Der in Sachsen geborene bekannte Kulturanthropologe, Ethnobotaniker und Buchautor Wolf-Dieter Storl wanderte mit seinen Eltern im Alter von elf Jahren in die USA, ins ländliche Ohio, aus. Was aus „seinem“ Amerika heute geworden ist, traf ihn bei einem Besuch vor wenigen Jahren wie ein Kulturschock. In seinem neuen Buch „Mein amerikanischer Kulturschock“ erzählt er davon.

Es war im Jahr 2013, da rief mich meine Schwester an und sagte, dass unsere 96-jährige Mutter hingefallen sei, sich sieben Rippen gebrochen hätte und nun ins Pflegeheim müsse. Wer weiß, wie lange sie noch hätte; wir sollten sofort kommen. Also, ab in die USA. Die alte Frau war im Rollstuhl, aber sonst fit und geistig wach. Das Heim, in dem wir sie fanden, gehört zu einer überregionalen Pflegekette, einem Zwei-Milliarden- Dollar-Unternehmen mit Niederlassungen in mehreren Bundesstaaten; es ist wie etwa McDonald’s oder Wal-Mart ein gewinnorientierter Konzern, einer, der sich auf Massenhaltung von pflegebedürftigen Senioren spezialisiert.

Statt Rinder, Hühner oder Schweine eben alte Menschen. Die Mutter fühlte sich da wie im Gefängnis, entmündigt und professionell abgefertigt. Bald würden ihr ihre Lebensersparnisse ausgehen und sie müsste ihr Haus verkaufen. Ich war natürlich schockiert. Meine Schwester sagte, das sei überhaupt die gegenwärtige Entwicklung: Großkonzerne beherrschen im heutigen Amerika immer mehr das Leben der Menschen. Bis ins kleinste Detail. In den Familien wird kaum mehr gekocht: Konzerne wie McDonald’s, Burger King, Arbeys Beef, Taco Bell, Pizza Hut und wie sie alle heißen kochen für die Massen. Ähnlich sei es in der Landwirtschaft: Agrarkonzerne, Saatgutmultis, Chemie- und Ölgiganten beherrschen die Erzeugung von Nahrungsmitteln. In den drei Wochen, in denen ich da im Mittelwesten blieb, fuhr ich jeden Tag durch die Landschaft, die ich von meiner Jugend her kannte. Die Familienfarmen, auch die, von denen meine Schulfreunde kamen, waren verschwunden. Wo es einst richtige Bauernhöfe gab – mit Kühen samt Stier, Ponys für die Kinder, Gehegen mit freilaufenden Schweinen, Hühnern mit Gockel und Küken, Truthähnen, Gärten mit einer Vielfalt von Gemüse und Obst, Getreidefeldern und Weiden – sieht man nun endlose Monokulturen mit genverändertem Mais und Soja.

Von Totalherbiziden weggeputzt

Kein »Unkraut« wächst zwischen den Reihen – alles wird mit Totalherbiziden weggeputzt. Wenige Insekten sind zu sehen – nicht nur wegen Spritzungen mittels Flugzeug und Hubschrauber, sondern auch wegen der Einschleusung von Bacillus-thuringiensis-Genen in das Erbgut der Mais- und Sojapflanzen. Insekten, die daran fressen, oder Bienen, die die Pollen sammeln, sterben. Die Straßenbeleuchtungen werden nachts kaum mehr von Faltern und Käfern umschwirrt; die Windschutzscheiben der Autos bleiben sauber. Auch die Abermillionen von Leuchtkäfern, die einst, einem Feuerwerk gleich, nachts durch die lauen Lüfte des Mittelwestens tanzten, sucht man vergebens.

Zwischen den Maiswüsten sah ich hier und da die verlassenen, eingefallenen Häuser und Scheunen der einstigen Familienfarmen – das heißt, wenn sie nicht schon wegplaniert worden waren, um den Monstermaschinen freien Manövrierraum zu lassen. Die einst blühenden kleinen Ortschaften – auch sie kannte und liebte ich als Junge – verwandeln sich immer mehr in Geisterstädte. Wo einst Gaststätten, Geschäfte, Werkstätten, Läden und Kinos gediehen, bleiben nur noch Tankstellen und Fast-Food-Restaurants für den durchrollenden Fernverkehr. Konzerne haben die Macht an sich gerissen. Sie beherrschen zunehmend die Politik, die Medien, die Erziehung.

Die mit Zucker (Maissirup) überfütterte Bevölkerung, abgelenkt und „unten gehalten“ durch endlose banale Unterhaltung, scheint diesen neuzeitlichen Feudalismus kaum wahrzunehmen. Ich muss zugeben, ich war fassungslos. Was sich da abspielte, war, gelinde gesagt, eine Katastrophe.

Was nicht sein darf, ist nicht

Kurz nach diesem Amerikabesuch wurde ich zu einer Talkshow im deutschen öffentlichen Fernsehen eingeladen. Da habe ich von meinen Eindrücken im gelobten Land erzählt. Ich merkte, das kam nicht bei allen gut an. Ich weiß gar nicht, ob das alles gesendet oder ob einiges herausgeschnitten wurde. Viele Talkshows scheinen live zu sein, aber oft werden die Aufzeichnungen zeitlich überzogen, so dass man Unerwünschtes oder Vermasseltes gut herausnehmen kann. Auf jeden Fall erzählte mir nach der Sendung einer der Talkgäste, er sei zehn Jahre lang Berichterstatter in Washington gewesen, er kenne die USA, und was ich da erzähle, sei nicht ganz richtig.

„Ich habe dort lange gelebt“, erwiderte ich, „ich kenne Amerika, und zwar von den Graswurzeln her.“ Ein anderer prominenter Gast pflichtete dem Korrespondenten bei: „Nur weil man einige Jahre in einem Land gelebt hat“, sagte er in einem leicht überheblichen Ton, „bedeutet das noch lange nicht, dass man es wirklich kennt!“ Vielleicht stimmt es, was einer meiner Bekannten behauptet, dass nämlich die Reporter und Journalisten der öffentlichen, von Steuergeldern unterstützten Medien angehalten sind, den großen Bruder von Übersee in einem positiven Licht erscheinen zu lassen, sonst seien sie ihrer Stelle nicht sicher. Aber das ist wahrscheinlich wieder so eine stupide Verschwörungstheorie.

Der Adler ist gelandet

Rückblende. Für den 20. Juli 1969 war die Landung der Apollo-11-Raumfähre auf dem Mond angesagt. Es war an einem Sonntag, und die ganze Nation befand sich in gespannter Erwartung. Das amerikanische Wappentier, der stolze Weißkopfadler, war das Abzeichen der Mission und würde bald auf dem Erdtrabanten landen. Vor den Russen! Diese konnten sich ihren Scheißsputnik sonstwohin stecken. Meine Freunde, auch meine damalige Freundin und spätere Frau Faye, saßen alle wie gebannt vor dem Fernseher; das historische Ereignis wurde live übertragen. Auch mich bewegte das Ereignis. Ein Sterblicher sollte seinen Fuß auf den Mond setzen! Was für ein Frevel!

War das Nachtgestirn doch immer, in fast jeder Kultur, als eine hohe Gottheit verehrt worden, als Gemahl oder Gemahlin der Sonne. Sonne und Mond, Sol und Luna, Helios und Selene galten wie Yang und Yin, Tag und Nacht als Symbol für jeweils eine Hälfte der Schöpfung! Nach alter Überlieferung ist der Mond der erste Aufenthaltsort der Toten, nachdem diese ihren Körper verlassen haben. Für die Katholiken war er das Gestirn der Himmelskönigin Maria. Der wandelhafte Mond, der das Gemüt bewegt, der manchen Wankelmütigen in den Wahnsinn treibt und den Verliebten und Poeten mild leuchtet!

Der Wandelstern, der die Menschen das Denken lehrte – Mensch, mental, messen, das englische Wort mind und ähnliche Begriffe hängen mit dem indoeuropäischen Stammwort menot (Mond) zusammen. Der Mond, der bei Ebbe und Flut den Meeresspiegel hebt und senkt, dessen Rhythmus die Menses der Frauen regiert. Der heilige Mond – der soll nun von menschlichen Füßen profaniert und getreten werden? Ich musste an das Gedicht von E. E. Cummings „O süße, eigensinnige Erde“ denken: „Wie oft, o süße spontane Natur … wie oft hat der freche Daumen der Wissenschaft deine Schönheit angebohrt.“ (Oh sweet spontaneous earth …how often has the naughty thumb of science prodded thy beauty.)

Mondlandung: zwischen Patriotismus und Propagandastunt

Ich war erschüttert, aufgewühlt und legte die Langspielplatte mit der Johannes- Passion von Johann Sebastian Bach auf, um meinen Gefühlen eine Bahn zu verschaffen. „Hör sofort mit der verdammten Scheißkrautmusik auf!“, riefen die Freunde, die vor dem Fernseher wie vor einem Altar knieten, „hier findet ein Weltereignis statt!“ Sogar Terry, der ja Bach besonders liebte, meckerte herum, ich sollte doch endlich mit fernsehen, die Dialoge zwischen Houston und den Astronauten würdigen. Mein Verhalten sei unpatriotisch. Mir blieb nichts anderes übrig, als hinauszugehen, frische Luft zu schnappen. Es war schon dunkel, die Luft war mild, und der zunehmende Mond war am Himmel klar zu sehen. Kein einziger Mensch war unterwegs, kein Auto fuhr vorbei, als ich, einsam wie Adam, die High Street entlanglief. Überall hinter den Fenstern flimmerte das bläuliche Licht der Fernsehapparate. Während ich den Mond anstarrte, hörte ich auf einmal Schritte näherkommen. Da war doch noch ein Mensch unterwegs!

Es war Jerry Weinberg, ein Student, der im Aussehen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem jüngeren Woody Allen hatte und mit dem ich befreundet war. „Ich kann’s nicht glauben!“, sagte ich und meinte damit den Frevel, der an der für mich sakralen Natur begangen wurde.“Ich glaube es auch nicht“, gab Jerry nüchtern zurück. Erst später wurde mir klar, was er meinte. Er glaubte, das Ganze sei ein Schwindel, eine Verarschung der Bevölkerung, ein Propagandastunt. Er war sich sicher, dass die grandiose Szene in einem Filmstudio gedreht worden war. Die Mondlandung – »Houston … der Adler ist gelandet« – wurde in den folgenden Tagen immer wieder übertragen, so dass ich es mir später zur Genüge anschauen konnte.

Was da gezeigt wurde, war eindeutig ein religiöses Ereignis, es war eine Hochmesse des American Way of Life. Man hatte es den Russen gezeigt! Der Weißkopfadler hatte den Bären gedemütigt! Dagegen war der Sputnik ein müder Furz.

Was ist Amerika?

Der Komiker Bob Hope witzelte: „Unsere deutschen Raketenwissenschaftler sind besser als eure! Ätsch-bätsch!“ Das bezog sich auf Wissenschaftler wie die Eltern meines Freundes Jörg, die nach dem Krieg als Beute unter den Sowjets und den Westalliierten aufgeteilt wurden. Bei der TV-Übertragung des Abhebens der Saturn-Rakete von Cape Canaveral (Kennedy Space Center) waren neben Politikern und anderen VIPs auch ein alter Indianer im vollen Federschmuck sowie der älteste lebende Schwarze – er war noch als Sklave geboren worden – mit seinem 80-jährigen Sohn auf der Tribüne zu sehen.

Der Fernsehreporter hielt ihnen das Mikrofon ins Gesicht und fragte stolz, was sie über die Weltraumrakete dachten, die da gerade abgehoben war. Der Indianer wie auch der Schwarze sagten, sie glaubten keineswegs, dass es dieses Ding bis zum Mond schaffen könne. Na ja, gab man den Zuschauern mit einem gönnerhaften Lächeln zu verstehen, was könne man auch von solchen rückständigen, im Aberglauben befangenen Primitiven anders erwarten? Sie haben eben keine Ahnung vom Fortschritt und der Macht der (weißen) Wissenschaft. Ich behaupte noch immer, Amerika gut zu kennen. Von innen her. Wie ein Drache hat es mich verschluckt und als unverdaulich wieder ausgespien.

Ich bin dem American Way of Life, diesem vereinnahmenden, quasireligiösen Kult durch die Lappen gegangen. Und da ich Amerika gut kenne – und die Menschen dort auch liebe – will ich meinen europäischen Zeitgenossen davon erzählen. Denn trotz der weltumspannenden McDonaldisierung, trotz der Allgegenwart Hollywoods, dessen Stars nun auch unsere Rollenvorbilder geworden sind, habe ich den Eindruck, die Europäer verstehen wenig von Amerika. Die Schockstarre, in dem sich die europäischen Intellektuellen und Massenmedien befanden, nachdem Donald Trump – völlig unerwartet – den Wahlsieg davontrug und zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten wurde, zeigt das ganz deutlich. Amerika tickt nicht nach unseren Wunschvorstellungen. Amerika ist anders.

Über den Autor

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geb. 1942, ist Kulturanthropologe und Ethnobotaniker. Er lehrte als Dozent an verschiedenen Universitäten und hat zahlreiche Bücher publiziert, die zu Longsellern wurden. Seit 1988 lebt er mit seiner Familie auf einem Einödhof im Allgäu, streift durch die Wälder, gärtnert, schreibt Bücher und bietet Seminare an.

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Weitere Infos und VVK über Gutes Gelingen unter Tel.: 030-36 28 44 92
o. 0151-15 31 37 62 oder info@gutesgelingen.de.
Ebenfalls VVK in der Dharma- und Daulat-Buchhandlung, im Tara-Nepal-Basar und
direkt über www.storl.de/veranstaltungen
Mehr Infos

Wolf-Dieter Storls neues Buch „Mein amerikanischer Kulturschock“ ist im August erschienen. Es beschreibt die spannende, authentische Abenteuergeschichte eines jungen Deutschamerikaners und gibt tiefe Einblicke in die verborgensten Winkel der amerikanischen Gesellschaft. Vortrag und Leseabend mit Storl am 19. September 2017 um 19 Uhr in der Zwölf-Apostel- Kirchengemeinde, An der Apostelkirche 1, 10783 Berlin. Eintritt: 20 €

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2 Responses

  1. Oliver
    Auch bei uns...

    Ich habe den Eindruck, dass wir uns sehr schnell in dieselbe Richtung bewegen. Die Welt ist in unserer Kultur nur noch Manipuliermasse für einen hemmungslosen Konsum. Dass die Erde, Tiere, Pflanzen, Landschaften und andere Menschen eine eigene Schönheit haben, die wir respektieren sollten, anstatt sie zu nutzen, vergessen auch wir immer mehr.
    Selbst der „Umwelt“-schutz wir uns immer mehr zu einer rein technischen Aufgabe, die wir nur in Angriff nehmen, weil es in unserem eigenen Interesse liegt. Dass unser Respekt vor der Erde und allem Lebendigen eine radikale Umkehr verlangen könnten hin zu mehr Bescheidenheit, das scheint weitgehend aus dem Blickwinkel geraten zu sein. Irgendwie waren wir da in den 80ern schon einmal weiter.

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  2. Elke
    die U.S.A.

    Ich war einmal in den U.S.A.. Was mich schockierte, war z.B. die Tatsache, dass Wohngebiete (aus der Luft betrachtet!) total geplant sind, gleich aussehen und hierfür alles natürliche eingeebnet wird, alte Bäume weichen müssen und Rollrasen verwendet wird plus Pestizide!! Und dass das Trinkwasser sehr gechlort wird, auch in dörflichen Strukturen.
    Ich war in meiner Jugend ein großer Amerika-Fan und wollte da unbedingt mal hin.
    Was sich dann immer mehr veränderte, als Bush sen. und später Bush jun. das Regiment übernommen haben.
    Mir tut irgendwie die Bevölkerung leid, weil sie ihre Situation offenbar nicht erkennen können. Ich traf Reisende in Europa, die ich nicht beleidigen wollte. Alleine an ihren Aussagen konnte ich ihr Nichterkennen wahrnehmen.
    Europa ist und bleibt die Mutter von den U.S.A., leider haben sich die Kinder dieses Stammbaumes weit manipulieren lassen.
    Ich finde dieses Land nach wie vor sehr schön, a bissl trocken vielleicht. Und manches was aus den U.S.A. kommt, ist wunderbar, innovativ und der aktuellen Zeit angepasst.
    Ich freue mich jedenfalls, wenn dieses Land wieder zu einer echten Schönheit, Aufgewecktheit, Mut und Lebensqualität findet.
    Hier in Europa haben wir andere Aufgaben: raus zu kommen aus den alten Schuhen, zu prüfen, was uns noch gut tut in unserer Zeit, manche Strukturen verändern, freier werden in den Gesellschaften und selbstbewusster in der Kooperation untereinander.
    Alles Liebe Elke (Tirol)

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