Bild: Mani stones von Antoine Taveneaux. Lizenz: GNU Free Documentation LicenseAtem: Verbundenheit mit der Wirklichkeit 1. Februar 2012 Wissen & Weisheit Gemeinsam mit meinem Mann und einem einheimischen Führer wanderte ich vor einigen Jahren in Nepal rund um das Annapurna-Massiv. Unser Begleiter vermittelte uns ein paar elementare Regeln im Umgang mit der hinduistischen und buddhistischen Kultur. Eine davon war: Mani-Mauern werden im Uhrzeigersinn umrundet. Und wer sie nicht umrunden will, geht doch jedenfalls immer so, dass sie rechter Hand sind. So wanderten wir Tag um Tag durch die atemberaubende Landschaft immer höher hinauf, redeten über Gott und die Welt und aßen um die Wette Chili. Eines Tages kamen wir in ein kleines Dorf. Ein paar Häuser klebten rechts am Hang, darunter ein schmaler Weg und die übliche, sorgfältig geschichtete Mani-Mauer. Ein paar Meter weiter fiel der Hang viele Hundert Meter fast senkrecht hinab. Ohne nachzudenken schlug ich den „richtigen“ Weg ein – die Mauer zu meiner Rechten – und landete buchstäblich in der Scheiße. Die „richtige“ Seite der Mauer war die Kloake des Dorfes, daran bestand kein Zweifel. Meine spontane Reaktion war Verwirrung gemischt mit Ärger: Wie können die nur! Dann schaute ich mich um und sah, dass es hier ganz einfach keine andere Möglichkeit gab, das Verdaute wieder loszuwerden. So war die heilige Mani-Mauer aus praktischen Gründen auch zum Schutzwall geworden, hinter dem man sich erleichtern konnte. Sie war genauso zum Kacken wie zur Andacht da. Nichts ohne Physis Wir ordnen in der Regel Spiritualität instinktiv Bereichen des Lebens zu, die nichts mit dem Schmutzigen, Niedrigen oder gar Bösen zu tun hat. Das ist ein folgenreicher Irrtum. Begründet liegt er in unserer Sehnsucht nach dem Klaren, Reinen, Vollkommenen und sicher auch in dem, was wir mit dem Wort „Spiritualität“ selbst verbinden: Für die meisten ist es ein „reiner“ Geistbegriff – die Sprache verrät uns. Aber das lateinische Wort spiritus bedeutet zuerst „Blasen, Hauch, Atem, Luft, Lebenshauch“, dann auch „Seele, Wille, Gedanke, Selbstbewusstsein, Anmaßung“, auch „Schwung, Begeisterung“. Erst in der Übertragung wurde das Wort entkörperlicht und zu einem Geistbegriff. Ursprünglich und in vielen Facetten seiner Bedeutung ist es ein Atem-Wort. Was hat es mit dem Atem auf sich? Der Atem hat eine rein physische, gut messbare und wahrnehmbare Seite: Vom ersten bis zum letzten Atemzug sind Herz, Lunge und die Atemmuskulatur damit beschäftigt, unseren Körper mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff zu versorgen. Muskeltonus, Sauerstoffsättigung des Blutes, Lungenvolumen lassen sich messen, die physiologischen Gesetzmäßigkeiten exakt beschreiben. Die Voraussetzung des Atems sind also sehr materiell. Der Atem hat eine psychische, gerade noch mess- und wahrnehmbare Seite: Jede Gefühlsregung zeigt sich im Atem. Angst, Freude und Aufregung drücken dem Atem ihren Stempel auf, noch ehe wir uns überhaupt dieser Gefühle bewusst sind. Wir halten ihn an, atmen plötzlich ganz flach oder flattrig kurz, seufzen tief… Jeder von uns ist geübt darin, die emotionale Bedeutung des Atemausdrucks der anderen zu deuten. Der Atem hat eine geistige Seite: Sprache ist tönender Ausatem. Und in der Sprache manifestiert sich unser Denken. Das denkende Bewusstsein ist untrennbar mit Sprache und Atem zu einer Einheit verbunden. Atem hat darüber hinaus als ständiger Austausch zwischen Innen und Außen, Ich und Welt, Phantasie und Wirklichkeit eindeutig etwas den Menschen, das eigene Ich Übersteigendes – also eine im Wortsinne transzendente Dimension. Das sind vier Dimensionen des Atems, die sich gut beschreiben und unterscheiden lassen. Sie gehören jedoch untrennbar zueinander und zu unserem Leben und Menschsein. Ausgangs- und Dreh- und Angelpunkt ist das handfest Physische des Atems, denn ohne Atem würden wir nicht leben. Die Physis ist die Basis, von der aus sich der Atem wie eine Brücke in die anderen Dimensionen spannt: die psychische, die geistige und die das eigene Ich überschreitende. Mit der Basis sind und bleiben wir verbunden, ob uns das bewusst ist oder nicht. Das sind die Gesetze, denen wir unterliegen, das ist die Wirklichkeit. Verbundenheit und Wirklichkeit Und damit sind noch zwei weitere Begriffe gefallen, die mir beim Umkreisen der Frage nach dem, was Spiritualität eigentlich ist, wichtig erscheinen: Verbundenheit und Wirklichkeit. Verbundenheit ist – wie Spiritualität – ein Begriff voller heller, reiner und erstrebenswerter Assoziationen. Aber zuunterst liegt auch hier wieder die naturgesetzliche Ebene. Jede Lebensform lebt inmitten anderer Lebensformen, ist von anderen abhängig und dadurch mit ihnen verbunden. Ein Samenkorn beginnt zu sprießen, reckt sich zum Licht und „tritt in Beziehung“ zum umgebenden Wald mit dessen Licht- und Wasserverhältnissen, mit dessen Wachstumszyklen. Das Pflänzchen passt sich an, entwickelt sich und wirkt selbst wieder auf den Wald ein. Es dient zum Beispiel bestimmten Tieren als Nahrung oder Unterschlupf, diese wiederum treten dadurch auch in Beziehung zu unserer Pflanze. Der Mensch kommt, entnimmt dem Wald Beeren, Pilze, und Bäume, hinterlässt Müll und Samen neuer, bisher nicht ansässiger Pflanzen… Verbundenheit ist ein Grundprinzip des Lebens, alles ist mit allem verbunden. Wir sind verbunden mit den Lebewesen und Dingen, die uns alltäglich umgeben, wir sind verbunden, mit Lebewesen und Dingen, die uns wenig oder gar nicht bewusst sind: mit den chinesischen Arbeitern, die unsere Jeans herstellen oder mit den chilenischen Bergarbeitern, die seltene Metalle für unsere Handys aus den Minen holen. Wir sind genauso verbunden mit dem brutalen Schläger, von dem die Zeitung gerade berichtete wie mit Thich Nhat Hanh. Wir sind aber auch verbunden mit der geistigen Tradition unserer Kultur, mit den Geschichten, Mythen, Moralvorstellungen, Glaubenssätzen, politischen und religiösen Ideen, mit unseren Erinnerungen und Gedanken – also einem riesigen immateriellen, unsichtbaren Bereich, der Zeit und Raum umfasst. Das ist die Wirklichkeit unseres Seins. Und damit sind wir bei der Wirklichkeit. „Wirklichkeit“ als Begriff ist in der deutschen Sprache von Meister Ekkehart eingeführt worden. Er geht dabei vom griechischen dynamis aus, bei dem der Akzent nicht auf einer statischen Wirklichkeit liegt (wie wir den Begriff heute oft verstehen), sondern der Akzent liegt auf dem Wirkenden. Der Atem ist eine dynamische Wirklichkeit, Verbundenheit ist eine dynamische Wirklichkeit – eine statische Wirklichkeit irgendwo da draußen gibt es ja nirgends! Alles ist einem ständigen Prozess des Aufeinandereinwirkens, steht in Beziehung und entwickelt sich. Was wir Wirklichkeit nennen, ist das, was wir uns in jedem Moment aufgrund unserer Erfahrungen erschaffen, in dem wir bestimmte Reize wahrnehmen, interpretieren und einordnen – und andere nicht wahrnehmen. Es gibt viele Experimente zu unserer selektiven Wahrnehmung. Eine einfache Aufgabenstellung genügt – sagen wir fünf Minuten lang rote Autos auf einer belebten Straße zählen – dass wir uns auf einen Aspekt der Wirklichkeit konzentrieren und zum Beispiel gar nicht wahrnehmen, dass gleichzeitig ein Reiter auf einem Pferd unseren Blick gekreuzt hat. Dabei muss das, was wir überhaupt wahrnehmen können, immer schon mit etwas schon Bekanntem verbunden sein. Das Denken des Menschen, selbst das absurdeste, knüpft immer an vorhandene Erfahrungen an. Neue Erfahrungen können nur gemacht werden, wenn es Anknüpfungspunkte gibt. Nur dann „machen sie Sinn“. Dabei geht es nicht um die großen Sinnfragen oder darum, ob die gerade verknüpften Sinn-Brocken sich auch als richtig erweist. Im dunklen Park ein Gespenst zu sehen „macht Sinn“, auch wenn es nur eine helle Plastiktüte war, die sich im Gebüsch verfangen hatte. Die Anknüpfung ist, dass wir wissen, was ein Gespenst ungefähr sein könnte. Gibt es keine sinnvolle Anknüpfung, dann nehmen wir einen Reiz gar nicht wahr. Das bedeutet auch, dass wir erst anfangen können, etwas zu „denken“, wenn wir schon eine gewisse Erfahrung gemacht haben. Wir werden uns keinen i-Pod wünschen, bevor wir wissen, dass es so etwas wie i-Pods überhaupt gibt. Wenn man sich einen Augenblick vergegenwärtigt, wie groß und komplex unsere Erde ist und wie klein wiederum unsere Erde im unvorstellbar großen Weltall ist, dann wird klar, wie winzig der Bereich ist, in dem unser Wahrnehmen und Denken überhaupt sinnvolle Verknüpfungen schaffen kann. Wie sollte das eine Wirklichkeit im Sinne einer unverrückbaren Wahrheit sein? Dennoch sind wir Menschen von unserer Ausstattung her darauf angelegt, nicht nur nach den kleinen Sinnzusammenhängen zu suchen, mit deren Hilfe wir die Welt um uns herum ordnen. Die Fragen nach den großen Zusammenhängen, nach Sinn, nach Ziel und Endlichkeit treiben uns um, auch wenn wir niemals die endgültige Wahrheit besitzen werden. Gewahrwerden der Wirklichkeit Auch diese existentiellen Fragen können wir uns nicht in einem besonderen, von allem anderen abgetrennten Raum stellen. Der Atem hat seine Basis im Physischen, ohne Physis keine seelische und geistige Regung und keine Verbindung zwischen mir und der Welt. Spiritualität hat ihre Basis im Physischen der Wirklichkeit. Es geht nicht um das Erlangen schöner Zustände oder Gefühle, das Erschaffen einer Gegenwelt zum schmutzigen und verwirrenden Alltag. Es geht um das nüchterne, vorurteilslose Gewahrwerden der Realität, um die Wirklichkeit des Materiellen wie des Immateriellen. Es geht um einen Prozess der Bewusstwerdung und der Reflexion, zu dem wir dank der Entwicklung unseres Gehirns imstande sind. Dieser Prozess kann nicht an Bedingungen geknüpft sein – etwa, dass er angenehm ist – denn dann beschneiden wir unsere ohnehin nicht allzu weit reichende Erkenntnisfähigkeit von vorn herein und phantasieren etwas zusammen, das der Realität nicht standhält. Das Gewahrwerden der Wirklichkeit ist vor allem Arbeit, ein beständiges Einüben. Unser nach Sinn gierendes Wahrnehmen und Denken, das sich ständig Wirklichkeiten erschafft, wird durch das Üben, alle (oder doch möglichst viele) Aspekte der Wirklichkeit immer wieder neu und frei von feststehenden Urteilen wahrzunehmen, gebändigt. Wirklichkeit zulassen bedeutet: immer wieder der Versuchung, Wirklichkeit nach meinem Geschmack zu konstruieren, auf die Spur zu kommen und neu hinzuschauen. Dieses Üben kann in vieler Weise erfolgen und braucht auch geschützte Übungsräume. Aber der Sinn der Übung kann eigentlich immer nur darin bestehen, mich als Übenden wieder und wieder mit der ungefilterten Wirklichkeit zu konfrontieren und mit allen Sinnen die Welt zu berühren. Nichts aussparen Das ist mühsam, kostet Entschlusskraft, Ehrlichkeit und ein ganzes Leben. Ich weiß nicht im Voraus, wohin es mich führt. Aber im Physischen des Atems haben wir auch für unser Fühlen und Wahrnehmen immer eine Anbindung, die den spiritus nicht abheben lässt – wenn wir diese Verbindung nicht mutwillig oder leichtsinnig kappen. Abgehobensein ist genau der Ausdruck, mit dem Menschen oder Gruppen bezeichnet werden, deren Spiritualität Bereiche des Lebens ausspart, andere dafür vielleicht künstlich betont und deshalb doch in der Regel ebenso weltfremd erscheint wie das Gegenteil, nämlich verknöcherter, undynamischer Dogmatismus. Ob ich mich in Formen der Achtsamkeitsmeditaion übe, in der christlichen Tradition des Jesus-Gebetes, im Zen, im Yoga, im Sufi-Tanz oder auf welchem Weg auch immer – wenn ich dabei die Wirklichkeit zulasse, dann durchzieht Spiritualität mein Leben. Die Verankerung im nüchternen Wahrnehmen der Realität ist die Basis, von der aus Erfahrungen großer Verbundenheit (gelegentlich) möglich sind. Ob überhaupt, wann und wo das geschieht, habe ich nicht in der Hand. Spiritualität, die sich in ihrer Brückenfunktion zwischen Innen und Außen, Materiellem und Immateriellen entfalten kann, wird mich immer wieder überraschen. Vor allem wird sie Sinn geben. Jetzt meine ich nicht mehr die kleinen Sinnbröckchen, die unser Gehirn im Alltag ständig zusammenfügt, sondern Sinn, der sich als Zentralperspektive für ein ganzes Leben eignet, auch für die verzweifelten, chaotischen Zeiten. Ein spiritueller Weg wird auf Dauer nicht allein zu gehen sein, denn er ist kein Spaziergang. Unterstützung und Motivation sind unterwegs angenehm, oft sogar notwendig. Selbsterkenntnis erlangen wir – die Erfahrung hat jeder gemacht – am ehesten im Spiegel unserer Mitmenschen. Die Einbindung in eine verankerte spirituelle Praxis hilft, manche Verirrungen zu vermeiden. Die Einbindung in eine bewährte spirituelle Praxis hilft, auch lange Zeiten des Übens auszuhalten, die keine besonderen Erfahrungen bieten – und solche Zeiten werden überwiegen. PS. Ich habe durch die Kacke an der Mani-Mauer mindestens so viel über mich, die Wirklichkeit und den Sinn des Lebens erfahren, wie durch unseren Besuch in einem Kloster, das wir am nächsten Tag erreichten und das uns nachhaltig beeindruckte. Kacke oder Kloster, was ist spiritueller? (Dem Sammelband „Damit das Denken Sinn bekommt – Spiritualität, Vernunft und Selbsterkenntnis“ von Gerald Hüther/ Wolfgang Roth/ Michael von Brück, Freiburg i.B. 2008 verdanke ich wichtige Anregungen für meine Überlegungen zu dem, was sich hinter dem Begriff Spiritualität verbirgt.) Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.