Er könnte sich sein Leben lang als Opfer fühlen, doch er entschied sich anders: Dr. Alex Hershaft hat das Warschauer Ghetto überlebt – und widmet sein Leben jenen, die keine Stimme haben. Denn hinter dicken Mauern wird Tag für Tag Gewalt an Unschuldigen ausgeübt: an den Tieren, die wir essen.

Von Katrin Kasper

Es ist ein kühler Herbstabend in Berlin, wir sind verabredet in einem Straßencafé in Neukölln. Wegen Corona warte ich lieber draußen. Dr. Alex Hershaft kommt gerade von Dreharbeiten für eine neue Tierrechts-Doku, in der er sich selber spielt. Mit wachem Blick und leichtem polnischen Akzent begrüßt er mich. Ich stutze: Kann dieser Mann wirklich schon 87 sein? Ich mustere sein glattes Gesicht, in Amerika ist ja vieles möglich. Aber operiert sieht Hershaft kein bisschen aus, auch sein waches Lächeln ist jungenhaft, nur seine Hände verraten sein wahres Alter. Umstandslos setzt er sich auf den Klappstuhl neben mir, an einen schlichten Biertisch mitten auf dem schmuddeligen Trottoir.

Hershaft hat es schon deutlich unbequemer in seinem Leben gehabt. Der gebürtige Pole war erst fünf Jahre jung, als er Zeuge und Opfer eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheit wurde: Die Nazis sperrten den in Polen geborenen Juden mit seiner Familie ins Warschauer Ghetto, das furchtbare Sammellager für Deportationen in die Todesfabrik Treblinka. Die Bewohner litten unter Hunger, Seuchen und Gewaltexzessen der Nazis, den Tod ständig vor Augen. Doch 1942 entkamen Alex und seine Mutter den Gaskammern – dank eines russischen Kindermädchens, das den Jungen als ihren Sohn ausgab. Bis zur Befreiung 1924 versteckten sie sich unter polnischen Nichtjuden. Seinen Vater, einen bedeutenden Chemiker, und seine Großeltern hat er nie wiedergesehen.

Die Unterdrückung der Tiere ist die Einstiegsdroge“

Nur wenige Tage vor unserem Treffen war Hershaft wieder in Polen. Dort hatte der US-Bürger sich in die obligatorische Corona-Quarantäne begeben – und Auschwitz besucht, zum zweiten Mal in seinem Leben. Warum tut er sich das an? „Wir dürfen nicht vergessen“, sagt Hershaft sanft. „Das Opfer meiner Familie und der Menschen, die im Holocaust umgekommen sind, ehren wir am besten, wenn wir zeigen, dass es nicht vergeblich war, sondern dass wir etwas daraus gelernt haben.“ Seine Lektion: „Wir sind immer zur Unterdrückung fähig. Und die Unterdrückung der Tiere ist die Einstiegsdroge zur Unterdrückung von Menschen.“

Starker Tobak. Ich lasse den Satz auf mich wirken, frage nach, wie er das meint. Hershaft zieht den Reissverschluss seines Blousons hoch, holt tief Luft, dann sagt er ruhig: „Wenn wir einem Kind erzählen, dass der Hund auf seiner Couch geliebt und wertgeschätzt werden soll, das Schwein auf seinem Teller aber missbraucht und geschlachtet, bringen wir ihm bei, dass es okay ist, ausgewählte fühlende Lebewesen zu diskriminieren, zu unterdrücken und zu töten. Wir werden also auf ein selektives Mitleid konditioniert – wer sich schon mal mit ethnischen Konflikten beschäftigt hat, kennt das Prinzip: Die Gesellschaft normalisiert das Ausgrenzen und Abwerten anderer, es wird Teil unserer sozialen Identität. Und jeder, der die Legitimität dieser Grenze in Frage stellt, wird als Bedrohung wahrgenommen.“ 

Flashback im Schlachthof

Hershaft ist so einer, der diese unbequemen Fragen stellt. Allerdings fällt es mir schwer, in diesem sanften älteren Herrn eine Bedrohung zu sehen. Wir bestellen uns jeder eine vegetarische Bowl – ohne Feta-Käse: Mein Gesprächspartner ist nicht nur Vegetarier seit 60 Jahren, sondern seit 40 Jahren Veganer. Er isst nichts vom Tier. Ist das vielleicht auch sein Anti-Aging-Rezept? „Bestimmt“, schmunzelt Hershaft und räumt ein: „Ich gehe aber auch jeden Tag eine Stunde Schwimmen oder Joggen, und Freitagabends zum Tanzen – das hält mich fit.“

Tatsächlich strotzt dieser Mann vor Energie. Nur so ist auch zu erklären, dass er bis heute, mit seinen bald 90 Jahren, Vorsitzender von FARM (kurz für: Farm Animal Rights Movement) ist, der weltweit ersten Tierschutzbewegung für Nutztiere. „Unterdrückung kann viele Opfer haben. Tiere sind die verletzlichsten fühlenden Wesen auf der Erde – und daher die am meisten unterdrückten“, sagt Hershaft. „Jedes Mal, wenn wir Tiere essen, unterstützen wir die größte Gewaltherrschaft in der Geschichte.“ Noch so ein Satz, der erst mal einsickern muss, bevor er seine volle Wucht entfaltet. Hershaft blickt mir freundlich in die Augen und legt gleich nach: „Wenn die Unterdrückung von Tieren nicht länger akzeptiert wird, werden auch andere Formen der Gewalt verschwinden.“

Gewalt und Unterdrückung – damit kennt Hershaft sich aus, aus eigener reichlicher Erfahrung. Nach dem Krieg lebte er fünf Jahre in einem Flüchtlingscamp in Italien. Mit 16 wanderte er in die USA aus – alleine, seine Mutter hatte kein Visum bekommen. Im Gedenken an seinen ermordeten Vater studierte er Chemie, promovierte und machte Karriere in der Umweltforschung. „Für eine Beratungsfirma sollte ich 1972 in einem Schlachthof das Abwasser untersuchen“, erzählt Hershaft. Dort sah er bergeweise Körperteile von Tieren. Dieser Anblick erinnerte ihn an den Holocaust: „Mir wurde schlagartig klar: Eine friedvollere Welt wird erst möglich, wenn wir Gewalt und Unterdrückung in keiner Form tolerieren – auch nicht gegenüber Tieren.“ 

Tierrechts-Aktivismus

Vordenker des Veggie Days

Die Liebe zur Natur und zum Leben hatte Dr. Alex Hershaft schon immer bewegt: Bevor er sich dem Tierschutz zuwandte, gründete er Anfang der 60-er Jahre einen Verein gegen die Unterdrückung säkularer Juden in Israel und war jahrelang im Vorstand der American Humanist Association. Die Liste seiner Auszeichnungen und Ehrenämter ist lang, doch die größte Bekanntheit erlangte die 1976 von Hershaft gegründete amerikanische Tierrechtsbewegung FARM. Sie ist bis heute berühmt für ihre gewichtigen internationalen Konferenzen und für ihre aufsehenerregenden Kampagnen.

So organisierte Hershaft als FARM-Vorsitzender unter anderem die amerikanische Animal Rights Conference, die jedes Jahr Tausende von Aktivisten inspiriert hat. Er hat den Welttag für Nutztiere ins Leben gerufen, mit alljährlichen Protestaktionen vor Schlachthäusern. Und er schuf mit Meatout die weltgrößte Ernährungskampagne einer Basisbewegung. Sie stand unter anderem Pate für den Meatless Monday von Paul McCartney und den Veggie Day, den die Grünen in Deutschland 2013 forderten, was in weiten Teilen der Bevölkerung für Schnappatmung sorgte. „Viele betrachten den Vorschlag, zumindest an einem Tag auf Fleisch zu verzichten, als Eingriff in Ihre Persönlichkeitsrechte“, weiß Hershaft. „Dabei blenden sie das Recht der Tiere auf ihr Leben völlig aus.“

Tierrechts-Aktivist

Hungerstreik vorm Weißen Haus

In seinem Einsatz für die Tiere ist Hershaft sich für keine Aktion zu schade. Er saß schon in den 80-er Jahren im Hungerstreik vor dem Weißen Haus, angekettet in einer Kälberkiste. „Nachts checkten Polizisten, ob ich schlief“, erinnert sich Hershaft. „Das wäre verbotenes ‚Camping‘.“ In Tel Aviv fuhr er in einem Viehtransporter durch die Straßen, in graue Lumpen gehüllt und mit gelber Marke am Ohr. Er schrieb Hunderte von Leserbriefen über die Vorzüge einer veganen Ernährung. Und auch heute wirbt er noch an Touristenorten in Washington mit Protestschildern für den Meatout-Tag. 

Über 50 Jahre kämpft Alex Hershaft nun schon für die Tiere, trotz aller Widerstände. Er ist einer der ältesten und einflussreichsten Tierschützer der Welt. Seine Botschaft findet nicht nur in den USA Gehör, sondern auch in Israel, Großbritannien und Polen, wo er vor großem Publikum sprach. Viele Medien berichteten über ihn und seine Aktionen, darunter internationale Zeitungen wie der London Evening Standard, die Jerusalem Post, Haaretz und die Times of Israel. Die mediale Aufmerksamkeit ist ihm ein persönliches Anliegen – nicht etwa aus Eitelkeit, sondern seiner friedlichen Mission wegen. Hershaft: „Unterdrückung funktioniert nur, wenn die Masse stillschweigend kooperiert. Wir werden heute nicht erschossen, wenn wir uns widersetzen. Und eigentlich müssen wir nur unseren Speisezettel ändern!“

Besondere Botschaft für Deutschland

Hershafts größte Inspiration ist der israelische Schriftsteller und Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, der eine seiner Figuren in einer Kurzgeschichte sagen lässt: „Für sie [die Tiere] ist jeder Mensch ein Nazi; für die Tiere herrscht jeden Tag Treblinka.“ In Israel, weltweit der größte Hotspot für den Veganismus, ist dieser Vergleich durchaus salonfähig. Auf einer seiner Reisen nach Israel traf Hershaft sich 2015 auch mit Reuven Rivlin, dem damaligen israelischen Präsidenten. Sein Mitbringsel für den Langzeit-Vegetarier: ein T-Shirt mit der Aufschrift „I don’t eat my friends“ – ich esse meine Freunde nicht. 

Tierrechts-Aktivismus

In seinen Vorträgen und Workshops inspiriert Hershaft zum Nachdenken und Mitfühlen – und zum aktiv werden. Er selbst ist dafür das beste Beispiel: „Ich werde für die Tiere kämpfen, solange ich lebe“, sagt er, und seine Energie sprüht bis in mein Herz. „Wir alle haben eine friedvollere Welt verdient, in der wir fühlenden Lebewesen kein unnötiges Leid zufügen. Das ist meine Lebensaufgabe, und ich werde nie aufhören, Menschen dazu zu motivieren, sich für ein gewaltfreies Leben ohne Unterdrückung zu entscheiden.“ Und seine Botschaft für Deutschland? „Mein Traum ist, dass Deutschland das erste Land ist, das die Tierfabriken und Schlachthöfe verbietet“, sagt Hershaft und lächelt leise. 

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