Das Sterben und den Tod des eigenen Kindes mitzuerleben, ist für Eltern eine der größten und schrecklichsten Herausforderungen – mit der Trauer und dem Schmerz danach zu leben, ohne daran zu zerbrechen, ebenso. Vor diese Herausforderung sieht sich auch die Autorin gestellt, als ihre 15-jährige Tochter Marlene nur wenige Monate nach der Diagnose Krebs stirbt. Sie hält während der letzten Lebenstage ihres Kindes und in der schmerzhaften Zeit danach ihre Gefühle, Gedanken und Reflexionen in E-Mails an Freunde, Handynotizen und Gedichten fest. 

leer
der stuhl am frühstückstisch
– er bleibt leer aus deinem zimmer dringt kein laut
die kleidung in deinem schrank
– niemand trägt sie mehr
bücher, die nicht gelesen werden
ungehörte musik
im keller das fahrrad dessen räder stillstehen

zu wissen, es geht dir gut
– dort, wo du jetzt bist –
ist ein kleiner lichtblick
aber hier fehlst du
an allen ecken und enden
auf schritt und tritt
in so ziemlich jedem augenblick
ein fehlen
wie ein loch im herzen
und die ahnung
dass es für lange dort bleiben wird
ein stück weit vielleicht für immer
wie sollte es nicht

Betreff: Den Blick erweitern?

 12.5.2013 Lieber Leo, gestern, auf der Rückfahrt aus der Sächsischen Schweiz, machten wir einen kleinen Zwischenstopp bei Freunden, nach der Geburt des letzten Kindes vor einer Woche nun eine siebenköpfige Familie. Der Kontrast zu unserem beschaulichen Kleinstfamilienleben hätte kaum größer sein können. Ich erfreute mich an dem Trubel und der Lebendigkeit im Haus. Friedrich schien es zu gefallen, wenn die Kleinen auf ihm rumtobten oder ihn in ihre Spiele einbezogen.

Zwischendurch musste ich manchmal intensivst aus dem Fenster schauen, um die Tränen wegzublinzeln und den Kloß im Hals runterzuschlucken. Nicht dass ich ihnen ihr Glück nicht gönne. Oder mit ihnen tauschen möchte. Es ist nur so, dass ich zwei Kinder prima fand, für uns als Eltern und für die beiden miteinander.

Wie schade für Friedrich, dass er nun ein Einzelkind ist, keine Schwester mehr hat! Marlene und er haben sich toll verstanden. Ich frag mich, wie sehr sie ihm wohl fehlt. So richtig viel und gerne redet er mit mir nicht darüber. Abends höre ich ihn manchmal im Bett weinen. Wenn ich ihn dann trösten will, beschwert er sich: Schließlich hätte ich gesagt, er solle die Tränen nicht zurückhalten, wenn ihm nach Heulen ist, dann müsste ich das auch aushalten. Aber welche Mutter kann das einfach ertragen?! Mir fällt es jedenfalls schwer.

Schwer fällt mir auch nach sechs Monaten noch das Begreifen. Friedrich meinte neulich in seiner zunehmend direkter und konfrontierender werdenden Art: „Weil du es nicht begreifen willst!“ Wahrscheinlich hat er recht. Und dass ich so verzweifelt darum ringe, macht es sicher nicht besser. „Ich bin es, der – mit seinen unaufhörlichen Versuchen zu begreifen – diese Situation unbegreiflich macht“, schreibt dazu Pieter Frans Thomése[1]. Ist vielleicht, wie so oft, das Annehmen der entscheidende Schritt? Das Annehmen des Nicht-begreifen-Könnens? Dennoch frage ich mich: Wieso habe ich eigentlich solche Mühe damit? Begegnet es mir im Leben nicht ständig, dass etwas endet und dann vorbei ist? Allerdings fängt danach ja fast immer was Neues an. Nach der Kindheit kommt die Jugend, nach der Schulzeit die Ausbildung, nach der ersten Liebe irgendwann die Zweite. Vielleicht lebe ich deshalb in der Erwartung und mit der Vorstellung, dass es ewig so weiter gehen muss?

Die Erfahrung des Todes in seiner Endgültigkeit erschüttert diese Vorstellung. Sie lässt sie mir wie eine große Illusion erscheinen. Marlenes Leben ist zu Ende und nichts geht weiter. Für sie und für uns mit ihr. Aus der Erfahrung, wie schwer es ist, dieses Nichts zu begreifen, eben zu begreifen, was nicht ist, entstand auch das oben stehende Gedicht.

Aber vielleicht irre ich mich ja auch. Was würde passieren, wenn ich mich traute und es mir gelänge, meinen Blick zu erweitern und über den Horizont hinauszuschauen? Vielleicht könnte ich entdecken, dass es durchaus etwas gibt nach dem Tod, dass das Leben sehr wohl eine Fortsetzung erfährt, nur in einer anderen Dimension, zu der ich nicht ohne Weiteres Zugang habe? Vielleicht wäre es mir möglich, mit einer solchen veränderten Betrachtungsweise zu erkennen: Sogar hier bleibt mehr als das Nichts. Es geht weiter, aber nicht wie bisher. Marlene bleibt in meinem Leben, bleibt Teil dieses Lebens, allerdings in einer anderen Form. Dass es eine harte Nuss ist, sich auf dieses „anders“ einzulassen und es anzunehmen, davon erzählt auch der Text „Willkommen in Holland“ von Emily Perl Kingsley. Sie schreibt darin von ihren Erfahrungen damit, ein behindertets Kind großzuziehen und vergleicht dies mit einer Reise, die so ganz woandershin führt, als geplant war. Am Ende heißt es:

„Und diesen Verlust wirst du niemals ganz überwinden, denn der Verlust dieses Traumes ist ein bedeutender Verlust. Aber wenn du dein Leben damit verbringst, der Tatsache hinterherzutrauern, dass du nicht nach Italien gekommen bist, wirst du niemals diese ganz speziellen, ganz liebenswerten Dinge genießen können, die es in Holland gibt – wie den herrlichen Duft und die wunderbaren Farben der Tulpen, die dort einzigartig sind.“[2]

Betreff: Figuren im Regal des Lebens

24.9.2014 Liebe Kerstin, du schreibst, dass deinem Mann die Therapie gut zu tun scheint. Kannst du sagen, wie genau sich dadurch seine Art, die Krankheit und den Tod eures Sohnes zu sehen, verändert hat?

Seit Marlenes Diagnose finde ich die Erkenntnis überaus wertvoll, dass wir zumindest bestimmen können, wie wir auf eine Sache schauen und welche Bedeutung wir ihr beimessen, selbst wenn wir an den Fakten an sich nichts ändern können. „Verändere deinen Blick auf die Dinge und sie verändern ihr Wesen“, steht auf der Startseite meiner Homepage. Der Spruch bringt das gut auf den Punkt.

Zum Thema „Umgang mit einem solchen Verlust“ fiel mir ein Bild ein, das die Beraterin einer Anlaufstelle für Frauen und Mädchen einmal entwarf. Die Frage an sie war, ob eine Frau, die jahrelang missbraucht wurde, jemals wieder glücklich sein und ein normales Leben führen könne. Als Antwort kam von der Beraterin ein entschiedenes Ja. Sie Sprach davon, dass man sich die menschliche Existenz vielleicht als eine Art Regal vorstellen könnte. In den einzelnen Fächern stehen unterschiedlichen Figuren: Dinge, die wir erlebt haben, Ereignisse, die uns widerfahren sind, Menschen, denen wir begegneten, alles, was Spuren in uns hinterlassen und uns geprägt hat. Der Missbrauch ist eine solche Figur. Ich kann sie entweder fest in der Hand halten und sie mir ständig dicht vor Augen führen. Dann wird sie mir wahrscheinlich beängstigend groß erscheinen, und ich werde kaum in der Lage sein, daneben noch irgendetwas anderes wahrzunehmen. Schaffe ich es jedoch, die Figur irgendwann in ein Fach des Regals zu stellen, dann ist es mir möglich, zurücktreten und sie dort neben anderen zu sehen. Sie verschwindet dadurch nicht. Sie wird immer dort bleiben und kann angeschaut oder zur Hand genommen werden – jedoch lediglich als eine von vielen verschiedenen Figuren. Dadurch relativiert sich ihr Stellenwert und der Platz, den sie einnimmt.

Die Trauer um einen geliebten Menschen oder der Verlust, den sein Tod bedeutet, ist vielleicht genau so eine Figur. Und ich kann mich, zumindest in einem gewissen Maße, entscheiden und bestimmen, welche Größe und Bedeutung sie für meine Existenz haben soll. Soll sie bis zum Ende meiner Tage als das alles Bestimmende gelten, neben dem nichts anderes mehr Raum hat? Oder soll sie als eine von vielen Figuren im Regal meines Lebens stehen?

Damit will ich nicht leugnen, dass der Tod des eigenen Kindes etwas Schreckliches ist, etwas, das ich meinem größten Feind nicht wünschen würde, etwas, das unendlich schwer wiegt und ganz und gar nicht einfach wegzustecken ist. Dennoch möchte ich mich nicht bis an mein Lebensende als Opfer fühlen, dem das Schicksal, die Vorhersehung oder wie man es nennen will, etwas Furchtbares zugefügt hat und für das deshalb nie wieder die Chance auf ein gutes, schönes Dasein besteht.

Ja, es gibt diesen Verlust, es gibt die Trauer um Marlenchen in meinem Leben und mein Leben ist mehr als Trauer und Verlust. Vielleicht werde ich mich tatsächlich nie mehr so leicht und unbeschwert fühlen wie vor ihrer Krankheit. Doch ich kann glücklich sein, wenn ich es will und mich traue. Davon bin ich überzeugt.

Du hast es ja selbst entsprechend beschrieben: Es gibt weiterhin schöne Momente und wir dürfen sie zulassen, auch wenn tiefer Schmerz und Frohsein manchmal unglaublich dicht nebeneinander liegen! Wenn ich Samstag früh auf den Markt und anschließend mit frischen Blumen auf den Friedhof gehe, dauert es nur Minuten und ich bin traurig und vermisse Marlene wie am ersten Tag. Dann ist es mir fast unmöglich zu verstehen, wie ich zwischendurch überhaupt an etwas anderes denken und unbekümmert sein kann. Und eine Stunde später sitze ich mit meiner Nachbarin auf dem Hof, wir lassen uns die Sonne ins Gesicht scheinen und freuen uns an dem herrlichen Spätsommer, der frischen Luft, den kräftig leuchtenden Blumen, dem Gurren der Tauben über uns in den Ästen der alten Linde. Traurigkeit und Kummer sind wie weggeblasen – bis zum nächsten Mal.

 

[1]          Thomése, P. F.: Schattenkind, Berlin 2004, 9, 33, 107, 52.
[2]          Perl Kingsley, E.: Willkommen in Holland, http://autismus-kultur.de/autismus/eltern/willkommen-in-holland.html

 

Daniela Berg 
Begreifen, was nicht ist. 
E-Mails nach dem Tod meiner Tochter
Taschenbuch Januar 2018
160 Seiten | ca. 14,8 x 21,0 cm
ISBN: 978-3-96014-405-2

Termin:
15.03.2018, 19.00 Uhr 
Lesung mit anschließendem Gespräch im Rahmen der Reihe „Leben weben“ des Ambulanten Hospizdienstes Potsdam, Karl-Liebknecht-Str. 28, 14482 Potsdam

Über den Autor

Avatar of Daniela Berg
Kontakt
Daniela Berg
Supervision & Coaching
Stephensonstraße 24-26
14482 Potsdam
Tel. 0331 - 62 00 420
Mobil: 0179 - 23 84 769
Mehr Infos

Daniela Berg, Jahrgang 1972, studierte evangelische Theologie. Sie arbeitet in eigener Praxis als Freie Theologin und Trauerrednerin sowie als Supervisorin, u.a. für ehrenamtliche Hospizmitarbeiter. Für den Hospizdienst Potsdam leitete sie eine Trauergruppe für verwaiste Eltern.



Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*