Jahrtausende alte Tradition des philosophischen, des religiösen und des magischen Taoismus treffen sich im modernen China mit hunderttausenden chinesischer Touristen auf dem heiligen Berg Wudang. Hier leben wieder Nonnen und Mönche, die inmitten des Trubels freundliche Aufforderungen zu Stille bilden. Gabriele M. Franzen erläutert Grundbegriffe des Taoismus und ihre Verbindung zu den Körperkulturen des Tai chi Ch’uans und einer seltenen Qi Gong Form vom Wudangshan

Wo die Unsterblichen durch die Lüfte spazieren

Der Wudangshan („Berg Wudang“) erstreckt sich über ca. 400 km² als Gebirgsregion in Zentralchina. Seit mehr als 1000 Jahren beeindrucken die unzähligen, sehr schroff abfallenden Gipfel und Täler die Menschen mit ihrer dramatischen Schönheit. Die Gegend ist sehr feucht, die Vegetation entsprechend üppig: die Natur zeigt sich auch lieblich.

Sehr oft liegt Nebel in der Region. Im Aufsteigen mal schwer, mal anmutig ziehen die Schwaden durch die zinnen- und kegelförmigen Berge, zwischen die Bäume und …-die unzähligen Tempelanlagen! „Die Unsterblichen (die Götter) spazieren wieder umher“, so sagt man hier, wenn die Nebelwolken kommen und vergehen. Die Luft erscheint oft dicht die Feuchtigkeit erzeugt Widerstand. Sich darin bewegen wird fast wie „Schwimmen in der Luft“.

Die Wolken verhüllen und offenbaren auch wieder die vielen, sich in die Landschaft einschmiegenden Tempelanlagen. Gleich, ob es sich um großartige Paläste handelt oder um kleinere Tempel an malerisch versteckten Eremitenhöhlen, alle sind sie nach den Gesetzen taoistischer Naturbetrachtung konstruiert und harmonisch in die Landschaft eingefügt. Der Wudangshan ist die heilige Region des Taoismus in China, in die sie sich Adepten des Tao, Mönche und Nonnen seit Jahrhunderten zurückziehen. Die besondere Schönheit der Natur dort hat eine Anmutung, die die Menschen darin unterstützten soll, in sich das Tao zu kultivieren, in dieser Natur zurück zu finden zur urprünglichen, eigenen Natur in uns selbst.  Seit 1994 gehört das Gebiet des Wudangshan auch zum Weltkulturerbe der UNESCO.

 

Der Taoismus: ein tiefsinnige Philosophie der ständigen Veränderungen

Der Taoismus ist eine tiefsinnige Philosophie. Die chinesische Schrift als Bilderschrift im Telegrammstil eignet sich gut dazu, aus den poetischen „Brocken“ der Gedichte des Tao Te King den jeweils aktuellen Sinn für sich selbst zu ertasten. Aus dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stammt das dem Weisen Laotse zugeschriebene Grundwerk des Taoismus, das Tao Te King, Buch vom „fließenden Verlauf der Natur und des Universums“ (Allan Watts‘ Übersetzung von „Tao“) und vom rechten Leben. Es existiert in unzähligen, verschiedenen „Übersetzungen“. Die in diesem Artikel zitierten Textstellen sind aus der Übersetzung von Schwartz, die der chinesischen Fassung besonders nah angelehnt ist. Die „Erzählungen aus dem westlichen Blütenland“ von Tschuang Tse dagegen sind humorvolle Prosageschichten, die die Aussagen des Tao Te King launig illustrieren. Es lohnt sich diese Texte immer wieder neu aus seinem Bücher-Schatzkästchen zu holen!

Für ein gutes Leben versucht „der/die Weise“ (Du und ich) die grundlegendsten Gesetze der Schöpfung, das Tao, zu verstehen, wie sie sich uns mitteilen können in begnadeten Momenten tiefster Stille, Leerheit und Offenheit. Das sich Zurückziehen in die Natur, fern vom Getriebe der gesellschaftlichen Welt, kann dabei hilfreich sein. Im Verhalten und Handeln können wir versuchen, diesen Einsichten zu folgen, uns ihnen nicht entgegen zu stellen.

Der Taoismus ist die Philosophie der steten Veränderlichkeit aller Erscheinungen und Zustände, er ist die Philosophie der unendlichen Bewegung und Bewegtheit, wie sie sich im Fliessen des Wassers und in den Veränderungen der Natur zeigt.

nichts in der welt ist weicher und schwächer als wasser
und doch gibt es nichts, das wie wasser
starres und hartes bezwingt
unabänderlich strömt es nach seiner art
daß schwaches über starkes siegt
starres geschmeidigem unterliegt
wer wüßte das nicht?
doch wer handelt danach!
(Laotse)

 

Die Polaritäten halten einander

Veränderungen fliessen unendlich, sie folgen aber auch Zyklen. Auf die Nacht folgt der Tag, auf den Sommer über den Herbst der Winter. Auf Wut folgt oft Traurigkeit, auf Niedergeschlagenheit Zuversicht. Auf einen Aufstieg kann nur ein (relativer) Niedergang folgen, auf das Verweilen im Tal ein Aufstieg. Eine unverrückbar scheinende Kommunikationsfalle wird bei Bewegung in einem kleinen Element plötzlich wieder flüssig und generiert unvorhergesehene Lösungen. Wer die zyklischen Verläufe kennt, ihnen vertrauen kann und wach bleibt für kleinste Anzeichen von Bewegung, Veränderung, bei dem kann sich Gelassenheit in den Lauf der Dinge ausbreiten. Die bekannten Polaritäten von yin und yang bedingen sich gegenseitig. Ruhen ist möglich in Bewegung, Bewegtheit im Ruhen.

„Wie entstehen alle Dinge?“,
fragte Weißwenig.
Großer Überblick antwortete:
„Das Yin und das Yang wirken aufeinander ein, beeinflussen und halten einander. Die vier Jahreszeiten folgen aufeinander, in ihrem Kommen und Gehen aufeinander bezogen….Das Männliche und das Weibliche kommen zusammen, und die Art pflanzt sich fort. Friede und Chaos folgen einander, Glück erzeugt Unglück und Unglück Glück. Das Träge und das Rasche reiben sich an einander, Dinge entstehen und zerstreuen sich…..Alle Ordnung entsteht aus einem Prinzip, und jeder Aufstieg und Niedergang hängt zusammen. Wenn etwas seine Grenzen erreicht, kehrt es die Richtung um; wenn das Ende erreicht wird, beginnt der Anfang.“
(Tschuang Tse)

 

Wu Wei: Müheloses Handeln folgt dem Tao

Wer solche Zusammenhänge wirklich erfasst hat, wird gleichmütiger und unerschütterlicher. Auch unangenehme Zustände haben sich oft genug als veränderliche erwiesen. Dann ist es auch nicht mehr nötig Geschehnisse zu erzwingen. Es reicht, ruhig und wach zu bleiben und den geeigneten Moment des Überschlags hin zu Veränderung zu erkennen, um sich dann dem Fluss einzuschmiegen und müheloser zu handeln. Das nennt Laotse „Wu Wei“

das tao tut nichts, und nichts bleibt ungetan.

Tschuang Tse erzählt die Geschichte eines alten Mannes, der zum Entsetzen jüngerer Beobachter in einen Wasserfall stürzte, und unten prustend und vergnügt wieder aus dem Fluss stieg. Gefragt, was er dafür getan habe, antwortete er:
„Nein,….ich habe nichts dazu getan. …letzlich füge ich mich dem Schicksal. Wenn ich in den Wirbel hineinstürze, bringt mich der Strudel wieder nach oben. Ich passe mich dem Wasser an, nicht das Wasser mir. Und so kann ich mit ihm umgehen.“

 

Zurückkehren zur eigenen Natur

Wer hat es nicht schon erlebt, in einem Moment auf den anderen ganz „auf“getan zu werden beim Anblick einer gewaltigen Landschaft oder im Eintauchen in ein kleines Element der Natur oder Begegnung? In solchen Momenten verschwindet das Gefühl von Getrennt-sein, es bleibt eine Ahnung tiefen Verbundenseins mit der Schöpfung, mit dem „letzten Geheimnis“, mit dem Tao. Staunen kann uns erfassen und zu Respekt vor „Mutter Natur“ veranlassen. In und mit unseren Körpern sind wir aber auch Teil der Natur. Im Taoismus wird der menschliche Organismus immer als kleinere Manifestation der großen Natur, gar des Universums begriffen. Gesellschaftliche Prägung und Ver-Bildung haben zu Entfremdung von ursprünglicher Fülle aus der Einheit geführt.

schwach sind die knochen des kindes
zart seine sehnen
doch voll kraft ist sein griff

schreit es von früh bis spät
wird es nicht heiser
ungeschwächt in ihm ist der einklang
wer der vielstimmigkeit einklang kennt
kennt das ewige…
unheil aber droht dem, der leben fördern will mit gewalt
nicht gewaltig, gewalttätig nenn ich den geist
der zwingen will die kräfte des lebens

Achtung der Natur bedeutet auch achtsame und fürsorgliche Begegnung mit der äußeren Natur und Selbst-Fürsorge für unsere eigene Natur. Wieder auffinden und Pflege unserer inneren, ursprünglichen Natur, dafür haben die Taoisten seit Jahrtausenden Wege entwickelt, nicht zuletzt auf dem Wudangshan. Meditationstechniken und das Studium der klassischen Schriften gehören dazu. Ganz besonders aber haben sie sich der Lebenspflege, dem langen Leben, manche gar der versuchten Unsterblichkeit gewidmet: dem Studium der lebenslangen Gesundheit und der Prävention von Disharmonien, von Störungen. Dabei sind philosophischer und magischer Taoismus einige Allianzen eingegangen, die uns hier allerdings weniger interessieren. Das leibhaftig Erfahrbare sollte uns leiten auf unserem Weg des Tao. Auch Gesundheit in einem langen Leben beruht auf „Wuwei“. Es gilt, auch im und für den Körper die Gesetze der Natur zu verstehen und ihnen zu folgen, natürliche Verläufe nicht zu stören sondern sie im eigenen Verhalten zu unterstützen.

zart und schwach ist des menschen leib, wenn er eben geboren
starr und hart aber wird er im tode
zart und biegsam sind tiere und pflanzen, eben erstanden…
so sind das starre und harte gefährten des todes
das zarte und schwache gefährten des lebens…
(Laotse)

Geschmeidigkeit ist Beweglichkeit ist Veränderlichkeit ist verbunden mit Nachgiebigkeit. Unser ganzes Leben und Handeln kann sich nur äußern in Bewegungen. Bewegung, stetige Veränderung ist Lebensprinzip in der Natur. Deshalb gehört das Bewahren von ursprünglicher (kindlicher), weicher, geschmeidiger Bewegung zu den bevorzugten Wegen der Selbstkultivierung bei den Taoisten. Als ihnen ganz selbstverständliche Gewohnheiten können wir sie wiederfinden in den bewohnten Klöstern auf dem Wudangshan. Sie werden gepflegt in den dort besonderen Formen des Qi Gong und des T’ai chi Chu’uan. Auf dem Wudangshan wird als höchster, „Wahrer Mensch“ (Erleuchteter), Zhen Wu in allen Tempeln verehrt. Zhen Wu erlangte seine Selbstüberwindung und damit spirituelle Selbstverwirklichung auf dem Weg der Kampfkünste. Deshalb wird dieser Weg in etlichen Stilrichtungen der Region bis heute verfolgt und weiter entwickelt.

Für seine inneren Kampfkünste (in Abgrenzung zu den sogenannt äußeren Kampfkünsten des Shaolin-Klosters) war und ist die Region des Wudangshan berühmt. Neben der deutlichen Herkunft aus den Kampfkünsten ist wesentliches Kennzeichen der Wudang- Bewegungsmeditationen aber ebenso der Aspekt der tiefen Versenkung.

 

Das legendäre T’ai chi Ch’uan entstand im Nebel

Zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert soll der taoistische Mönch Zhang Sanfeng in dem größten der Klöster auf dem Wudangshan gelebt haben, dem Purpurwolkenpalast. Er gilt als der Erfinder des T’ai chi Ch’uans, der innersten der chinesischen Kampfkünste. T’ai chi Ch’uan verkörpert in einer Bewegungsfolge körperlicher Selbstverteidungstechniken grundlegende Naturgesetze des Taoismus (und weil die nicht nur in Kontemplation und sondern auch in Naturbeobachtung entstanden sind, weichen diese oft gar nicht ab von unseren westlichen Naturgesetzen!). Man versucht, sich die Philosophie des Taoismus sozusagen „einzuverleiben“ in der geistigen und körperlichen Praxis der Übungen. Je nach Geschmack und Vorliebe betont man darin eher den gesundheitlichen, den meditativen oder den kampftechnischen Aspekt.

Als „Schwimmen in der Luft“ wird die Qualität von T’ai chi-Bewegungen in klassischen Texten anschaulich beschrieben, erinnerte ich mich, als ich mich durch die dichten und fühlbaren Nebel des Wudangshans tastete, die zu Zhang Sanfengs Zeiten wohl schon ähnlich anzutreffen waren…

Im eigenen Körper so fest verwurzelt werden, dass Rumpf und Glieder leicht und durchlässig werden können, so daß der Widerstand der Luft ebenso spürbar werden kann und die eigenen Bewegungen beeinflussen kann wie der mögliche, gedachte Partner im „Schattenboxen“. Der Weise „tummelt sich im Tao wie der Fisch im Wasser“, so beschreibt auch ein von den klassischen Malern beliebtes Bild von Tschuang Tse die Geschmeidigkeit, Heiterkeit, Spontaneität und Natürlichkeit eines Menschen, der im Einklang mit dem Tao lebt.

 

Zurückkehren zum Ursprung

Zurückkehren zu anfänglichem und eigentlich unausweichlichem Verbundensein von äußerer und innerer Natur, von Du, Ich und Es ist immer Ziel und Ausgangspunkt taoistischer Lebenskunst und Selbstverwirklichung. „Der eigenen Natur folgen, zurückkehren zum Ursprung“ heißt aber auch eine eigene, sehr rare, klösterliche Qi Gong Form vom Wudangshan. Sie zeichnet sich aus durch elementare Schlichtheit und scheinbar einfache Bewegungen, die sehr intensiv ausgeführt werden. Die wenigen Bewegungen und Standmeditationen bieten Raum, sich über den Körper konkret und tief darin zu versenken, Momente dazu, verwurzelt mit dem Boden sich aufgehoben zu fühlen in Raum und Zeit: zurückzukehren zur gestaltenden Stille, zum Ursprung.

erreiche den Gipfel der leere
bewahre die fülle der ruhe
und alle dinge werden gedeihen
so kann ich ihre rückkehr erschauen
von allen dingen in ihrer vielfalt
findet ein jedes zurück zur wurzel
wurzelwiederfinden heißt stille –
was man nennen mag: rückkehr zum wesen
(Laotse)

 

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Fotos: Copyright G.M. Franzen

 

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