Leila Dregger über die Flüchtlingskrise Türkei, über die Türkei-Lösung, die keine ist – und was statt dessen eine Lösung sein könnte.

 

Am Montag, den 4. April, wurden die ersten 200 Schutzsuchenden aus Griechenland in die Türkei deportiert. Sie gelten als illegal eingereist. Das allein ist schon grotesk: Was sind das für Gesetze, die Menschen das Überleben verbieten? Die Flüchtlinge haben alles verloren, sie haben auf der Flucht vor Armut, Verfolgung und Krieg tausende Kilometern hinter sich gebracht, vielfach zu Fuß, über verschneite Bergpässe, in Lastwagenladungen versteckt, über das Meer in untauglichen Schlauchbooten bei Eiseskälte und Sturm. Sie haben Strapazen überlebt, die viele andere zu Tode gebracht haben. Jetzt sind sie interniert und warten auf ihre Abschiebung.

Nur die Syrer haben die Chance, der Deportation zu entgehen, indem sie Asyl in Griechenland beantragen: dem Land, das mit 25 Prozent Arbeitslosigkeit sowieso schon unter der Wirtschaftskrise ächzt. Und das soll eine Lösung sein?

Der EU-Deal mit der Türkei ist unmenschlich und widerspricht dem Völkerrecht. Die Türkei mit ihren Angriffen gegen die Kurden und ihrer Abschiebung syrischer Flüchtlinge in Kriegsgebiete ist kein sicheres Herkunftsland. Der Deal dient nicht dem Schutz von Flüchtlingen, sondern dem Schutz vor Flüchtlingen. Europa macht dicht. Wer hofft, dass mit den Grenzschließungen in Europa und dem Waffenstillstand in Syrien die Flüchtlingskrise zu Ende sein könnte, täuscht sich: Sie wurde nur aus unserem unmittelbaren Blickfeld entfernt.

Verbrechen an der Menschlichkeit

Wo bleibt der Aufschrei Europas? Millionen gingen in Südeuropa auf die Straßen, als es um ihre Jobs und Sicherheiten ging. Außer in Barcelona – wo 15.000 Menschen gegen den Türkei-Deal protestieren – blieb es still auf Europas Straßen.

Mit dem Türkei-Pakt wirft die Europäische Union ihr letztes humanes Feigenblatt ab. Alle wissen, dass dies ein Verbrechen an der Menschlichkeit ist, aber sie lassen es geschehen. Das Inkrafttreten des Türkei-Deals markiert eine historische Wegmarke in Richtung eines totalitären Europas. Schritt für Schritt wird die westliche Demokratie, deren Grundlage die Garantie der Menschenrechte darstellte, in ein menschenverachtendes Gewaltregime verwandelt. Wenn wir jetzt diesen Umgang mit Flüchtlingen erlauben, dürfen wir uns in Zukunft nicht wundern, wenn auch uns elementare Rechte verweigert werden. Alle EU-Bürger machen sich zu Mittätern an diesem Unrecht, wenn sie weiterhin nichtstuend zusehen, denn wo Unrecht Gesetz wird, wird Widerstand zur Pflicht.

Ein wohlhabender Kontinent von 500 Millionen Einwohnern muss in der Lage sein, zehn oder fünfzehn Millionen Neuankömmlinge in seiner Mitte aufzunehmen, ohne seine Identität zu verlieren. Die Propaganda macht uns glauben, Flüchtlinge und der IS seien die Bedrohung Europas. Gleichzeitig zeigen die Panama-Papiere, dass es nicht die Kriegsflüchtlinge sind, die uns bedrohen, sondern die Steuerflüchtlinge. Das sagt sogar der Papst: Solange wir internationale Waffenexporte und globalen Ölhandel zulassen, werden wir Kriege haben, und damit auch Flüchtlinge.

Es gibt keine Lösung für die Flüchtlingskrise außer der Behebung der Fluchtursachen. Das allerdings geht nur durch einen fundamentalen Systemwechsel, denn die Flüchtlinge sind eine direkte Folge unseres auf Krieg und Ausbeutung basierenden Wirtschaftssystems. Der Wohlstand und die Macht auf der einen Seite der Welt werden erkauft durch das Leid auf der anderen. Den Systemwechsel von der Globalisierung des Unrechts in eine Globalisierung der Menschlichkeit brauchen nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch die, die heute noch glauben, an sicheren Orten ewigen Wohlstands zu leben. Um einen Systemwechsel einzuleiten, brauchen wir dezentrale Modelle an einigen Orten der Erde, die zeigen, wie Menschen gut und sicher leben können – nachhaltig, ohne Ausbeutung, ohne Abhängigkeit vom globalen Handel.

Symptom für die Krise der Menschheit

Davon sind wir noch weit entfernt. Die Flüchtlingskrise ist – ebenso wie der Klimawandel und die ökonomische Krise – ein Symptom für die Krise der Menschheit. Laut einer NASAStudie wird unsere gesamte industrielle Zivilisation innerhalb der nächsten zwanzig bis dreißig Jahre zusammenbrechen – aufgrund der ökologischen und sozialen Katastrophen, die wir selbst geschaffen haben. An vielen Orten herrschen bereits heute apokalyptische Zustände. Es gibt laut UN bereits heute 60 Millionen Flüchtlinge weltweit; und es werden nicht weniger, sondern mehr werden, viel mehr.

Die Deportierten: Das könnten wir sein! Auch die 12.000 Menschen, die in Idomeni im Schlamm ausharrten, ungewollt, ohne Perspektive, ohne Hoffnung, ohne Schutz, fast ohne Versorgung: Das könnten wir sein! Jetzt ist es an der Zeit, unser Willkommen zu vertiefen und zu erneuern – nicht nur aus Wohltätigkeit, sondern um gemeinsam die zerstörerischen Mechanismen unserer Zivilisation zu verändern. Jetzt ist es an der Zeit, das Willkommen, das unser Herz aussprechen möchte, mit einer Strategie zu verbinden, die für alle zu einem Gewinn und einem Neustart wird.

Es gibt hoffnungsvolle Modellprojekte. Eines davon ist Riace in Italien: Das kalabrische Dörfchen mit 2000 Einwohnern, in dem soziales Leben und Ökonomie 1998 am Boden lagen, weil die Jugend wegzog und die Betriebe eingingen, nahm damals über 200 gestrandete Flüchtlinge auf. Mit ihrer Initiative Città Futura (Stadt der Zukunft) blühte das Dorf auf. Heute leben rund 500 Asylbewerber aus Afrika, Asien und Kurdistan als Nachbarn mit Einheimischen zusammen und übernehmen soziale und ökologische Aufgaben im Dorf. Die Kinder gehen zur Schule. Neue Handwerksbetriebe wurden eröffnet. Wim Wenders, der darüber einen Film drehte, sagte: „Die wahre Utopie ist nicht der Fall der Berliner Mauer, sondern das Zusammenleben der Menschen in Riace.“

Sicher ging das nicht ohne Reibung und Konflikte, aber es ging, und beide Seiten profitieren davon. Sterbende Dörfer und Landflucht gibt es in ganz Europa. Tausende solcher Orte könnten jetzt revitalisiert werden in Kooperation mit Flüchtlingen, die nur zu bereit sind, neu anzufangen und sich eine neue Heimat aufzubauen – wenn das soziale und ökologische Wissen dafür vorhanden ist.

Verlassene Dörfer: Neue Heimat für Flüchtlinge

Schon wirbt die portugiesische Regierung aktiv um Flüchtlinge mit landwirtschaftlichen Kenntnissen, um den bevölkerungsarmen und von Wüstenbildung bedrohten Alentejo zu regenerieren. Stellen wir uns vor, mehrere Länder kommen auf diese Idee. Stellen wir uns vor, ihre Vorhaben werden verbunden mit Ausbildungsmöglichkeiten in ökologischem Hightech und dezentraler Energieautonomie, mit dem Aufbau einer ökologisch und sozial verträglichen Kleinindustrie und der Schaffung von Arbeitsplätzen, dezentral, in vielen abgelegenen Regionen! Stellen wir uns vor, dass traditionelles und modernes Wissen über ökologische Rekultivierung und soziale Nachhaltigkeit hier integriert, angewendet und gelehrt wird! Sterbende Regionen können sich tatsächlich in blühende Landschaften verwandeln.

Dafür braucht es überzeugende Modellprojekte oder „Blaupausen“, wie das Hilfsnetzwerk Blueprint sie erarbeitet, das in den letzten Tagen im Friedensforschungszentrum Tamera in Portugal tagte: Es sind Entwicklungshelfer, ökologische Visionäre, Menschen mit Gemeinschaftswissen, Aktivisten, Experten für Energieautonomie und natürliches Bauen, die in der ganzen Welt helfend unterwegs sind und jetzt ihre Arbeit und ihr Wissen zu ganzheitlichen Beispielprojekten zusammenfügen. Mit Tamera haben sie eine Gemeinschaft gefunden, die auch das nötige Wissen über Konfliktlösung, Kommunikation und Integration zur Verfügung stellen kann. Das Blueprint-Team und viele andere professionelle und freiwillige Helfer aus aller Welt sind bereit, die ersten Modelle für Integration und gemeinsame Revitalisierung zu begleiten.

Eine Utopie? Unbezahlbar? Für unbezahlbar halte ich den Türkei-Deal, finanziell, rechtlich und menschlich. Aber dezentrale Nachhaltigkeits-Modelle werden sich nach kurzer Zeit selbst tragen, ihr Langzeiteffekt wird allen dienen – den Flüchtlingen, den Einheimischen und der Natur.

Eine Antwort

  1. X

    Ich würde gern wissen, welche NASA Studie das genau sagt, dass die Industrieländer zusammenbrechen werden.

    Ich stimme dem Bericht zu, aber lassen sich die Verhältnisse auf andere Länder übertragen? Der Artikel deutet mit dem Verweis auf das Alentejo schon, dass es aus der Kommune „Tamera“ kommt, was die Lesetipps um Dieter Duhm den Mitgründer dieser Kommune je bestätigt.

    Cool wäre das ja, dass öko-soziale Dörfer den Vorzeigeprojekten in Indien den Rang ablaufen, Ghandi eröffnete so eins, ich komme nur nicht auf den Namen.

    Realpolitisch sieht es nicht so rosig aus, Schlaaaand braucht die Zukünftigen Steuerzahler usw. Hoffentlich klappt es, also weiter rann an die Lobbyarbeit, nicht nur für die üblichen verdächtigen wie das ZEGG / Tamera, sondern auch für Strukturschwache Regionen wie die Grenze Brandenburg und Niedersachsen als Beispiel.
    Es scheint ja, dass viele ländliche Regionen sich von der Landflucht langsam in Germoney erhohlen und eigenen Schwerpunkte entwickeln.

    Ein gutes Beispiel ist Klein Jasedow fast an der polnischen Grenze im Norden. Der Bürgermeister sah sein Dörfchen schon fast aussterben und rette es in dem er Künstler einlud und Ökoaktivisten.

    Bekannt ist Klein Jasedow durch ein engagiertes Blatt:
    oya-magazin, ich bin grad von dem auf sein.de geklickt.

    Viele Wege sind möglich um reale Verbesserungen zu schaffen, wenn sich Leute regional einbringen.

    Schön dass es solche Artikel gibt, wer mag, kann sich auch Themen wie „shrinking cities, schrumpfende Städte“ angucken, da ist Infrasturktur teilweise noch vorhanden und muss nicht erst mühseelig neu finanziert und umgenutzt werden. Das merkwürdigste Beispiel ist Detroit, in dem die General Motors Werke vor Jahrzehnten schlossen, und nur zwei, drei große Stars seit dem aus der Stadt kommen: Techno, städtische Gärten und… Eminem.

    Es gibt viele Risiken beim Thema umnutzen von Infrastruktur. Ich hoffe, dass vieles gelingt, aber vieles wird nicht zu halten sein, beispielsweise Liverpool. Dort gibt es einen ganzen Stadtteil, der als unbewohnbargilt, weil Kriminelle die Gegend übernommen haben.

    Schöner geht es sicherlich in Kopenhagen. in den 70ern haben Menschen dort ein vom Militär verlassenes Viertel sich angeeignet, das heute eins der Highlights der Stadt bietet: Christiania!

    Szenebekannte Projekte wie Damanhur, Christiania oder viele mehr werden immer wieder genannt, aber die Fragen wie viele kleine Projekte die Abgründigkeit der neoliberalen EU ausbalancieren können verlangt andere Größenordnungen, bei denen die Weltanschauung weniger von Bedeutung sein muss, da quanititativ viel gestemmt werden muss.

    Und das sehe ich gerade kaum einerseits gibt es diese „Nein heißt Nein“ Kampagne, andererseits las ich vor Monaten, dass in Niedersachsen Flüchtlingsunterkünfte mit eingeschränkten Rechtserwartungen gebaut werden konnten:

    Weniger Parkplätze und ein Spielplatz der ab einer gewissen Anwohnerzahl Pflicht ist, konnten mal eben eingespart werden!

    Die Autorin vergisst etwas die Kosten, die allein die deutsche Wiedervereinigung mit sich brachte, 15 Millionen Menschen in relativ knapper Zeit sind kein Pappanstiehl, zumal deren Zukunft nicht klar ist.

    Wie heisst es so schön „Staaten kennen keine Freunde, sondern nur Interessen“. Der Umgang mit den vielen Geflüchteten extrapoliert die Rolle des Bürgers im Herrschaftsapparat. Risse und Brüche in unserem System, in dem der Ausnahmezustand in vielen Fällen zur Normalität geworden ist. Ich habe wenig Lust an dem Klischee amerikanischer Spießer, die sich im Garten einen Bunker bauen um „vorbereitet“ zu sein, aber ich sorge mich schon um unsere Zukunft, in der vielleicht das Leben in vielen Städten kaum erträglich wird.

    Zum Thema „Zukunft der Stadt“ gibt es viele Interessante Beiträge, die Rede von Wolfgang Kaschuba im Helmholtzinstitut möchte ich hervorheben:

    https://www.youtube.com/watch?v=bfaP6LNpuUs

    Ich find den Beitrag etwas verdreht, die Hoffnung z uIdomeni mit diesem kleinen Dorf zu kontrapunktieren. Nein, Idomeni muss von staatlicher Seite geräumt werden, Hoffnung müsste entstehen, in dem oppositionelle Gruppen wie Varouvakis probieren sich in großen Organisationen jenseits des Parlamentes und mit neuen politischen Strömungen wie Podemos und Syriza aufzubegehren: Vergessen wir nicht die größe der EU, 400.000.000 oder 470… Bürger!

    Wir brauchen Mischkalulationen, brauchen Initiativen vor Ort, brauchen Initiativen die nicht mit den vielen Neuen Pensionen sich eine neue goldene Nase verdienen und wenn, dann von fitten Gruppen vor Ort unter Druck gesetzt werden, mehr Menschen als den Kontoumsätzen zu helfen.

    Die von der Autorin genannten Ansätze sind super, reichen aber nicht aus. Nur sie zu betrachten wäre eine Flucht und wäre so aufregend wie Tolstoi mit seiner Ethik im Kleinen.

    DIE MACHT LIEGT IN DEN INFRASTRUKTUR!

    Verbände europäischer Ökodörfer geben bestimmt gern Auskunft über ihre Anliegen, es wäre schön, wenn mehr Menschen sich zu Fachleuten in Sachen Logistik, Wasserversrogung etc ausbilden lassen, manchmal würde es schon reichen, sich mit dem eigenen Landratsamt auseinanderzusetzen, Schwimmhallen vor der Schließung zu bewahren –

    go for it!

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