Es gibt viele Gründe, alles beim Alten zu lassen, und nur einen, etwas zu ändern: Du hältst das alte Elend einfach nicht mehr aus. Rückblicke und Empfehlungen eines „altgedienten“ Therapeuten.

Von Hans-Jörg Gruber

Wenn ich an meine Jugend in den fünfziger Jahren zurückdenke, fallen mir folgende Sätze ein: „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, „Keiner kommt aus seiner Haut heraus“, „Denk an deine Sicherheit“. Obwohl noch sehr jung, bereiteten mir diese „Weisheiten“ damals schon Unbehagen. Wobei zumindest die letzte Aussage unbeabsichtigt fast prophetisch war angesichts des heutigen Arbeitsmarktes. Nun kann und will natürlich nicht jeder unbedingt Beamter werden. Aber was soll oder kann man tun, wenn einen die gesellschaftlich vorgegebenen Bahnen nicht interessieren? Wie kann man einen individuellen Weg jenseits der „Normalität“ einschlagen und sich aus eigenen „systemkonformen“ Haltungen befreien? Wie finden wir überhaupt unseren eigenen Weg?

Dazu müssen wir erst einmal verstehen, was die Gründe sind für die Schwierigkeit der meisten Menschen, eine Veränderung anzustreben: Es sind die Macht der Gewohnheit, Bequemlichkeit und nackte Angst. Die Angst vor der Unsicherheit, sei es beruflich oder privat. Denn Veränderung macht Angst – ich muss dann unter Umständen den Schutz der Herde verlassen, aus der Deckung herauskommen und bin auf mich allein gestellt. Da ist es einfacher, „Ja“ zum Bestehenden zu sagen, als eventuell aufzufallen – also besser alles so zu lassen, wie es ist. Diese Angst wirkt im Kleinen wie im Großen und zieht sich durch fast alle Aspekte unserer Gesellschaft.

Nehmen wir zum Beispiel einen Raucher. Er hat Angst „loszulassen“, denn Loslassen erfolgt über die Ausatmung. Er schafft das nur über das Hilfsmittel Zigarette. Was er gerne wegrauchen möchte, sind meist irgendein Druck oder Ärger, den er nicht auszudrücken gewagt hat. Mit dem Willen allein wird er es allerdings kaum schaffen, dieses Laster aufzugeben und aus der letztlich selbstzerstörerischen Gewohnheit auszubrechen, denn es steckt ja jede Menge unbewusster Ladung dahinter. Es ist demnach im Sinne einer Lösung die Aufgabe von – beispielsweise – Therapie, aufzuspüren, welcher Druck die Ursache ist, sofern es sich nicht um einen reinen Genussraucher handelt, der mit einer oder zwei Zigaretten am Tage auskommt.

Gefangen in der Anpassung

Es kann auch sein, dass ein Zwang, dem man unterliegt, die Ursache für Anpassung ist und eine Veränderung zunächst einmal ausbremst, wie das in meinem Falle war. Nach dem ‚Abitur musste ich zunächst einen „Brotberuf“ erlernen – Bankkaufmann –, was mir überhaupt nicht gefiel. Dieser Beruf entsprach in keinster Weise meinen eigenen Neigungen. Da man jedoch zu meiner Zeit erst mit 21 Jahren volljährig wurde, gab es keine Chance, der väterlichen Anordnung zu entkommen. Es folgte das ungeliebte Studium der Volkswirtschaft, ebenfalls auf Anordnung, und das Leben wurde noch freudloser. Ich habe diesen Zustand lange ertragen, da ich es nicht besser wusste. Das Problem in einem solche Falle ist: Befindet man sich jahrelang auf einer falschen Spur und sieht keine Alternative, wenn man nur unter Druck, ohne Förderung der eigenen Anlagen und Interessen erzogen wurde, fällt es sehr schwer, die eingeschlagene Richtung wieder zu verlassen.

Es dauert unter Umständen Jahre – so auch bei mir –, aus dieser Misere herauszukommen, da man oft auch nicht stark genug ist, den unerwünschten Zustand durch eine grundlegende Veränderung zu beenden. Dazu kam die Unkenntnis über andere Möglichkeiten – Internet und Handy waren damals noch nicht erfunden. Ich war mit dieser Angst vor Veränderung allerdings nicht allein und konnte sie auch in der immer mehr erstarrten Industrie und Wirtschaft beobachten. So blieben im Deutschland der 70er Jahre nach und nach weltweit führende Unternehmen der elektronischen und fototechnischen Branche wie AEG, Telefunken, Grundig, die Saba-Werke, Zeiss etc. wie auch die einst bedeutende Uhrenindustrie sowie etliche Groß-Brauereien finanziell auf der Strecke, wurden von den Japanern oder Amerikanern aufgekauft oder hörten gleich ganz auf zu existieren.

Die neue Zeit erforderte einfach neue Strategien wie Advertising, Marketing, Franchising und die Erschließung branchenfremder Märkte, um den Umsatz zu steigern. Leider wurden diese Maßnahmen von den ewig Konservativen oft abgelehnt, nach dem Motto: „So etwas brauchen wir nicht, wir machen es nach alter Väter Sitte wie bisher. Es genügt, wenn unser Absatzmarkt lokal oder national ist.“ Konservatives Denken verhinderte den Fortschritt, von Globalisierung war überhaupt noch nicht die Rede. Ich habe das selbst miterlebt, da ich in den 70er Jahren in Frankfurt am Main als Marketingberater tätig war. Frankfurt war damals die deutsche „Hauptstadt“ der Amerikaner, die bei den eigenen Unternehmen wie Wrangler, Polaroid, Chrysler oder Coca Cola diese neuen Marktstrategien bereits mit großem Erfolg anwandten.

Zudem wurde bei wirtschaftlichen Problemen nicht lange gefragt und nach dem „Hire und Fire“-Prinzip verfahren – Grund genug für die dort Beschäftigten, schon aus der Not heraus sehr schnell umdenken zu lernen.

Wie oben, so unten

Alles funktioniert nach den hermetischen Gesetz „Wie oben, so unten“ und umgekehrt. Das „Sich-nicht-verändern-Wollen“ ist daher nicht einfach ein isoliertes Phänomen Einzelner, sondern die Einzelnen sind umgekehrt auch Ausdruck einer Struktur, die sich durch alle Bereiche unseres Staates zieht, da der Staat nun mal aus vielen einzelnen Bürgern besteht. Der Staat ist Ausdruck der Einzelnen und die Einzelnen sind Ausdruck des dazu gehörenden Staates. Gerne hätte man als Bürger etwas Neues, aber es soll möglichst so aussehen wie das Alte.

Ich nenne nur das Stichwort „Politik“. Die Regierung ist Ausdruck des Willens der vielen Einzelnen, die sich nicht verändern wollen, und die vielen Einzelnen wiederum sind Abbild der von ihnen gewählten Politiker, die sich weigern, echte Veränderungen einzuleiten. Nur: Wenn sich der Einzelne wie auch die Regierung eines Landes nicht verändern wollen, werden sie durch die großen Veränderungen des Lebens irgendwann dazu gezwungen. Man könnte auch sagen, das Karma-Prinzip greift ein. Und das ist gut so. Mit wachsender Einsicht in die Zusammenhänge der Gesellschaft und des Lebens hat dadurch der gewohnheitsmäßige Ja-Sager die Chance, sich zum authentischen Nein-Sager zu entwickeln, der dann – wie in meinem Falle – das scheinbar Opportune und Nützliche verweigert – ohne Rücksicht auf die Folgen. Der Widerwillen, etwas zu tun, was mir gegen den Strich ging, war irgendwann größer geworden als die Angst vor Repressionen, Sanktionen und anschließendem Arbeitsplatzverlust. Nachdem meine Wirtschaftskarriere beendet war, da ich mich den üblichen – und oftmals üblen – Machenschaften und Zielsetzungen im Big Business nicht länger beugen wollte und konnte, absolvierte ich das Studium der Sozialpädagogik.

Selbstverwirklichung im Beruf

In der darauf folgenden Berufspraxis – ich arbeitete in der Bewährungshilfe – musste ich jedoch leider feststellen, dass Flexibilität, schnelles Arbeiten und individuelle Hilfeleistung bei Vater Staat nicht unbedingt erwünscht waren. Die Vielzahl der Probanden wurde eher verwaltet. Eine echte fallbezogene Hilfe war meist die Ausnahme. Und das war einfach nicht in meinem Sinne. Obwohl man mich mit der Verbeamtung lockte, winkte ich ab, ich wollte etwas anderes. Doch erst viele Jahre später konnte ich meine Ambitionen als Heilpraktiker für Psychotherapie in einer Weise umsetzen, die meinen Ansprüchen an Selbstverwirklichung im Beruf gerecht wurde. Bei meinen Klienten erlebte ich dann oft Probleme, die mir sehr bekannt vorkamen, hatte ich sie doch einst an mir selbst erlebt. Daher bin ich bis heute stets bemüht, eigene Erfahrungen und das, was ich daraus gelernt habe, in meine Therapien einzubringen.

In der Therapie geht es für den Klienten in erster Linie darum, Vertrauen zu sich selbst zu entwickeln. Doch wie funktioniert das und wo soll er damit anfangen? In diesem Zusammenhang stelle ich meinen Klienten gerne die Frage: Wer bist du (eigentlich)? Bist du der, den du im Spiegel siehst, oder der, den andere in dir sehen? Sowohl was du da selbst in dir im Spiegel siehst, als auch das, was andere bisher in dir gesehen haben, entspricht allerdings nicht der Wahrheit: Du bist so viel mehr, als du glaubst, aber du weißt es einfach noch nicht. Darum ist es wichtig, dich an deine innere Kraft anzuschließen – dann wird alles möglich. Ich mache mit dem Klienten anschließend eine kleine Übung, die sehr wirksam ist und sofort zeigt, dass die eigentliche Kraft aus ihm selbst kommt, aus seiner Mitte. Ich bitte den Klienten, eine Hand auf den Kopf zu legen und – wenn ich diese hochhebe – die Hand gegen meine Kraft wieder nach unten zu drücken.

In der Regel kann ich die Hand trotzdem ganz einfach von seinem Kopf abheben. Danach bitte ich ihn, die Augen zu schließen und sage: „Ich gebe dir jetzt etwas ein: Jedes Mal ab sofort, wenn du deinen Namen hörst, liest oder schreibst, weißt du, dass du stark und mutig bist und jedes Ziel erreichen kannst. Dein Leben ist gesund, reich und glücklich.“ Ich wiederhole den Satz noch zweimal. Anschließend sage ich: „Bitte Augen auf! Lege deine Hand wieder auf Kopf und sage laut deinen Namen.“ Jetzt ist die Hand beim Hochhebversuch wie festgeschmiedet, denn ich habe ihn hypnotisch mit seiner inneren Kraft verbunden. Diese Übung ist zwar sehr effektiv, doch bevor der Klient einen neuen Weg gehen kann, um ein authentischer Mensch zu werden, der sich selbst kennt, weiß, was er will, und den Weg zu seinem Ziel unbeirrbar geht, ist es notwendig, die Lasten und Blockaden der Vergangenheit zu erkennen und aufzulösen.

Darum ist es erst einmal ganz klassisch Aufgabe und Anliegen meiner Therapien, gemeinsam mit dem Klienten die Probleme der Vergangenheit zu bearbeiten und zu lösen, und zwar auf der emotionalen Ebene, die bis in die Zellen hinein Veränderung bewirkt, niemals allein auf der Kopfebene.

Schritt für Schritt

Ein weiterer wichtiger Schritt – nach meinem Verständnis – besteht darin, mittels kleiner Hausaufgaben, die ich dem Klienten täglich „verordne“, allmählich sein Vertrauen in sich selbst und den neuen Weg zu stärken. In meinen Augen hat es keinen Vorrang, ein Ziel schnellstmöglich zu erreichen, sondern täglich kleine Schritte zu gehen – und das mit sofortigem Beginn. Dadurch kann sich der Klient Stück für Stück der Person annäheren, die er wirklich ist. Aus meinem eigenen Leben weiß ich selbst, wie schwer es ist, alte Gewohnheiten loszulassen, aber mit richtiger, gezielter Hilfestellung ist es möglich. Das Alter spielt dabei keine Rolle. Hauptsache, ich fange damit an. Ich finde, jeder von uns sollte lernen, einen Weg mit Herz zu gehen. Alle anderen Wege führen in die Irre, in Leid und Probleme.

Es gibt zu denken, dass nach neuesten Untersuchungen zirka 70 Prozent der Deutschen ihren Beruf nur widerwillig ausüben … Aus entsprechenden Untersuchungen weiß man, wie heilsam es sein kann, täglich mehrmals alte Gewohnheiten zu durchbrechen. Das tut der Seele einfach gut. Denn nichts kann so bleiben, wie es ist, alles verändert sich ständig. Alles fließt, und so sollte jeder lernen, im Fluss zu bleiben, sich allen Situationen anzupassen – das wird sein Selbstvertrauen ungemein stärken. Dazu gehört auch, jederzeit mit dem Unerwarteten, Unvorhergesehenen zu rechnen. Das schärft das Bewusstsein und die Wachsamkeit. Jetzt zeigt sich, ob ich etwas gelernt habe, denn Sicherheit und Selbstvertrauen kommen nie von außen, sondern immer von innen. Die besten Lehrmeister sind darum unsichere Situationen, wenn man bildlich mit dem Rücken an der Wand steht. Dann zeigt sich, ob man über Durchhaltewillen, Gottvertrauen und vor allem Kreativität verfügt, um etwas zu verändern und dem Leben eine neue Richtung zu geben.

Authentisch leben oder nicht?

Auf dem neuen Weg stellen sich natürlich jede Menge Fragen: Soll ich mir ein anderes Betätigungsfeld suchen? Meine Beziehung beenden, die nur noch aus Gewohnheit besteht? Wie steht es um mein Gefühlsleben? Lebe ich meine Emotionen oder unterdrücke ich sie und verbiege mich permanent? Vielleicht sollte ich mein Leben komplett neu überdenken, um herauszufinden, was mir wirklich wichtig ist. Kurz zusammengefasst: Lebe ich ein authentisches Leben oder lasse ich mich von anderen bestimmen? Im letzteren Fall sollte ich vor allem die Finger von der Arbeit mit Menschen lassen: Wer sich selbst noch nicht geklärt hat, bringt ansonsten all seine Defizite in Gespräche und die Behandlung mit ein. Das gilt natürlich auch für die Erziehung. Glücklich das Kind, das bewusste Eltern hat, die seine individuellen Talente erkennen und fördern. Das kann viele Jahre des Herumirrens einsparen.

Psychotherapie ist in dieser Hinsicht für jeden empfehlenswert, denn sie zeigt Unbewusstes auf und bietet Möglichkeiten an, neue Wege zu gehen. Alle Leiden haben letztlich schließlich ihren Ursprung in der Vergangenheit. Wenn die nicht bearbeitet und aufgelöst worden ist, können sich Leidensdruck und negative Prägungen über Generationen fortsetzen, wie sich das in jüngster Zeit bei vielen sogenannten Kriegskindern gezeigt hat. Obwohl der Krieg seit über 70 Jahren vorbei ist, leiden viele von den damaligen Kindern heute plötzlich unter Ängsten bis hin zu Panikattacken und Schlaflosigkeit. Damals war keine Zeit, auftretende Probleme wie Alleingelassensein und Existenzängste zu bearbeiten, jetzt in einer relativen Ruhephase des Lebens kommt alles bewusst oder unbewusste Erlebte aus der damaligen Zeit an die Oberfläche. Hier können beispielsweise die EMDR-Trauma- oder die Rückführungstherapie sehr hilfreich sein.

Frei von alten Strukturen

Wir alle wollen ein glückliches, authentisches, möglichst unbelastetes Leben führen, bei dem wir all das leben, was unseren Fähigkeiten und Emotionen entspricht. Um das zu erreichen, ist die Aufarbeitung der Vergangenheit unerlässlich. Wenn mir dies nicht gelingt, bin ich in alten lebensfeindlichen Strukturen gefesselt und ein Weitergehen in schönere Gefilde ist kaum möglich. Alles, was wir erleben und erlebt haben, hat ausschließlich etwas mit uns zu tun. Das Leben ist nicht böse, sondern will uns Impulse geben, damit wir beginnen, uns zu bewegen, um unser Opferdasein endlich aufzugeben und uns dort anzuschließen, wo wir uns wohlfühlen.

Das kann ein guter Therapeut sein, der weiterhilft, aber auch sogenannte Lichtorte, an denen besondere, weit entwickelte Menschen wirken wie die in Deutschland weithin bekannte Mutter Meera. Wir haben nur diese Welt, unseren Körper und Geist, also machen wir etwas Gutes daraus. Wer gelernt hat, sich selbst zu vertrauen im Wissen um seine innere Stärke, wird nicht mehr in Kummer und Depression verfallen, sondern sich mutig den Herausforderungen des Lebens stellen, nach dem Motto: „Das habe ich noch nie gemacht, also bin ich sicher, dass ich es schaffe.“

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