Biografisches Schreiben ist Selbsterfahrung, Forschung und Storytelling in einem. Es ist ein Weg zum So-Sein, etwas Essenziellem in uns

von Andrea Goffart

Als Ausdruck eines gelebten Lebens zeigen Biografien uns, was möglich ist. Und laden uns ein, das eigene Leben und Erleben mutig(er), offener, auf jeden Fall auf neue Art zu betrachten. Biografisches Schreiben schlägt eine Brücke und verbindet die Wege des Denkens mit denen des Handelns.

Schreiben! Die meisten von uns tun dies jeden Tag. Sie schreiben Emails, Einkaufszettel, Kurznachrichten oder Posts. Verfassen Konzepte oder Berichte, kritzeln Kochrezepte oder füllen Bescheinigungen aus. Wie sehr das Schreiben Bestandteil und Ausdruck unseres (Er-)Lebens ist, merken wir vielleicht erst, wenn eine Verletzung, zum Beispiel an Hand oder Arm, unser selbstverständliches Können durch das plötzliche nicht-mehr-Können auf eine bewusstere Ebene hebt.

Biografisch schreibend zum So – Sein

Schreiben ist Alltag, genau wie Lesen. Ebenso wie Lesen ist Schreiben aber auch die Erfahrung von und Auseinandersetzung mit der Welt, in die wir „geworfen sind“. Es ist eine starke Methode, mit sich selbst und dem Leben auf eine neue, intensivere Art in Kontakt zu kommen. Egal was und wie wir schreiben. Ob intuitiv oder biografisch. Ob Kurzgeschichten, Tagebücher oder Briefe (von mir aus auch Emails oder Kurznachrichten). Durch das Niederschreiben von Gedanken und Gefühlen gewinnen wir oftmals an Klarheit.

Biografisches Schreiben hilft uns, mehr über uns selbst, über die Welt und über unsere Mitmenschen zu erfahren. Was wir zu Papier bringen oder auf den Bildschirm bannen, das wird weniger diffus. Es wird greifbarer und kann uns helfen, unser Erleben aufzuarbeiten und Entscheidungen bewusster zu treffen. Vielleicht hilft es sogar, ein bisschen bewusster zu leben. Schreiben schlägt eine Brücke und verbindet die Wege des Denkens mit denen des Handelns. Eine kontinuierliche Schreibpraxis bringt uns Schicht für Schicht näher an unsere Essenz. An unser Da-Sein und So-Sein. Hinein in eine Erkenntnis und Akzeptanz.

Im biografischen Schreiben das Leben neu erleben

Schreibend können wir uns mit der Welt auseinandersetzen. Wir schreiben und klagen und fragen und jubeln. Es geht nicht um das „schreiben Können“. Es geht darum, sich selbst schreibend zu erforschen, sich kennen und mögen zu lernen. Wer beginnt, sein Leben aufzuschreiben, setzt sich mit der eigenen Geschichte und mit den eigenen Geschichten auseinander. Also mit all dem, was wir uns tagein tagaus selbst erzählen: Unseren Programmierungen, Glaubenssätzen und Sichtweisen.

Es gibt eine ganze Reihe guter Gründe für Biografisches Schreiben. Der Wunsch, damit einen Bestseller zu landen, ist in den seltensten Fällen der Antrieb für Biografiearbeit. Die Menschen, mit denen ich arbeite, wollen mit dem biografischen Schreiben die eigene Familiengeschichte erarbeiten. Möchten Spuren suchen und finden. Mehr über ihre Herkunft sowie die Vergangenheit der Eltern oder Großeltern erfahren, um vielleicht auch im Kontakt mit den Ahnen das eigene (oder kollektive) Erleben besser verstehen und/oder zuordnen zu können.

Viele möchten mit ihrer Geschichte etwas Wertvolles hinterlassen, ihre Erlebnisse (mit-)teilen und für ihre Kinder oder Enkelkinder aufbewahren. Manche möchten ein Herzensanliegen, das ihrem Leben Sinn gibt, in Worte fassen und an ihre Leser:innen weitergeben.

Für fast alle hat das Schreiben auch eine therapeutische Wirkung. Biografisches Schreiben unterstützt dabei, Schwierigkeiten auf den Grund zu gehen. Muster zu erkennen und mit den gewonnen Erkenntnissen über die Vergangenheit die Zukunft anders zu gestalten.

Ich kann nicht schreiben?

Sich besser verstehen, ein Anliegen in Worte fassen oder der Familie etwas hinterlassen. Das sind doch schonmal drei perfekte Gründe für biografisches Schreiben. Leider ist der Gedanke „ich müsste das mal aufschreiben“ zusammen mit unseren 100.000 anderen „müsste mal“ schnell wieder auf dem Schrottplatz der guten Vorsätze.

Der Alltag vergräbt das Tagebuch weit hinten in der Nachttischschublade. Der fordernde Job verlangt einen Ausgleich – wir wollen nicht noch mehr Zeit am PC verbringen. Der gewaltigste Bremser ist jedoch unser Gedanke „Ich kann nicht schreiben“. Er verbietet sofort die weitere Beschäftigung mit der wunderbaren Idee, seine Geschichte zu Papier zu bringen.

Nicht nachdenken – schreiben

Diesem Bremser-Gedanken sollten wir nicht weiter auf den Leim gehen! Jede und jeder von uns kann schreiben, das ist meine Erfahrung aus über 20 Jahren Schreib-Arbeit. Doris Dörrie erklärt in ihrem Buch „Leben, schreiben, atmen“ (Diogenes-Verlag, 2019):

„Wenn wir darüber nachdenken, was wir so denken, schämen wir uns schnell. Und wenn wir uns schämen, können wir schlecht schreiben. Wofür schämen wir uns? Wir schämen uns, dass wir uns anmaßen, über uns selbst zu schreiben, wir schämen uns für unser kleines Leben. Für unsere Unzulänglichkeiten, unsere Lügen. Unsere enttäuschten Erwartungen an das Leben und an uns selbst. Dieser Scham entkommt man nur, indem man nicht nachdenkt, sondern weiterschreibt (…).“

Intuitives Schreiben

„Ich schreibe!“- Das klingt immer so groß und gewaltig, dabei ist es nur das Ansetzen eines Stiftes auf ein Stück Papier – der Rest kommt von selbst. Einfach fließen lassen. Fünf, zehn oder zwanzig Minuten. Schreiben, ohne zu bewerten, durchzustreichen oder zu korrigieren. Rechtschreibung und Grammatik sind zunächst egal, und die Sätze müssen noch nicht einmal vollständig sein.

Alles, was entsteht, halten wir fest und versuchen, Bildern und Gefühlen Raum zu geben. Essenziell ist: Wir schreiben für uns, nicht für eine Leserin. Denn nur dann können wir Worte, Ideen, Sätze – alles was kommt – einfach unzensiert auf das Papier laufen lassen. Sobald ein Kritiker auftaucht, der innere oder der äußere im erdachten Leser, wird der intuitive Prozess des Entdeckens zu einem geplanten Prozess des Dokumentierens.

Höre beim biografischen Schreiben auf deine innere Stimme

Unsere Intuition und die aus dem Schreibprozess erwachsende Klarheit eröffnen uns die Möglichkeit, Ideen und Ziele zu formulieren. Und die zur Zielerreichung erforderlichen Ressourcen zu entdecken, zu aktivieren oder zu erwerben. All dies wird möglich, weil wir unserer inneren Stimme mit dem intuitiven Schreiben einen Weg nach außen ebnen.

Auch für unser Wohlbefinden kann das Schreiben wichtig sein. Es aktiviert Verarbeitungsmöglichkeiten von Erlebnissen und Gefühlen, die sonst im dunklen „Hinterstübchen“ ihr Unwesen treiben würden, bringt sie ans Licht. Und wenn wir nicht auf unsere innere Stimme hören, wer bitte soll es sonst tun?

Über welche biografischen Inhalte schreiben?

Schreiben ist ein Weg zur Weiterentwicklung, zum Selbstcoaching. Das Schreiben aktiviert kein Wissen aus unserem Verstand. Es ist eine Methode, das Wissen unseres Körpers zu nutzen: Wir werden bewusster, um unser Leben besser zu verstehen. Erwerben Kompetenz im Umgang mit uns selbst und mit anderen.

Wer bin ich gerade in diesem Moment? Wofür darf ich dankbar sein? Vergebung finden – in mir – zu einem anderen Menschen, wie gelingt mir das? Mein aktuelles Erleben fordert mich heraus – und schenkt mir darüber tiefe Erkenntnisse und Einsichten über mein Leben. Auf welche Weise kann ich ein Problem in meinem Leben erkennen, es mit mir in Zusammenhang bringen und selbst eine heilsame Lösung dafür entwickeln?

Das sind nur einige Fragen und Anregungen, die uns im biografischen Schreiben begegnen und bewegen dürfen. Das Schreiben ist etwas Wunderbares, es befreit und schafft Klarheit, weil es das Diffuse in unserem Kopf sortiert. Das Chaos wird sichtbar und damit weniger bedrohlich. „Ich bringe meine Gedanken zu Papier“, sagt man. Und wenn sie dort stehen, dann kann ich sie einordnen und beurteilen. Oder ich schlage den Buchdeckel zu, schließe die Datei, habe Frieden.

Viele Frauen, die biografisch schreiben, sagen mir, dass sie mit dem Schreiben einer Biografie mit Bestandteilen ihrer eigenen Geschichte abschließen möchten. Es geht ihnen darum, das Erlebte zu Papier zu bringen, um zu begreifen und zu verarbeiten. Schlussendlich können geschriebene Worte auch heilen. Sie reißen eine Mauer des Schweigens nieder. Gefühle wie Angst, Trauer, Wut, die wir immer unterdrücken, erhalten eine Katharsis. Vergebung kann geschehen, für sich selbst, für andere.

Biografisches Schreiben ist für uns alle von Wert

Gerade in der Biografiearbeit mit und für Frauen gibt es noch einen weiteren, einen wesentlichen Grund. Eigentlich DER Grund, seine Biografie zu schreiben: Biografien von starken Frauen zeigen anderen Frauen, was alles möglich ist. Jenseits der virtuell überwundenen, aber real existierenden Geschlechtergrenzen. Gerade die Corona-Maßnahmen machen uns klar, wie wackelig unsere weiblichen Errungenschaften sind. Es waren/sind fast überall und fast automatisch die Mütter, die Home-Office und Home-Schooling verbinden.

Es waren/sind die Frauen, die nebenher auch die Hausarbeit und die Betreuung von Eltern und Nachbarn übernommen haben. Und es waren/sind die Frauen, die ihre mühsam aufgebauten Solo-Selbstständigkeiten „einfach“ aufgegeben haben. Zum Wohle der Familie? Die Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendinger schätzt, dass uns die „Corona-Krise“ in Sachen Gleichberechtigung um drei Jahrzehnte zurückwerfen könnte. https://www.zeit.de/campus/2020-05/feminismus-rollenbilder-maenner-frauen-corona-krise

Bitte sei ein Vorbild! (Ja! Du!)

Deshalb ist es wichtig, dass starke Frauen ein Beispiel geben für die anderen. Was kann ich erreichen, wenn ich mich traue? Wo finde ich mein Selbstverständnis, jenseits von Kumpel-Attitüde und Frauenquote? In der von männlichen Karriere-Idealen und Rollenmodellen geprägten Arbeitswelt benötigen Frauen (und Männer!) ganz dringend Vorbilder, die uns zeigen, wie wir Weiblichkeit, Würde und Weiterkommen verbinden.

Diese Vorbilder finden wir nicht bei irgendwelchen Influencerinnen. Sondern bei Frauen, die als Macherinnen real etwas bewegt haben. Vielleicht als Mutter, vielleicht als mittelständische Unternehmerin, vielleicht als Künstlerin oder als Wissenschaftlerin. Auf jeden Fall haben die meisten Frauen etwas Unglaubliches geleistet. Und sie haben etwas weiterzugeben: Werte, Ideale und ganz konkrete Erfahrungen.

Und ist es nicht ein tolles Gefühl, an den Erinnerungen eines Menschen teilhaben zu dürfen? Wir fühlen uns exklusiv, ausgewählt, besonders, wenn ein Mensch seine Erfahrungen mit uns teilt. Genau darum kann Biografisches Schreiben helfen und andere Menschen motivieren. Sie fordern uns auf, unseren Weg zu gehen. Egal ob es ein traditioneller oder ein ganz unkonventioneller Weg ist.

Eine starke Frau? Was ist das?

Sie motivieren uns vielleicht auch, die Frage zu stellen: Was ist das eigentlich, eine starke Frau? In der Welt ist in einem Artikel über weibliche Führungsstile etwas zu lesen:

„Der weibliche Führungsstil ist geprägt von Lösungsorientierung und der Konzentration auf Sachverhalte. An der Unternehmensspitze verändern Frauen die Kultur des Unternehmens, denn sie bringen andere Erfahrungen, andere Werte und ein anderes Bild von den Kunden, Mitarbeitern und der Wirtschaft mit.“

https://www.welt.de/print/die_welt/finanzen/article13913910/Die-Zukunft-ist-weiblich.html

Die Kraft des Weiblichen

Warum ist das so? Oft hören wir das Argument, dass Frauen durch ihre Mütterlichkeit für das Integrative geeigneter sind. Frauen stünden für Eigenverantwortung und Selbstorganisation. Weil sie schon immer gezwungen seien, Beruf und Privates sinnvoll zu koordinieren. Diese Argumente halte ich – ich bitte um Entschuldigung – für albern. Es ist die Zementierung alter Klischees. Dennoch: Die Zukunft ist weiblich – doch sie ist nicht in den Händen der Frauen, weil sie besser organisieren können.

Es ist die weibliche Kraft, die wir benötigen, das Integrative, Raumgebende, das Leben gebende Prinzip. Wir benötigen keine Kämpfer mehr. Kehren zurück zur Ur-Kraft des Weiblichen und suchen sie in jeder und in jedem von uns. Wir suchen und finden Geschichten von Frauen, die ihre Weiblichkeit nicht aufgegeben haben, um im gläsernen Turm Karriere zu machen. Indem sie versuchten, die besseren Männer zu werden. Wir suchen und finden Geschichten von Männern, die sich trauen zu ihren Schwächen, zu ihrer Weichheit und zu ihrem zutiefst Menschlichen zu stehen.

Vielleicht geht es am Ende beim Schreiben genau darum: jenseits aller Rollen und Klischees die eigene Identität, das eigene So-Sein zu entdecken und liebevoll anzunehmen. Lustvoll alle Seiten der Identität aufzuspüren und sie alle miteinander anzuerkennen. Als die unzähligen Pixel, die am Ende das perfekte Bild formen: Hey, das bin ja ich!

von Andrea Goffart

 

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