Elizabeth Murray und Ray McGovernKontext TV: Sind Kriege und Flüchtlingsströme ein Folge der US-Außenpolitik? 26. Oktober 2015 Konfliktforschung, Politik „Bevor wir den Irak angegriffen haben, gab es dort weder Al Qaida noch den islamischen Staat.“ Elizabeth Murray und Ray McGovern arbeiteten fast drei Jahrzehnte beim National Intelligence Council (Murray) und der CIA (McGovern) als Analysten. Heute engagieren sie sich bei den Veteran Intelligence Professionals for Sanity („Geheimdienstveteranen für die Vernunft“) gegen die Korruption und Lügenmaschinerie der Geheimdienste. Kontext TV sprach mit ihnen über die Rolle der US-Außenpolitik bei der Entstehung von Kriegen und Flüchtlingsströmen und die Gefahren der Massenüberwachung durch Geheimdienste. Kontext TV: Viele Menschen fliehen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und afrikanischen Ländern in die EU. Was haben diese Flüchtlingsströme mit den Interventionen von USA, NATO und Europa in diesen Regionen zu tun? Ray McGovern: Alles. Daran besteht kein Zweifel. Sie verhalten sich ja sehr gastfreundlich hier in Deutschland, das muss man Ihnen lassen. Aber keiner stellt bisher die Frage, warum diese 160.000 Menschen geflohen sind. Warum gibt es in und um den Irak vier Millionen Flüchtlinge und weitere vier Millionen aus Syrien? Die Antwort ist: Weil George Bush und Dick Cheney unbedingt den Irak angreifen wollten. Dabei haben sie sich nicht etwa, wie behauptet, auf falsche Geheimdienstinformationen berufen. Von Fehlern kann keine Rede sein. Es war Betrug, Manipulation, teilweise wurden Informationen gefälscht oder sogar schlichtweg erfunden. Und wenn Sie fragen: „Wie werden heute Kriege gemacht? Wie werden heute Flüchtlinge gemacht?“, dann ist die Antwort dieselbe. Das Chaos im Nahen Osten hat mit unserer Invasion im Irak angefangen, ebenso wie unsere Schwierigkeiten mit dem Islamischen Staat und die Frage, was wir mit Syrien machen. Bevor wir den Irak angegriffen haben, gab es dort weder Al Qaida noch den islamischen Staat. Man musste kein Spezialist sein, um die Konsequenzen dieser Politik vorherzusehen, und das direkte Ergebnis haben wir ja nun. Die Syrienpolitik der USA lässt sich übrigens sehr gut aus der Position Israels erklären, mit dem die USA ja stets auf einer Linie sind. Als israelische Regierungsvertreter vor zwei Jahren von Jodi Rudoren, der Chefin des Jerusalem- Büros der New York Times, gefragt wurden, welchen Ausgang sie sich für den Syrienkonflikt wünschten, haben sie geantwortet: „Es mag etwas kaltherzig klingen, aber uns wäre gar kein Ausgang am liebsten. Die Journalisten fragten: „Wie bitte?“ „Ja, wie gesagt, es klingt sehr hart, aber solange die Schiiten und Sunniten ihre Konflikte in Syrien und der gesamten Region unter sich austragen und zu keinem Ergebnis kommen, ist Israel de facto sicherer und braucht keine Bedrohung von Seiten Syriens zu fürchten.“ Für die Politik der USA in Syrien ist das die beste und stimmigste Erklärung. Dieses Interview wurde tatsächlich in der New York Times abgedruckt. Als ehemalige Analysten der Geheimdienste und US-Bürger: Wie nehmen Sie die deutsche Debatte über die Massenüberwachung durch Geheimdienste wahr? Und wie unterscheidet sich diese von der US-amerikanischen Art, darüber zu diskutieren? Ray McGovern: Nun, ich würde ganz einfach sagen, dass das, was nach 9/11 passiert ist, absolut gegen unsere Verfassung verstoßen hat. Die meisten wissen das auch. Der vierte Zusatzartikel zur Verfassung verbietet illegale Durchsuchungen und Beschlagnahmungen. Man muss dafür im Besitz einer gültigen Genehmigung mit glaubhaftem Anlass sein. Es gibt keine Rechtfertigung für das, was die USA getan haben – es sei denn, wir sind alle mutmaßliche Terroristen. Mich wundert, dass es den Deutschen, die ja die Stasi kennen und zum Großteil den Film „Das Leben der Anderen“ gesehen haben, heutzutage so gleichgültig zu sein scheint. Manche sagen: „Ich habe ja nichts zu verbergen.“ Nach Edward Snowdens Enthüllungen fragte jemand den Ex-Stasi- Oberst Wolfgang Schmidt: „Was denken Sie über diese Leute, die nichts zu verbergen haben?“ Er antwortete: „Das ist unfassbar naiv.“ Und er liegt damit absolut richtig. Sie werden nicht darüber entscheiden können, wie Ihre Daten genutzt werden. Das entscheiden die Behörden oder Stasi-ähnliche Organisationen. Und Erpressung ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Elizabeth Murray: Ich war sehr interessiert am Ausgang des Netzpolitik-Skandals* in Deutschland. Ich finde es wunderbar, dass die beiden Journalisten, die aufdeckten, wie der deutsche Geheimdienst seine Überwachungsmaßnahmen gegenüber der deutschen Bevölkerung hochfährt, sich weiter frei in Deutschland bewegen können. Ich fürchte, dass dann, wenn dasselbe in den USA passiert wäre, diese Journalisten jetzt wahrscheinlich hinter Gittern wären – aufgrund des National Defense Authorization Act und anderer Gesetze, die nach 9/11 erlassen wurden. Diese haben die US-Bürgerrechte beschädigt. Viele Menschen in den USA fühlen sich seit 9/11 nicht mehr frei genug, um offen über alles reden zu können. Sie machen sich Sorgen, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren oder dass sie auf irgendeine Weise Schaden erleiden könnten. Leider gibt es in den USA diese verhängnisvolle Selbstgefälligkeit: „Ich habe ja nichts zu verbergen.“ Aber eine große Rolle hierbei spielen auch die Massenmedien – sowohl in den USA als auch in Deutschland. Ich denke, dass sie das Thema klein halten. Es gab nach den Enthüllungen Edward Snowdens eine Zeit, in der das Thema stark diskutiert wurde. Damals bestand auch eine reale Chance, dass Edward Snowden nach Deutschland geholt werden würde. Aber auf einmal verebbte das Thema und ich glaube nicht, dass heutzutage noch jemand darüber spricht, Edward Snowden nach Deutschland zu holen. Es wurde nicht zugelassen: „Wir wollen unsere Verbündeten, die USA, ja nicht vor den Kopf stoßen.“ Ich mache mir Sorgen um die Bürgerrechte der Deutschen. Ich dachte zuerst, dass es sich nur um eine US-amerikanische Irrfahrt nach 9/11 handelte, aber es weitet sich aus. Ein wichtiger Faktor ist meines Erachtens die untergeordnete Rolle des Themas in den Medien. Es ist nicht so präsent im Bewusstsein der Deutschen, wie es sein sollte. Ich hoffe, dass es auch in Deutschland Whistleblower wie Snowden geben wird. Ich hoffe, dass wir noch mehr der Wahrheit verpflichtete Journalisten wie jene von Netzpolitik erleben werden. Uns muss klar sein, dass sonst der Überwachungsstaat Überhand gewinnen wird. In den USA leben wir gegenwärtig in einem Stasi-Staat. Das kann man nur so sagen. Deswegen: Bitte setzen Sie Ihre Arbeit als Journalisten fort, berichten Sie den Deutschen, dass sie sich der Gefahr der Überwachung bewusst sein müssen. Sie ist eine Bedrohung für uns alle. Dieser Text ist ein Auszug aus einem längeren Interview, das Sie auf www.kontext-tv.de sehen können. * Gegen die Redakteure von netzpolitik.org sollte aufgrund ihrer Veröffentlichung von Auszügen aus Unterlagen des Verfassungsschutzes über die geplante „Massenauswertung von Internetinhalten“ wegen Landesverrats ermittelt werden. Angeblich hätten sie Staatsgeheimnisse veröffentlicht. Die Ermittlungen wurden schließlich nach einem Sturm öffentlicher Entrüstung eingestellt. 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