„Bruttonationalglück?“ Verwunderte Gesichter, ungläubiges Staunen und neugieriges Lachen. Nicht ohne Grund. Der Begriff Bruttonationalglück wurde zum ersten mal vor mehr als 30 Jahren durch den König von Bhutan, Singye Wangchuck, in die Welt gebracht und pocht noch immer mit Kraft in den Adern der neugegründeten Demokratie.

 

Im Jahre 1972 stellte sich König Singye Wangchuck den Vorwürfen des Westens, der die langsame wirtschaftliche Entwicklung seines Königreichs kritisierte, mit der Behauptung, das Bruttonationalglück sei für sein Volk wichtiger als das Bruttonationalprodukt. Beruhend auf der Philosophie des Landes und des Buddhismus, wurde dieses Konzept mit großer Freude vom Volke Bhutans aufgenommen. Im März 2008 stürzte sich die Nation widerwillig in die Verflechtungen der Demokratie. Auf den Wunsch des alten Königs, eine Demokratie zu gründen und sich selbst auf das Tennisfeld zurückzuziehen, reagierten die BhutanesInnen nicht gerade mit Jubelrufen. Die Landeskinder rafften sich dennoch zur Abstimmung auf und wählten die Partei, die dem König am nächsten steht. Die Motivation, das Konzept des Bruttonationalglücks zu integrieren, fand der Vater des jetzigen Königs damals in der Erhaltung von Bhutans Einzigartigkeit. Er befürchtete, dass Bhutan im Schach zwischen den Entwicklungsgiganten Indien und China zerrieben würde, und sah die Gefahr einer überbordenden Konsumgesellschaft. Stattdessen strebt das Land vor allem eine Steigerung des universellen Glücks an, die von einem ausgewogenen materiellen Fundament begleitet wird. Dies soll durch die Förderung der nationalen Werte: Kultur, eine intakte Umwelt, eine gute Regierung und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung – die vier Säulen des Bruttonationalglücks – weiter entwickelt werden.Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ist die derzeitige Herausforderung, die die Möglichkeiten eines jeden einzelnen Menschen erweitern soll, so dass er das Recht auf eine gute Erziehung, Bildung und vor allem auch gesundheitliche Vorsorge in Anspruch nehmen kann. Die Kulturförderung Bhutans hat einen hohen Stellenwert und kommt besonders in den Bereichen Theater, Musik und Kunst in regelmäßigen Aktivitäten zum Ausdruck. Die Natur zu schützen ist ein wesentlicher Aspekt des Bruttonationalglücks. Durch aktiven Umweltschutz erhofft sich Bhutan das Glück der Natur zu bewahren und damit auch den karmischen Ballast eines jeden Einwohners zu verringern. Zwei Drittel des bewaldeten Landes steht unter Naturschutz, um die große Artenvielfalt in Bhutan zu erhalten. Letztlich ist eine nachhaltige Politik eine der vier Säulen. In ihr werden über eine vorbildliche Staatsführung die Ideale des Bruttonationalglücks verinnerlicht und in jeden Aspekt des staatlichen Handelns miteinbezogen. Daher ist der Begriff Bruttonationalglück, mit einem kurzen Absatz, sogar in der neuen Verfassung Bhutans verankert.  So wundert es nicht, dass Bhutan den aktuellen Grad des Bruttonationalglücks durch eine Umfrage messen lassen möchte. Ein ausgiebiger Fragenkatalog wurde in jedem Bundesland an eine bestimmte Anzahl von Bewohnern gerichtet. Oft erfolgte dies mündlich, da nur sehr wenige Menschen lesen oder schreiben können. Der Fragebogen umfasst sämtliche Aspekte des Alltags, wie Familienverhältnisse, soziales Leben, Arbeitsbedingungen, gesundheitliche Vorsorge, Regierung, Religion, Spiritualität und Lebensglück. Die Auswertung der Ergebnisse wird momentan durchgeführt und für eine Veröffentlichung aufbereitet. Ob Bhutan sich wirklich als Förderer und Bewahrer des Bruttonationalglücks qualifiziert, bleibt noch unbeantwortet. Bhutans unrühmliche Minderheitenpolitik, die sich in der Ablehnung und Vertreibung der ethnischen nepalesischen Bevölkerung, aus Furcht die eigene kulturelle Identität zu verlieren, zeigte, bleibt ein großes Fragezeichen. Mittlerweile leben diese Menschen in Flüchtlingslagern in Nepal und werden von der UNO unterstützt. In anderen Angelegenheiten erweisen sich die BhutanesInnen als traditionsbewusst, wenn nicht gar rigide. Zum Beispiel müssen alle Einwohner die nationale Tracht tragen, was besonders den Jugendlichen durch den zunehmenden Einfluss der seit 1999 eingeführten westlichen Medien schwer fällt. Abends, wenn die Polizei Feierabend macht, schlüpfen die jungen BhutanesInnen in westliche Kleidung, zünden ihre Zigaretten an und gehen unter anderem in die Disco. Die Bewahrung seiner Kultur wird für Bhutan mehr und mehr zum Problem. So bleibt nicht aus, dass zunehmend Regeln eingeführt werden, um alte Traditionen am Leben zu erhalten und die westliche Lebensart zu unterdrücken. Um den Einfluss der westlichen Kultur zu begrenzen, erhebt Bhutan von jedem Touristen eine tägliche Gebühr von 200 $.

  Bruttonationalglück
Der Begriff Bruttonationalglück stammt ursprünglich vom Begriff Bruttosozialglück ab, der wiederum an die lang gebräuchliche Bezeichnung des Bruttosozialproduktes angelehnt war. Mittlerweile ist das Bruttosozialprodukt, das für die Gesamtwirtschaftsleistung einer Nation steht, durch den Begriff Bruttonationalprodukt bzw. Bruttoinlandsprodukt (BIP) abgelöst worden.

Wie steht der Rest der Welt zu der Idee des Bruttonationalglücks? Nur Wenige wollen sich damit ernsthaft auseinandersetzen, das bhutanesische Projekt wird eher belächelt. Auf Bhutans Initiative gab es bis heute drei internationale Konferenzen zum Bruttonationalglück (Gross National Happiness) in Bhutan, Kanada und Thailand. Hier trafen sich Wissenschaftler, Regierungsmitglieder und Interessierte um z.B. nachhaltige Lebensweisen, soziale Strukturen, wirtschaftliche Techniken und spirituelle Ziele zu diskutieren, mit der Absicht, das Glück auf der Welt zu fördern. Zwar wurden außer umfangreichen Publikationen bisher keine konstruktiven, praktischen Ergebnisse auf diesen Treffen erzielt. Es nahmen jedoch viele Jugendliche teil, die Initiativen in ihren Heimatländern anstoßen. 

Eine Frage ist, ob die Entscheidung des Königs, eine Demokratie zu gründen, den Weg zum Bruttonationalglück vereinfacht? Fördert die Demokratie das Glück, oder kompliziert sie den Ablauf? Durch die Einführung der Demokratie liegt es jetzt an jedem Einzelnen mitzuwirken und zu entscheiden. Jeder hat nun die Freiheit an den gemeinsamen Beschlüssen für seine Zukunft teilzunehmen. 

Die Einzigartigkeit des Konzepts des Bruttonationalglücks liegt in der Tatsache, dass es Politik und Wirtschaft mit Spiritualität und Religion verbindet. Statistiken besagen, dass Menschen, die an eine höhere Macht oder an ein höheres Ziel glauben, glücklicher sind und mehr Frieden in sich tragen. Das Bruttonationalglück ermöglicht eine grundlegende Struktur für die innere sowie äußere Entwicklung des Menschen. Vielleicht richtet sich Bhutan auf eine neue Ordnung aus, auf ein System mit neuen Werten und Idealen, welches die rein materielle Ebene überwindet und nach einer überwiegend spirituell ausgerichteten Lebensführung strebt?

Vieles, was die Idee des Bruttonationalglücks prägt, ist dem buddhistischen Hintergrund zu verdanken. Der oft betonte Satz: „Buddhismus, das Streben nach Glück“, macht die Idee des Bruttonationalglücks zu einer sehr bhutanesischen Kreation.

Doch wie kann man das Glück messen? Was ist Glück, oder gar das Bruttonationalglück? Kann man das überhaupt als etwas Objektives bezeichnen und abgrenzen? In der westlichen Gesellschaft ist das Glück eine sehr subjektive Einschätzung, die außerhalb einer Person sehr selten weitergegeben wird. Das Ziel des Bruttonationalglücks könnte genau das sein. Das Glück so zu verursachen, dass der Einzelne und die Gemeinschaft in Einklang leben, um die gleiche Absicht zu erfüllen. Könnte der subjektive Zweck zu einem objektiven werden? Kann man es stattdessen durch eine kollektive Anstrengung erreichen? Wird es durch eine kollektive Bemühung zum gemeinschaftlichen Glück?

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Das Glück zu erlangen, bleibt letztendlich die Lebensaufgabe eines jeden Menschen. Nachhaltiges Glück durch materiellen Wohlstand zu erlangen, ist der Menschheit bisher versagt geblieben. Wir sind soziale Wesen und versuchen Einklang im Inneren sowie im Äußeren zu finden. Sind wir bereit, unsere persönlichen Träume für die gemeinsamen Träume beiseite zu schieben und unser persönliches Ego für die kollektive Einheit zurückzuziehen? Sind wir bereit für diesen Paradigmenwechsel?

Letztendlich ist die Frage, ob das Bruttonationalglück ein Konzept der Zukunft ist. Wird die vom Buddhismus stammende Idee ganzheitlich eingeprägt, dass sie vielleicht sogar das spirituelle Vakuum der westlichen Gesellschaft füllen kann? Kann das Streben nach kollektivem Glück gleichzeitig das individuelle Glück fördern und ein Leitziel der Gesellschaft werden? Die Frage ist, wofür Menschen sich in diesen bewegten Zeiten entscheiden. Ist es möglich, einen Zusammenbruch unseres jetzigen Systems zu verhindern? Oder lassen wir einen gemeinsamen Einblick in unsere Lebenssituation zu und wagen, uns einen Schritt weiter zu entwickeln?

Durch das gelebte Bruttonationalglück können wir eine Rückverbindung zu unseren Quellen wieder herstellen. Eine Gelegenheit, uns mit unserer Umwelt, Kultur und Gesellschaft zu versöhnen und einen gangbaren Weg in eine menschliche Zukunft und eine wahrhaft nachhaltige Lebensart zu gehen. Das Bruttonationalglück als ein im Einklang wirkendes Konzept, welches die Vollkommenheit und Ganzheit unserer Welt unterstreicht und uns in allen Aspekten des Lebens wieder begegnet. Eine Wiederherstellung des Vertrauens, nach der jeder sucht. Ist es möglich, diesen Traum zu manifestieren? Es liegt an uns.

 

Zu welchen Ergebnissen das 30 Jahre Projekt Bruttonationalglück Bhutans geführt hat, kann beurteilt werden, wenn die nationalen Umfrage Bhutans ausgewertet worden ist. SEIN hat dazu eine eigene Internetseite in Planung und beabsichtigt ebenfalls eine Umfrage auf Grundlage der nationalen Umfrage Bhutans zu erheben. Hiermit sind keinerlei kommerziellen Absichten verbunden.

Bhutan

www.bruttonationalglueck.de

 

Hier:
Die Verfassung Bhutans — Auszüge

Abbildungen: © Jaya Suberg, www.jayasu-berlin.de

3 Responses

  1. Markus
    wir sollten die Fähigkeit haben, die Welt und das Menschsein zu verändern

    Wir sollten dieses Gedankengut in unsere Gesellschaft tragen. Trotz sehr positiven Begleiterscheinungen der Arbeit (Anerkennung, Struktur, soziales Umfeld etc.), scheint mir die Idee, dass WIR alle über unsere Lebensart und somit über unser Glück eigentlich selber bestimmen dürfen sollten. Macht, Gier und die heutigen, anscheinend so erstrebenswerten von irgendwelchen mir unbekannten Wesen Lebensqualitäten, haben aber was dagegen.
    Ich bin ein Aussteiger und habe seit gut einem Jahr Zeit und Musse, mich nicht mehr um Profit kümmern zu müssen.

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  2. Dr. med. Heinemeyer

    Ich habe von einer guten Freundin von diesem „Staatsziel“ die Menschen Bhutans glücklicher zu machen erfahren. Ich muss noch 4 1/2 Jahre in Deutschland tätig sein, danach werde ich mich sozialen Prjekten vor allem in Asien anschließen und meine langjährige Erfahrung als Allgemeinarzt, Lehrarzt der Universität Würzburg, Notfallmediziner, Chirotherapeut zur Verfügung stellen. Bhuten steht in der Planung mit ganz oben auf der Liste der mich intessierenden Länder.

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  3. Beate Damasky

    Vielen Dank für diesen Bericht. Das ist -glaube ich – das erste Mal für mich , dass ich aus einem anderen Land keine Katastrophe sondern etwas wirklich vorbildhaft inspirierendes höre.

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