Der EU-Vertrag ist auf dem besten Wege in Kraft zu treten. Er zementiert alles, was wir an unserer Gesellschaft nicht mögen – dabei geht es auch ganz anders. Was wir in Deutschland nur erträumen können, ist in Bolivien seit Anfang des Jahres Realität: Am 25. Januar 2009 gründete sich das Land neu und das Volk gab sich per Volksentscheid eine neue Verfassung – bei einer Wahlbeteiligung von 90 Prozent stimmten 62 Prozent mit „Ja“ und feierten dann ausgiebig auf den Straßen.

Die Verfassung ist so angenehm anders, dass man es als Europäer kaum glauben kann – ein ermutigendes Beispiel, aber auch ein scharfer Kontrast zum EU-Vertrag von Lissabon, der so ziemlich das Gegenteil zur bolivianischen Verfassung darstellt.

Der indigene Präsident Evo Morales feierte Bolivien als „Land der Chancengleichheit für alle“. Und ähnlich ist es auch im Vorwort der Verfassung zu lesen:

„[…] aus der Tiefe der Geschichte kommend, inspiriert von den Kämpfen der Vergangenheit […] erschaffen wir heute einen neuen, auf Respekt und Gleichheit gründenden Staat, mit den Prinzipien Selbstbestimmung, Würde, Vervollkommnung, Solidarität, Harmonie und Gerechtigkeit in der Verteilung und Umverteilung des Sozialprodukts. Wir erschafen einen Staat, in dem das Streben nach dem guten Leben vorherrscht, mit Respekt vor der wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen, politischen und kulturellen Vielfalt der Bewohner dieses Landes. Im gemeinsamen Zusammenleben soll jeder Mensch Zugang zu Wasser, Arbeit, Bildung, Gesundheit und Heim haben.“

Was ist so revolutionär an der Verfassung?

Die Verfassung könnte einen neuen Weg des Sozialismus begründen und gibt vielleicht die richtigen Antworten auf viele Probleme unserer Zeit. Sie ist darauf ausgerichtet „ein gutes Leben“ für die Bürger zu ermöglichen (ähnlich wie in der Verfassung Bhutans, in der die Steigerung des Bruttonationalglücks das oberste Gebot ist) – und das war ja ursprünglich auch der Sinn eines Staates.

Dazu geht Bolivien in Zukunft ein paar radikale Schritte:

  • Das indigene Prinzip des „guten Lebens“ ist als rechtliche Grundorientierung in die Verfassung aufgenommen. Wie keine zuvor schützt sie dazu das Individuum durch liberale staatsbürgerliche Rechte.
  • Erstmals wird die Pachamama, die Mutter Erde, als philosophisch-juristische Kategorie zur Sicherung des Allgemeinwohls in eine Verfassung aufgenommen.
  • Naturgüter und öffentliche Leistungen gelten als Menschenrecht und dürfen nicht privatisiert werden. Die natürlichen Ressourcen Boliviens sind ab sofort gemeinschaftliche Güter gesellschaftlichen Eigentums.
  • Auch Land ist Gemeinschaftsgut und für Grundbesitz gilt eine Höchstgrenze von 5000 ha. Wenn privates Land seine „landwirtschaftliche und soziale Funktion“ nicht erfüllt, darf es vom Staat beschlagnahmt werden.
  • Wasser, Strom und Telefon sind zukünftig Menschenrechte, die „kein privates Business, sondern eine öffentliche Dienstleistung sind“, wie Präsident Morales betont. Wichtige Wirtschaftszweige wie Öl, Gas, Telekommunikation, Transport, Wasser und Strom werden daher Allgemeingut.
  • Erstmals erhalten die indigenen Völker Boliviens umfassende Rechte zur kulturellen Selbstbestimmung, inklusive eigenständiger Verwaltung und Rechtsprechung.
  • Demokratie wird durch außerparlamentarische, kommunale und indigene Autonomien, sowie durch Raum für Eigenverantwortung dezentralisiert.
  • Die Verfassung gewährt das einklagbare Recht auf Ernährung, Trinkwasser, kostenlose Bildung und Gesundheit und angemessene Bezahlung für jeden Bürger Boliviens.

10 Gebote, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten

Der Geist, den die Verfassung trägt, lässt sich gut an den „10 Geboten, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten“ ablesen, die von Boliviens Präsident Evo Morales verfasst und von ihm auf der UNO-Generalversammlung vorgetragen wurden:

1. Mit dem Kapitalismus aufhören
Um den Planeten, das Leben und die menschliche Spezies zu erhalten, müssen wir mit dem Kapitalismus aufhören. Es ist Zeit, die finanziellen Schulden des Südens gegen die ökologischen Schulden des Nordens aufzurechnen.

2. Auf Kriege verzichten
Nichts und niemand kann sich aus einem Krieg ausschließen. Die Kriege sind die größte Verschwendung und Plünderung von Leben und der natürlichen Ressourcen. Wir, die indigenen Völker des Planeten, müssen der Welt sagen, dass wir glauben, dass die Millionen und Millionen von Dollar, die heute in die Industrie des Todes inves­tiert werden, in einen großen gemeinsamen Fonds gehen sollten, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten.

3. Eine Welt ohne Imperialismus und Kolonialismus
Das kapitalistische System trägt in seinen Eingeweiden den Imperialismus und den Kolonialismus. Den anderen zu beherrschen, den anderen zu unterwerfen, den anderen zu kontrollieren und den anderen unterzuordnen sind die Formen des „Lebens“ dieses Modells der „Entwicklung“, die auf der Konkurrenz basiert und nicht auf der Ergänzung/Vollständigkeit.

4. Das Wasser als Recht aller Lebewesen
Ohne Wasser gibt es kein Leben. Der Grundwasservorrat geht weltweit zurück. Um uns mit dieser Weltkrise des Wassers auseinanderzusetzen, müssen wir damit anfangen, den Zugang zu Wasser als Menschenrecht zu erklären und folglich als eine öffentliche Dienstleistung, die nicht privatisiert werden kann. Wenn das Wasser privatisiert und vermarktet wird, können wir kein Wasser für alle garantieren. Es ist fundamental, den Zugang zu Wasser zum Menschenrecht zu erklären.

5. Saubere und umweltfreundliche Energiearten
Einige Daten ermöglichen uns zu verstehen, was in der Welt im Hinblick auf die Anwendung von Energie und ihre Beziehung zur Natur vor sich geht. Die Entwicklung sauberer und umweltfreundlicher Energien ist eine weitere grundlegende Aufgabe zur Rettung des Planeten, der Menschheit und des Lebens.

6. Achtung vor der Mutter Erde
Der Schändung unserer Mutter Erde und aller ihrer Lebewesen werden wir mit der Kraft der Erkenntnis und der Liebe zur Schöpfung entgegenwirken. Die Erde kann nicht nur als eine natürliche Ressource angesehen werden. Wir respektieren die Natur, ehren unsere Mutter Erde und erkennen die Naturgesetze als höchstes Gesetz an.

7. Die Grunddienstleistungen als Menschenrecht
Der Zugang zu Wasser, Energie, Bildung, Kommunikation, Gesundheit und Transport ist ein Grundrecht, das jeder Staat seiner Bevölkerung als grundlegendes Menschenrecht garantieren muss. Diese Dienstleistungen können nicht zu privaten Geschäften gemacht werden. Sie müssen zur Grundlage der öffentlichen Dienste werden.

8. Verbrauchen, was notwendig ist, und Konsum des lokal Produzierten
Wir müssen Schluss machen mit dem Konsumismus, der Verschwendung und dem Luxus. Im ärmeren Teil des Planeten verhungern jedes Jahr Millionen Menschen; gleichzeitig werden im reicheren Teil des Planeten Millionen Dollar ausgegeben, um die Fettleibigkeit zu bekämpfen. Wir verbrauchen im Exzess, wir vergeuden Naturressourcen und produzieren Müll, der die Mutter Erde vergiftet. Verbrauchen, was notwendig ist, und dem Verbrauch dessen, was wir lokal produzieren, den Vorrang geben, das ist von erstrangiger Bedeutung, um den Planeten, die Menschheit und das Leben zu retten.

9. Respekt vor kultureller und wirtschaftlicher Vielfalt
Der Kapitalismus reduziert die Menschen auf ein Leben als Konsumenten. Wir – die indigenen Völker dieses Planeten – glauben nicht an Einheitslösungen für alle. Menschen sind verschieden. Wir leben in Gemeinschaften mit Identitäten, mit eigenen Kulturen. Eine Kultur zu zerstören, die Identität eines Volkes anzugreifen – das ist der größte Schaden, den man der Menschheit zufügen kann.

10. „Vivir Bien“ – das gute Leben
Wir – die indigenen Völker dieses Planeten – wollen einen Beitrag leisten für eine gerechte, vielfältige und ausgeglichene Welt, die einschließt und nicht ausgrenzt. Wir sagen „Vivir Bien“ – das gute Leben.

Ich denke, dass wir Menschen unsere Wurzeln wiederentdecken können – und sollten. Ich glaube daran, dass die Menschheit eine gerechtere Welt aufbauen kann. Eine vielfältige Welt, eine Welt, die integriert und ausgeglichen ist, eine Welt im Einklang mit der Natur, mit der Mutter Erde.

12 Responses

  1. Benny Thommen
    Genau so soll es doch sein.

    Genau so soll es doch sein. Aber heute im 2021 sind wir in Europa und auf der restlichen Welt leider weit davon entfernt. Durch Corona werden sich Themen wie Arbeitslosigkeit und Konkurrenz noch viel verstärken. Jedoch glaube ich auch dass andere Themen wie Selbstversorgung und weniger Luxus auch verstärkt ins Bewusstsein der Menschen kommen werden.

    Antworten
  2. Pedro

    Ja es wäre gut in allen Ländern diese Reformen zu machen.
    Aber dazu müsste man erst die Führer des gesammten Kapitallismus den selbst ernannten Adel Weltweit beseitigen und ihnen das Geld weg nehmen und alle Sekten sowie Freimaurerei ,Illuminati verbieten und unter Strafe stellen.

    Antworten
  3. Manfred

    Eine andere Welt ist möglich – hier wird sie realisiert. Dies ist die Alternative zum Lissabon-Vertrag, der EU-„Verfassung“, die für mich Leitlinie sein wird bei allen Diskussionen über Wirtschafts-, Energie-, Klima- und Menschenrechtspolitik. Wie tief muss Europa noch in Armut und Militarismus versinken, bis die Menschen sich hier wehren, die kapitalistischen Parteien abwählen, Demokratie durchsetzen und sich mit den höchst bedrohten Entwicklungen in Bolivien, Ecuador, Venezuela und Cuba solidarisieren?

    Antworten
  4. elke

    sehr schön, das alles zu lesen!!! wirklich ermutigend !!! ich habe schon lange den verdacht, dass die sog. dritte-welt-länder am ende die nase um längen vorne haben werden, wenn unsere menschen hier in der EU verzweifelt erkennen werden, was ihnen alles abhanden gekommen sein wird….!!
    auch die umsetzung ökologischer projekte wird bspweise in sri lanka, indien oder teilen afrikas bereits erfolgreich umgesetzt, z.b. mittels mikrokrediten…..während unsere jungen menschen zunehmend der verdummung und verschuldung anheimfallen.
    ich freu mich sehr, wenn wir endlich alle unsere verantwortung wieder an uns nehmen !
    Mögen all diese hoffnungsträger endlich ihre blüte entfalten, wunderbaaar 🙂
    ein grosses danke an unsere so geduldige mutter erde!!!

    Antworten
  5. Florian Sr.

    Das ist eine Verfassung die im fremdbestimmten Deutschland nur auf taube Ohren stoßen würde. Mit dem sogenannten EU Vertrag haben wir unsere Rechte nach Brüssel verlegt. Von Bolivien können wir Deutschen sehr viel lernen.

    Antworten
  6. ReiHe44

    „Hier ist man Mensch, hier kann mann´s sein!“
    Regelrecht erfrischend diese Verfassung von einem Präsidenten, den
    man in Deutschland den „bildungsfernen Schichten“ zuordnen würde.
    Das bringen unsere elitären Profis überhaupt nicht auf die Reihe.
    Haltet sie ihnen unter die Nase, diesen arroganten Lurchen.
    Tragt diese Verfassung bitte auch in die breite.

    Antworten
  7. David

    Man muss sich auch klar machen, dass es POLITIKER waren, die sich das ausgedacht haben.

    Kann sich einer den Westerwelle vorstellen, der über seine Liebe zur Mutter Erde referiert?

    Aber solche Gedanken verbreiten sich und irgendwann haben auch Angela und Guido ihren großen Moment der Erkenntnis.

    Antworten
  8. dideldu

    Na das wird dem grossen Weltpolizist und seinen sauberen Kumpanen aber sauer aufgestoßen sein.
    Und das wiederrum wird wohl (leider) früher oder später in einem „Unfall“ (oder Ähnlichem) des Präsidenden münden. Die Welt wird nun mal von Dummheit, Gier und Arroganz regiert. Daran können auch gutgemeinde Versuche, wie diese, nichts ändern.

    Antworten
  9. Dhaara

    mir geht das Herz auf beim Lesen. Das Gute siegt und der Menschenverstand hat auch hier in unserem Land eine Chance, wieder gesund zu werden Ich bete dafür, dass alle Chancen genutzt werden zum Wohl aller Menschen, Lebewesen und der Erde

    Antworten
  10. Statist

    Hoffentlich hat der Präsident ein gesundes und langes Leben.
    Normalerweise gibt’s nach solchen Reformen oder Gesetzen immer Militärputsche oder Flugzeugabstürze.
    Hoffen wir mal das beste

    Antworten

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*