt. Allein die Tatsache, ein Mensch auf diesem wunderschönen Planeten Erde sein zu dürfen, verleiht jedem Menschen seinen Wert.

Liebevoller Blick auf uns selbst

Nach der Gottesliebe erlebe ich die Elternliebe als den Boden, auf dem unser Selbstwert wachsen und gedeihen kann. Durch den liebevollen mütterlichen und väterlichen Blick konnte ich mich als Kind gespiegelt sehen und so die elterliche Liebe verinnerlichen. Der liebevolle Blick unserer Eltern auf uns ermöglicht uns, einen liebevollen Blick auf uns selbst zu werfen und die Erfahrung zu machen: Wenn Mutter und Vater mich lieben, dann muss ich wohl liebenswert sein. Doch auch Menschen, die nur wenig mütterliche oder väterliche Liebe erfahren haben, können ihren Selbstwert entfalten, indem sie die Liebe von den Menschen annehmen, die ihren Weg kreuzen. Selbstwert wächst auch mit der Entfaltung unseres Potentials, mit dem Erblühen unserer einzigartigen Fähigkeiten und Talente. Denn so wie jeder Baum beherbergt auch jeder Mensch im Kern die höchste Form seiner selbst.

Ganz gleich, wie tief ein Mensch verletzt wurde, die heile, gesunde Wurzel überlebt. Sie lebt in uns fort, um weiterhin Kraft nach oben zu senden, das Wachstum anzuregen und nach einem sinnerfüllten Leben über der Erde zu suchen. Jeder Baum sowie jeder Mensch entfaltet sich so lange, bis das Leben über der Erde ganz und gar dem weiterverzweigten Wurzelwerk unter der Erde entspricht. Wenn wir in unserem Leben immer höher wachsen, wenn wir unsere Zweige immer weiter gen Himmel strecken, wenn unser Stamm immer kräftiger wird, dann sorgt das auch für die Ausdehnung unseres Wurzelwerks. All das ist ein fortlaufender, heiliger Prozess, der unser Wissen um unsere Herkunft und unsere familiären Wurzeln sowie unser Mitgefühl mit uns selbst und anderen vertieft.

Das Ich im Du gespiegelt sehen

Eine weitere Selbstwertquelle sind unsere Beziehungen. Es sind die Beziehungen zu unseren Partnern, zu unseren Kindern, unseren Eltern, Freunden und Kollegen, die uns nähren, unterstützen, die unsere Stärken stärken und die so das Beste aus uns herauslieben. In meinen Beziehungen spüre ich, dass ich erst durch mein Gegenüber zu mir finde. „Erst durch das DU werde ich zum ICH“, beschreibt der Religionsphilosoph Martin Buber diese Erfahrung. Und indem ich mich im Spiegel meiner Beziehungen als ICH erlebe, erfahre ich auch meinen Wert und den Sinn meines Daseins. Denn so wie andere Menschen mir dazu verhelfen, mich als wertvoller Mensch in einer Gemeinschaft zu erleben, so unterstütze ich auch andere, sich selbst in ihrem Wert zu erfahren.

Unsere Selbstbewertung ist ebenfalls wichtig. Wie wir unser Handeln und unsere Leistungen bewerten und ob wir unseren Werten in unseren Taten treu sind – all das hat Auswirkungen auf unseren Selbstwert. Wenn ich mit mir selbst und meiner Entwicklung zufrieden bin, dann freue ich mich über die Anerkennung von anderen, aber mein Wohlbefinden hängt nicht davon ab. Kritik kann ich dann ernst nehmen, aber mich nicht grundsätzlich davon verunsichern lassen. Die Überzeugung, auch mit meinen Fehlern und Schwächen, mit meinen Sonnen- und Schattenseiten, mit all dem Unperfekten ein wertvoller Mensch zu sein, ist ein besonders stabiler Selbstwertschutz, an den wir uns hin und wieder gegenseitig erinnern können. Unseren Selbstwert stärkt auch die Überzeugung, Dinge beeinflussen zu können, die wir ändern können, und das Vertrauen, mit Geschehnissen umgehen zu können, die wir nicht in der Hand haben. Und zu wissen: Ich kann das eine vom anderen unterscheiden.

Durch dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit erleben wir uns als Urheber unseres eigenen Tuns, als Gestalter unserer Beziehungen und unseres Lebens. Dann machen wir nicht für alles das Schicksal, die Umstände oder die anderen verantwortlich, sondern formulieren unseren eigenen Anteil am Schicksal, den Teil, über den wir tatsächlich die Macht haben. Wir drehen uns dann der Welt zu mit einem Blick, der mit Würde und ja, vielleicht sogar gesundem Stolz sagt: „Schaut her! All das war ich. Und all das bin ich!“

 

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