Wie wir von der Anstrengung des Werdens in die Leichtigkeit des Seins kommen können. Eine therapeutische Sicht auf unsere Ent-Wicklung von Yvonne Irle.

Hast du dich schon mal gefragt, wer du eigentlich bist oder was dich ausmacht? Versuchst du ständig, jemand zu werden, das heißt, deinen eigenen Ansprüchen oder denen anderer zu genügen? Womöglich bemerkst du dabei, dass du mal freundlich, mal wütend, mal liebend, mal ablehnend, mal gelassen, mal angespannt bist. Wer also bist du wirklich? Was macht dich wirklich aus? Aus meiner Sicht tragen alle Menschen alle Eigenschaften in sich, doch Das-was-wir-wirklichsind liegt darunter.

Was meine ich damit? Wenn ein Kind auf die Welt kommt, machen Eltern oft die Erfahrung, dass es bereits einen eigenen Charakter mitbringt. Im Laufe der Kindheit erlernen wir dann Verhaltensmuster, die uns Eltern oder andere Bezugspersonen vermitteln, ohne sie dabei zu hinterfragen. Diese Muster legen sich Schicht um Schicht um uns. Manche davon helfen uns, durchs Leben zu kommen, andere sind für ein freies Leben hinderlich. Wieder andere nützen uns eine Zeit lang, bevor sie uns beeinträchtigen. Durch Erziehung werden bestimmte Verhaltensmuster bewusst vermittelt: Wir sollen zu anderen freundlich sein, in der Schule möglichst zu den Besten gehören oder unsere Wut nicht allzu deutlich zeigen.

Neben diesen bewusst vermittelten Eigenschaften lernen wir weitere Muster, indem sie uns vorgelebt werden. Dazu gehören oft die Scham im Bereich der Sexualität, das Ignorieren unserer inneren Stimme oder die Maxime, unser Wissen höher zu bewerten als die Weisheit unseres Herzens. Diese Aspekte tragen uns weg von Dem-was-wir-wirklich sind: Liebe. Mein Empfinden ist, dass wir in unserem Wesenskern reine Liebe sind.

Die Entstehung von Traumata

Dies zu lesen mag einigen Menschen angesichts dessen, was sie erlebt haben oder wie sie sich selbst sehen, wie Hohn vorkommen. Dies kann vor allem dann der Fall sein, wenn ein Kind frühe Verletzungen durch andere erleben musste. Nicht immer muss das eine Misshandlung oder sexuelle Gewalt sein. Oft sind es gerade die vermeintlich alltäglichen Geschehnisse. So reicht es beispielsweise aus, dass Eltern ihr Kind zu lange schreien lassen, was bis in die siebziger Jahre von Elternratgebern empfohlen wurde. Andere Beispiele sind Krankenhausaufenthalte, unvorhersehbares Verhalten der fürsorgenden Person, ein Zuviel bzw. Zuwenig an Nahrung oder Zuwendung.

Ist ein Kind einer solchen Erfahrung ausgesetzt, kann dies zu einem Entwicklungstrauma führen. An dieser Stelle möchte ich mich kurz an diejenigen wenden, die selbst Mutter oder Vater sind und klarstellen, dass es hier nicht um die Zuweisung von Schuld geht, sondern um die Erklärung von Zusammenhängen. Dem Buch „Gespräche mit Gott“ von N.D. Walsch folgend denke ich, dass ein Kind (eine Seele) sich die Eltern aussucht, um die Erfahrungen zu machen, die es in diesem Leben machen soll. Genauso denke ich, dass die meisten Eltern immer versuchen, ihr Bestes zu geben.

Doch zurück zur Entstehung eines Traumas. Allgemein kann ein Trauma entstehen, wenn ein Mensch in eine Situation gerät, aus der er nicht fliehen kann und in der Kämpfen nicht möglich oder erfolgreich ist. Der Körper geht dann in die Erstarrung. Es spielen sich verschiedene Prozesse im Körper ab, die auch nach dem Erleben einen Einfluss auf das Verhalten der Person haben. Bei der Verarbeitung dieses Geschehens helfen Bewältigungsstrategien, die wir in der Kindheit erlernt haben, wie zum Beispiel Vertrauen aufbauen zu anderen Menschen, zu erfahren, dass ich mich aus eigener Kraft aus Unangenehmem befreien kann und Ähnliches. Bei einem sogenannten Entwicklungstrauma ist der Ablauf der gleiche, mit dem Unterschied, dass es in Zeiten hervorgerufen wird, in denen ein Mensch sich in der Entwicklung befindet.

Es hat Einfluss auf unsere Bindungsmuster. Bleiben wir bei dem Beispiel des Kindes, das man hat schreien lassen, ohne zu ihm zu kommen und ihm Nähe und Geborgenheit zu geben. Ein Baby ist von seinen Eltern bzw. seiner Bezugsperson abhängig. Es kann sich alleine nicht versorgen, kann alleine nicht überleben. Hat es ein Bedürfnis, schreit es, um auf sich aufmerksam zu machen. Wenn jetzt niemand kommt, schreit es wahrscheinlich energischer, damit sich jemand um es kümmert. Aus dieser Situation allein herauszukommen, ist ihm nicht möglich – es kann nicht fliehen. Bleibt es weiter alleine, wird es Todesangst bekommen, da es alleine nicht überleben kann. Irgendwann wird das Kind aufhören zu schreien. Es erstarrt schließlich innerlich und trennt sich so von seiner Verzweiflung ab.

Keine Hilfe erreichbar

Im Gegensatz zu einem Erwachsenen kann das Kind nicht auf bereits erlernte Verhaltensweisen zurückgreifen. Vielmehr ist es gerade dabei, Verhalten zu erlernen. Das heißt, das Kind lernt, dass niemand da ist, wenn es Hilfe braucht. Es lernt nicht, wie es sich selbst regulieren (beruhigen) kann. Solche frühen Prägungen haben Auswirkungen auf den Körper und können auch im Erwachsenenalter noch das eigene Verhalten bestimmen.

Wird beispielsweise eine erwachsene Person, die vorgenannte Erfahrung in ihrer Kindheit erleben musste, von ihrem Partner verlassen, ist es möglich, dass ihr System (ihr Inneres) so reagiert, als müsste sie sterben. Vom Verstand her weiß sie, dass das nicht der Fall ist, doch der Körper hat seine eigene Weisheit und reagiert auf die Situation in gleicher Weise wie früher, sofern das Vergangene nicht – auch im Körper – bearbeitet wurde. Wir haben alle unsere Muster aus unserer Kindheit mitgebracht und geraten alle von Zeit zu Zeit in Situationen, in denen wir den Eindruck haben, dass wir reagieren statt zu agieren. Wir verhalten uns in diesen Situationen anders, als wir es eigentlich möchten, weil unser System reagiert, bevor unser Verstand tätig werden kann.

Es kann sein, dass wir uns dafür hassen oder ganz allgemein mit dem Leben auf Kriegsfuß stehen. Wenn wir es schaffen, uns in diesen Momenten mit der Liebe, die wir sind, zu verbinden, kann Heilung entstehen. Doch wie kommen wir dahin? Je mehr wir uns von den Schichten befreien, die wir im Laufe des Lebens und womöglich der Leben davor erworben haben, desto stärker können wir diesen inneren Kern der Liebe spüren. Die Herausforderung liegt darin, sich auf den Weg zu machen, denn das bedeutet erst einmal, sich den unangenehmen Gefühlen zu stellen, die auftauchen. Das ist ein Weg, der viel Mut und Kraft von uns verlangt und der seine Zeit benötigt. Doch mit jemandem an unserer Seite, der uns wirklich sieht und an uns glaubt, wird der Weg leichter.

Liebevoller Kontakt heilt

Mir wurde das Glück zuteil, diese Erfahrung selber machen zu dürfen. Eine frühe Traumatisierung hat mich lange davon abgehalten, mein Leben aus meinem Herzen heraus zu leben. Dass dem so ist, wurde mir allerdings erst bewusst, als ich eine neue Erfahrung machte. Es war die Erfahrung, dass Menschen mich auf einer tiefen Ebene wahrnehmen und zu mir stehen. Dass sie selbst dann bei mir bleiben, wenn mein Verhalten nicht das freundlichste ist und ich versuchte, sie von mir wegzustoßen, um mich vor neuen Verletzungen zu schützen. Für diese Menschen empfinde ich tiefe Dankbarkeit. Sie halfen mir durch ihr unermüdliches An-mich-Glauben und Bei-mir-Sein dabei, mich selbst durch sie zu erfahren und meiner eigenen Liebe durch die ihre zu begegnen.

Nach und nach kam ich so meinem wahren Sein auf die Spur. Schicht um Schicht legte (und lege) ich erlernte Muster ab und spüre, wer-ich-wirklich-bin – spüre die Liebe in mir. Erst diese Erfahrung ermöglichte es mir, in einen echten Kontakt zu mir und zu anderen zu kommen. Es ist dieser Kontakt, den es braucht, damit Heilung entstehen kann. Über den Kontakt zu anderen erfahren wir uns selbst. Durch die Reaktion anderer auf unser Verhalten gewinnen wir ein Bild von uns. Lernten wir früh, dass andere uns ablehnen, und fehlt uns die Erfahrung von Geborgenheit und Angenommen-Sein, entsteht in uns der Gedanke, dass wir nicht liebenswert sind. Dieses vermeintliche Wissen wird verinnerlicht, ist in unserem Körper gespeichert und „steckt uns in den Knochen“.

Oft geraten wir dadurch wieder an Personen, mit denen wir das Gefühl noch einmal, nur auf andere Weise, erleben, und wundern uns darüber, dass es erneut passiert, obwohl wir doch so sehr versucht haben, dieses Mal anders an die Sache heranzugehen. Um den Kreislauf zu durchbrechen, benötigt es eine neue Erfahrung. Manche Menschen haben das große Glück, eine Beziehung zu finden und zu leben, die ihnen diese Erfahrung bietet. Andere möchten sich dem Schmerz der Vergangenheit gar nicht stellen, und wieder andere finden den Weg in eine Therapie.

Vertrauen aufbauen

Wie aber kann eine Therapie uns neues Verhalten erlernen lassen und uns zu unserem Kern führen? Durch den bereits erwähnten Kontakt, in diesem Fall zur Therapeutin und durch den Einbezug des Körpers in die Therapie. Wenn zwischen Klientin und Therapeutin ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut wird, kann auf dieser Basis Änderung und im Idealfall Heilung entstehen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Therapierenden als Mensch erreichbar sind und sich nicht hinter ihrer Rolle verstecken. In meiner Arbeit als Gestalt- und Traumatherapeutin ist es mir deshalb wichtig, einen echten Kontakt zu meinem Gegenüber aufzubauen, in dem ich ansprechbar und berührbar bin und gleichzeitig den Raum unter anderem dadurch halte, dass ich mir meiner eigenen Themen bewusst bin. Die Erfahrung meines eigenen Weges und die Öffnung, die damit verbunden war, erlauben es mir, nicht nur zu verstehen, sondern auch zu spüren, wo mein Gegenüber sich gerade befindet.

Es ist mir möglich, Menschen in ihrem Kern und ihrem wahren Sein wahrzunehmen: die Liebe zu sehen, die sie sind, genauso wie die Schichten, die darüber liegen. Einen Menschen dabei begleiten zu dürfen, sich von der Schwere zu befreien, die es bedeutet, jemand zu werden, und sich hin zu der Freiheit zu bewegen, die im einfachen Sein liegt, ist eine Herzensangelegenheit für mich. Diesen oder einen Weg mit einem ähnlichen Fokus zu gehen, ist für uns alle wichtig. Es ist der Weg, wie wir die Liebe in die Welt bringen.

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