Richard Sima begegnet dem Thema Selbstbewusstsein und seinen zahlreichen Aspekten…

Die Flucht meiner Eltern aus der Heimat, ihr Artistenleben und die unzähligen, beruflich bedingten Orts- und Schulwechsel führten dazu, dass ich mit Beginn meiner Volljährigkeit schüchtern, ängstlich und unsicher war und mit Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen hatte. Besonders stellte für mich ein Problem dar, in Kontakt mit dem anderen Geschlecht zu kommen. Das gefiel mir nicht, und ich wollte diesen Zustand möglichst schnell ändern. Auf der Suche nach Tipps und Tools fiel mir das Buch „Selbstbewusstsein kann man lernen“ in die Hände. Das war zum einen ein Rettungsring in meiner damals so empfundenen Lebenskrise und zum anderen der Beginn eines aufregenden Weges mit intensivem Erforschen, Entdecken und Lernen über das Thema Selbstbewusstsein mit seinen vielen Elementen und Facetten.

Heute, 35 Jahre später, wird es mir trotz dutzender Selbsterfahrungsworkshops und themenspezifischer Aus- und Fortbildungen noch immer nicht langweilig, dieses vielschichtige Thema in seine Einzelteile zu zerlegen, seine Komplexität zu verstehen und es dann mit neuen Erkenntnissen wieder zusammenzusetzen. Aber der Reihe nach. Ich vertiefte mich damals eifrig in die Materie, verschlang mehrere Bücher, besuchte Workshops, arbeitete an meinem Verhalten, Auftreten und Aussehen, feilte hier und optimierte dort. Bald war mein Image perfekt, ich fand mich schick, war gestylt wie ein Hahn mit bunten Federn und wirkte äußerlich sehr selbstbewusst. Diese Außenwirkung musste sich aber erst noch bewähren, und Discos sollten die Orte sein, an denen sie getestet werden sollte, denn theoretisch lief alles super. Aber praktisch lief gar nichts. Und nicht nur das, ich wurde auch noch – mal sanft, mal heftig – gerupft. So nach und nach verlor ich meinen bunten Federschmuck und damit auch mein imaginäres Selbstbewusstsein.

Unglaubwürdige Attrappe

Rückblickend sehe ich, dass mein Selbstbewusstsein von damals eine Maske war, die zwei Funktionen hatte: erstens nach außen hin eine bestimmte Wirkung zu erzielen und zweitens mein schüchternes Innenleben zu verstecken. Denn das sollte natürlich niemand sehen. Zudem wirkte ich mit dieser „Attrappe“ unglaubwürdig und fürchtete, demaskiert zu werden. Es hat dann noch ein paar weitere entlarvende Situationen gebraucht, bis ich erkannt und auch eingesehen habe, dass jeglicher Versuch, nach außen hin eine „gute Figur“ machen zu wollen, nichts weiter war als der Versuch, ein sich minderwertig fühlendes Selbst mit einem aufgeplusterten Ego zu kompensieren. Diese Erkenntnis war dann der erste Schritt in die entgegengesetzte Richtung: der Weg nach innen.

Mein Minderwertigkeitsgefühl habe ich mir dabei als Erstes vorgeknöpft, und die Arbeit am Selbstwertgefühl führte mich zu der Frage: Warum bewerten wir eigentlich? Die direkte Antwort darauf ist simpel: Weil wir es so gelernt haben! Wir haben das Bewerten gelernt, als wir oder unser Verhalten in der Kindheit tausendfach durch Eltern, Familienangehörige, Lehrer, Mitschüler bewertet wurden und wir diese Umgangsform unreflektiert als selbstverständlich übernommen haben. Dieser Vorgang wird in der Fachsprache „Lernen am Modell“ genannt. Jegliches Zuweisen eines Adjektivs ist eine Bewertung und je nachdem, ob diese Wertung positiv oder negativ ist, beinhaltet sie eine aufwertende oder abwertende Information. Ein Kind übernimmt diese Botschaft ungefiltert und überträgt diese Wertung als eine Information über sich selbst in sein Selbstbild. Und da es noch nicht in der Lage ist zu reflektieren und zu differenzieren, ob eine Kritik berechtigt oder unberechtigt ist, prägen Bewertungen nachhaltig den Selbstwert des Heranwachsenden. Das Selbstwertgefühl ist deshalb ein so bedeutsamer Bestandteil des inneren Selbstbewusstseins, weil es die Quelle des Wertes ist, den ein Mensch sich selbst beimisst.

Selbstbewusstsein – die Aspekte

Nach und nach begegnete ich weiteren Aspekten des Selbstbewusstseins:
Selbstachtung: Achtsamkeit, Hochachtung sich selbst und anderen gegenüber.
Selbstbestimmung: Freiheit/frei sein, innere Stimme wahrnehmen, meine Stimme ist wichtig, ich bestimme und entscheide, wann ich was wie machen möchte oder was mit mir gemacht werden darf – zum Beispiel beim Sex „Stop“ sagen können und die Gewissheit haben, dass es die entsprechende Wirkung haben wird.
Selbstermächtigung: Fortsetzung der Selbstbestimmung, zur eigenen Stimme kommt die Macht zu handeln hinzu, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Gegensatz: Ohnmacht, Hilflosigkeit.
Selbstvertrauen: sich etwas zutrauen, mutig sein, etwas tun, obwohl man sich davor fürchtet. Den Mut aufbringen, sich psychosozialen Herausforderungen zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, sich nach einem Streit zu entschuldigen oder den ersten Schritt zur Versöhnung zu machen.
Selbstwertgefühl: sich wertvoll fühlen, sich selbst wertschätzen können.
Selbstsicherheit: sich selbst gut kennen und die ruhige Gewissheit haben, richtig zu sein.
Selbstrespekt: eine Mischung aus Hochachtung, Wertschätzung und Würde.
Selbstverantwortung: Verantwortung übernehmen für die eigenen Gedanken, Gefühle/Emotionen, Impulse, Handlungen, Lebensumstände. Dies sind nur einige Aspekte der Beziehung zu sich selbst.

Sie sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. So hat die Arbeit am Selbstwertgefühl auch Auswirkungen auf die Selbstsicherheit und den Selbstrespekt. Und Selbstverantwortung ist unabdingbar als Voraussetzung für Selbstbestimmung. Denn frei sein (selbst bestimmen dürfen) ist nicht nachhaltig realisierbar ohne die Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung zu tragen.

Selbstbewusstsein und der eigene Wert in Beziehungen

Die Bewusstheit über sich selbst ist sehr wertvoll für gelingende Beziehungen. Nehmen wir an, das Selbstwertgefühl eines Partners ist durch vergangene Erfahrungen herabgesetzt. So wird der Partner sich sehr wahrscheinlich auch leicht gekränkt oder verletzt fühlen und dies in Sätzen wie „Deine Bemerkung hat mich verletzt“ oder „Du hast mich verletzt“ äußern. Wenn sich dieser Mensch in einer Beziehungssituation durch eine eher harmlose Bemerkung seines Partners „verletzt“ fühlt, ist sehr wahrscheinlich eine alte Kränkung der eigenen Wertigkeit reaktiviert worden. Eine Situation von früher wiederholt sich scheinbar, und der gekränkte Partner fühlt den Schmerz von damals und erkennt nicht, dass die aktuelle Bemerkung zwar etwas Altes ausgelöst, aber nicht verursacht hat.

Durch Achtsamkeit, Bewusstwerdung, Reflexion und Selbstverantwortung für die eigene „Verletzung“ könnte aus dem (schuldzuweisenden) Vorwurf „Du hast mich verletzt“ folgende Selbsterkenntnis werden: „Deine Bemerkung löst in mir einen alten Schmerz aus, der sich wie eine Verletzung anfühlt. Beim näheren Hinspüren wird mir bewusst, dass mich das an die Situationen xy erinnert, als ich xy erlebt habe. Du hast keine Schuld daran, dass ich diese Kränkung von damals noch in mir habe und diesen Schmerz noch immer spüre, wenn du solch eine Bemerkung machst. Könntest du mich bitte jetzt in Ruhe lassen (oder in den Arm nehmen, je nachdem), denn … es tut grad so weh, und ich brauche jetzt xyz“.

Solch eine Ansage klingt zwar zunächst etwas umständlich und ungewöhnlich und braucht eine Portion Übung, hat aber auf den Partner und die Beziehung eine ganz andere Wirkung als: „Du hast mich verletzt“. Solch eine Formulierung greift den Partner nicht an, macht ihn nicht zum Täter, man macht sich selbst nicht zum Opfer. Durch das Ausbleiben von Vorwürfen entsteht keine Schuldzuweisung und der Partner landet nicht auf der „Anklagebank“. Folglich geht er auch nicht in die Verteidigungsund Rechtfertigungsposition. Übrigens: Ungerechtfertigte Schuldzuweisungen können entwürdigend sein – für die einen, weil sie zu Unrecht beschuldigt werden (wenn sie de facto unschuldig sind) und für die anderen, weil sie keine Verantwortung für sich übernehmen. Die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung für die eigenen Emotionen und Befindlichkeiten kann ein Charakteristikum reifer, gewachsener Persönlichkeiten und eine gute Basis für gelingende Beziehungen sein.

Frei vom Werten – geht das?

Auf meinem Weg begegnete mir auch die Frage: „Kann man sich davon befreien, zu werten?“ Ich fand für mich heraus: Ja, das kann man. Aber es machte für mich keinen Sinn. Denn als ich es ausprobierte und eine Zeit lang nicht wertend durchs Leben ging, machte ich folgende Erfahrung: Wenn ich nicht wertete, dann konnte ich mich auch nicht wertschätzen oder gar wertvoll fühlen, an Selbstliebe gar nicht zu denken. Nicht werten bedeutete, „wertfrei“ zu denken und zu fühlen, und „frei von Wert“ wurde in meinem Erleben mit „wertlos“ gleichgesetzt. Ein Gefühl der Wertlosigkeit breitete sich in mir aus, und das wiederum war noch unangenehmer als meine empfundene Minderwertigkeit in der Jugend. Denn da hatte ich zwar einen minderen, aber doch immerhin irgendeinen Wert. Ein wertloses Leben schien mir ein sinnloses Leben zu sein, und das machte für mich keinen Sinn. Also tauschte ich flugs meine wertfreie Haltung wieder gegen eine wertende, nur diesmal mit der Änderung, mehr aufzuwerten und wertzuschätzen statt abzuwerten und geringzuschätzen. Das betraf sowohl mich als auch andere, unter anderem meine Eltern, meine Vergangenheit, meine Ex-Partnerschaften, meine Gegenwart und vieles mehr. Durch Wertschätzung wurde die Aussöhnung mit meinen Eltern überhaupt erst möglich, und diese versöhnte „Erstbeziehung“ ist das Fundament meines heutigen Selbstbewusstseins.

 

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