Familienstellen ist eine wunderbare Methode zum Auflösen familiärer Verstrickungen. Doch auch dieses therapeutische Instrument hat Grenzen – findet Manfred Rother. Sein Ansatz nutzt das Familienstellen als ersten Schritt und als Tor, um dann noch tiefer zu gehen. Im Interview mit Jörg Engelsing sagt er wie.

Sie arbeiten seit über zehn Jahren als Familienaufsteller. Was hat sie bewogen, nach tieferen Lösungen zu suchen?
Alle meine Ausbildungen in Gestalttherapie, Psychodrama, Schamanismus, aber auch die Beschäftigungen mit Weisheitssystemen wie Sufismus und Kabbalah und meine Arbeit als Familienaufsteller haben immer nur ansatzweise meine Suche nach einem Gefühl der Fülle oder Ganzheit befriedigt.

Und nach fünf Jahren Mysterienschule bei OM C. Parkin sind Sie jetzt auf eine Lösung gestoßen, wie es weitergehen kann, wenn die Grenzen der Familienaufstellung erreicht sind?
Ja, man geht noch weiter in die Tiefe, zum Beispiel im Hinblick auf die Prägungen des Vaters oder der Mutter, die wir unbewusst übernommen haben. Beim Familienstellen übergibt man beispielsweise die Last symbolisch mit einem Stein, begleitet von einem Lösungssatz, den Eltern zurück: „Ich lasse das Schwere bei dir.“ Die Geste und der Satz befreien für einen Moment, aber das reicht nicht unbedingt, um wirklich in der Tiefe eine Veränderung hervorzurufen. Hinter unserer Persönlichkeit stehen nicht nur unsere Eltern und deren Eltern, sondern ein Jahrtausende alter Geist, der uns unbewusst geprägt hat. Erst die tiefe Erforschung, was wir da übernommen haben, kann wirkliche Befreiung für das eigene wahre Selbst ermöglichen.

Mit dem Familienstellen kann man also Missverhältnisse und Verstrickungen erst mal erkennen, und dann geschieht die Heilungsarbeit mit der vertiefenden Erforschung ?
Ja, diese Kombination ist einfach sehr effektiv. Beim Familienstellen wird deutlich, wo und wie Identifikationen mit Elternteilen bestehen, und erste Lösungsrituale haben durchaus auch eine gewisse Wirkung. Aber um wirklich Transformation zu erfahren, braucht es vertiefende innere Arbeit.

Zum Beispiel?
Meine Urverletzung war das mit aller Gewalt missbrauchte Kind. Familienstellen, Gestalttherapie und Psychodrama konnten eine Tür öffnen, aber die traumatischen Verletzungen ruhten weiterhin unter dem Schutz von unbewussten Abwehrmechanismen, die den tiefen Schmerz nicht fühlen wollten. In der Mysterienschule bin ich diesen Verletzungen und Abwehrmechanismen des Nicht-erkennen- und fühlen-Wollens auf den Grund gegangen. Man kommt an den tiefsten Punkt des Schmerzes und geht durch die dunkle Nacht der Seele. Nachdem ich dieses Gefühl noch einmal bewusst wahrgenommen hatte, gingen bei mir Türen zu Gefühlen auf, von denen ich zwar schon mal gehört, sie aber noch nie gefühlt hatte: Freiheit, Glück, Tiefe, Weite und die Leichtigkeit des Seins. Dafür haben sich meine Gefühle von Einsamkeit und Getrenntheit verabschiedet. Wenn ich heute in Konfliktsituationen komme, kann ich sie ganz leicht auflösen, ohne in diese Kampfhaltung von früher zu verfallen. Die Kernsätze, die in der Tiefe gefunden werden, wirken wie Akupunkturnadeln, die einen heilsamen Schmerzimpuls setzen, der die Urverletzung durch das Fühlen auflöst.

Was ist das Ziel Ihrer Arbeit?
An die wesentlichen Ebenen unseres Seins zu gelangen. Um zum Beispiel in Kontakt mit dem göttlichen Kind in uns zu kommen – ein Aspekt unseres Seins – müssen wir den Weg über das Menschsein gehen und damit auch durch das Leid, das unser Menschsein mit geprägt hat. Hier geht es darum, die Seele mit fühlender Intelligenz zu erforschen und die Leid erzeugenden Mechanismen des ichhaften Geistes aufzudecken. Es geht dabei nicht um ein Aha-Erlebnis, sondern es ist eher wie das Schälen einer Zwiebel – Schicht für Schicht. Wenn man einmal bis auf den Grund vorgedrungen ist, ist man frei.

Wie kommt man in diese Tiefen?
Zum Beispiel mit bestimmten Fragestellungen, denen man über einen längeren Zeitraum nachgeht, um an unbewusste Schichten in der Tiefe unserer Seele zu gelangen. Dabei ist auch die Kunst des Nicht-Tuns – ein Geschehenlassen aus der Tiefe in einem inneren Raum der Stille – ein unterstützendes Element. Übrigens fallen nach so einer grundlegenden Arbeit nicht nur die Panzer der Abwehrmechanismen weg, sondern auch die Panzer der Gleichgültigkeit. Mich berühren die Kleinigkeiten im Alltag viel mehr als früher. Ein weiterer „Nebeneffekt“ bei mir war, dass ich mir endlich Hilfe von außen holen konnte, weil sich mein Glaubenssatz „Ich muss alles alleine schaffen“ aufgelöst hat. Wenn diese Öffnung in der Tiefe einmal stattgefunden hat, setzt sich der Prozess jeden Tag fort, und die Mechanismen der Vergangenheit greifen einfach nicht mehr. Die Anfälligkeit für Alltagsstress und Leistungsdruck wird immer geringer. Stattdessen gelangt man zu einem gewissen Innehalten, in dem trotzdem Bewegung ist. Und die Bewegung kommt aus dem Herzen und nicht von unbewusst übernommenen Glaubenssätzen.


Abb.: © Thomas R. – Fotolia.com

Eine Antwort

  1. Franziska
    Das ist nicht ganz richtig.

    Familienstellen kann durchaus bereits in kurzer Zeit langanhaltende Befreiung bewirken, die kein weiteres Erforschen, Therapieren, etc. nach sich zieht. Und vor allem generiert es keinen unnötigen Schmerz. Vorausgesetzt, es wird professionell und sehr empathisch durchgeführt.

    Dazu gehört, dass nicht mit formelhaften Lösungsritualen oder Lösungssätzen gearbeitet wird, sondern der Klient in seiner Individualität wahrgenommen und die Situation tatsächlich aufgelöst wird. Alles andere kann sogar schädigend sein und Leid verursachen. Ich habe beides erlebt.

    Aus heutiger Erfahrung kann ich nur raten: Hört auf eure Intuition. Geht es euch nach der Familienaufstellung nicht gut, dann war sie auch nicht gut. Habt ihr den Eindruck, eure Grenzen werden nicht respektiert, dann werden sie auch nicht respektiert. Lasst euch nicht dazu hinreißen, Formeln nachzusprechen, die nicht aus eurem eigenen Empfinden stammen.

    Und dann geht, und sucht euch einen erfahrenen Familiensteller, der euch sieht, euch ernst nimmt und sich auch die Zeit für euren individuellen Prozess nimmt. Eine gute Aufstellung erkennt ihr daran, dass sie euch nachhaltig befreit und versöhnt. Nicht daran, dass sie neue Probleme verursacht und/oder dem Familiensteller eine langfristige Einkommensquelle eröffnet.

    Ich habe viele Jahre gebraucht, um einen Familiensteller meines Vertrauens zu finden. Doch Familienstellen kann tatsächlich ein wunderbares Instrument sein, das vielen Therapien um Längen überlegen ist.

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