Das Gehirn zu benutzen ist die beste (Yoga-) Übung

von Elisabeth Landolt-Tiedje

 

Aus der Sicht von Yoga-Praktizierenden ist es faszinierend, wie die Yoga-Praxis und die moderne Hirnforschung sich ergänzen. Wer nicht einfach nur die Worte der Lehrerin, des Lehrers glauben und mitmachen will, findet im großen Spektrum der neuen Erkenntnisse der Hirnforschung viele Bestätigungen warum spezielle körperliche und geistige Übungen in der Yoga-Praxis schon seit Jahrtausenden gelehrt werden.

Yoga und Aspekte des Gehirns

„Der Körper formt sich so wie wir ihn behandeln!“ ist einer meiner Lieblingssätze im Yoga-Unterricht. Dies gilt genauso für unser Gehirn. Manchmal stelle ich meinen Yoga-AusbildungsschülerInnen die Frage: „Welches ist die beste Übung für unser Gehirn?“ Als Antwort werden dann Umkehrstellungen empfohlen, oder die Tiefenentspannung oder geistige Übungen. „Dies ist natürlich alles richtig, doch…“, meine Antwort löst meistens entspanntes Gelächter aus, „es zu benutzen ist die bestes Übung!“

Es ist so naheliegend und doch vergessen wir, dass alles, was funktionieren und entwickelt werden soll, Pflege und Wartung braucht. Für Yoga-Praktizierende ist es selbstverständlich, dass sie Übungen ausführen, die Muskeln dehnen und stärken, um körperlich beweglich und fit zu bleiben. Doch was machen wir für unser Gehirn? Welche Bereiche lassen wir brach liegen, welche verkümmern, welche benutzen wir einseitig? Es ist wissenschaftlich erforscht, dass die Gehirnbereiche, die arbeiten müssen, mit Blut versorgt werden und dadurch mit Sauerstoff und Nahrung.

Was benutzt wird, bleibt lebendig und eher gesund

Die bequeme Vorstellung, dass unsere Gene oder unsere Natur für den Zustand unseres Gehirns verantwortlich seien, stimmt leider nur bis zu einem bestimmten Punkt. Das Gehirn kann auch so eingesetzt werden, dass es später für manche Aufgaben nicht mehr einsetzbar ist. Wir sind als BenutzerInnen dafür zuständig, welche Bereiche entwickelt werden. Ob unsere Begabungen und Anlagen entfaltet und genutzt werden, ob wir sie brach liegen lassen, ob wir Fähigkeiten ausbauen oder vernachlässigen, hängt davon ab, wie und wofür wir unser Gehirn benutzen. Was aus unseren Anlagen wird, hängt von den Entwicklungsbedingungen ab.

Das Grundrezept heißt: ganzheitlich leben!

Für jede Funktion des Körpers gibt es Hirnbereiche, die dafür zuständig sind. Ob wir Musik hören, mit Freunden oder Fachkollegen diskutieren, Fahrrad fahren, dabei die schöne Landschaft visuell und mit allen anderen Sinnen genießen, ob wir essen, gehen, stehen, lachen, tanzen, denken, weinen, oder Yoga-Übungen ausführen, bestimmte Hirnbereiche sind in unterschiedlichen Zusammenhängen aktiv.

Früher hat die Wissenschaft angenommen, dass unsere Hirnstrukturen im frühen Erwachsenenalter feststehen, dass die Synapsenverbindungen, die in der Kindheit geprägt wurden, das ganze Leben hindurch vorhanden seien. Dies entsprach dem Lebenskonzept. Es wurde ein Beruf erlernt, der dann das ganze Leben hindurch ausgeführt wurde.

Ein Pionier der Hirnforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Raymond y Cajal hatte herausgefunden, dass das Gehirn aus einer Unmenge von Nervenzellen besteht, die mit ihren vielfach verzweigten Fortsätzen miteinander in Kontakt stehen. Er konnte mit gefärbten Hirnschnitten zeigen, dass dieses ganze Gestrüpp von Fortsätzen während der Hirnentwicklung immer dichter wird und dass es sich später, im Alter, wieder mehr oder weniger stark aufzulichten beginnt. Diese Vorstellung wurde übernommen und prägte fast ein Jahrhundert lang das Denken der meisten Neurologen, Psychologen und Psychiater und verankerte sich als Grundüberzeugung in weiten Kreisen der Bevölkerung.

Neuroplastizität – alles flusshaft

Inzwischen hat die modernen Hinforschung jedoch aufgezeigt, dass im menschlichen Gehirn die Auf- und Abbauprozesse dauernd lebendig sind. Dass auch im Erwachsenenalter das Gehirn in hohem Maße strukturell formbar ist. Und dass die Nervenverbindungen sich auch wieder lösen, wenn sie nicht mit wiederholten Impulsen gefestigt werden.

Buddha lehrte schon vor 2500 Jahren die drei Daseinsmerkmale: alles bedingt entstanden, alles flusshaft-vergänglich und deshalb gibt es kein festes Selbst. Es ist eine der aufregendsten Entdeckungen der Neurowissenschaft in den letzten beiden Jahrzehnten, dass wichtige Bereiche des Gehirns sich durch Erfahrungen verändern. Die emotionale Umgebung, in der wir aufwachsen und wiederholte Erfahrungen wirken sich dramatisch auf bestimmte Teile des Gehirns aus. Dies wird mit dem Begriff neurale Plastizität bezeichnet.

Das Gehirn ist zeitlebens zur adaptiven Modifikation und Reorganisation seiner einmal angelegten Verschaltungen fähig. Und das Resultat hängt entscheidend davon ab, wie und wofür wir unser Gehirn benutzen. Wir haben alle erlebt, dass unwichtige Inhalte in den Hintergrund treten. Da fiel einem an der Klassenzusammenkunft der Name eines ehemaligen Mitschülers nicht mehr ein. Inzwischen hatten wir evtl. studiert, einen Beruf erlernt, heranwachsende Kinder in ihren Entwicklungsphasen begleitet, intensive Berufsjahre hinter uns und diese unwichtige Kleinigkeit ist einfach weg aus unserem Gehirn. Doch der Name unserer ersten Liebe, die emotional tief ging, Knie weich werden und Herzen zittern lies, ist auf ewig als Synapsenverbindung verankert. Hier begegnen wir einem weiteren wichtigen Aspekt.

Was mit Emotionen verbunden ist, verankert sich intensiver. Zum Beispiel werden Lernprozess, die mit positiven Emotionen verbunden sind, besser ins Geflecht der Nervenverbindungen integriert. Stress dagegen ist kontraproduktiv. In Stress-Zuständen werden die Stresshormone ausgeschüttet. Adrenalin stört die Synapsenverbindungen. Diejenigen, die in einer Prüfungssituation schon mal ein „Blackout“ hatten, wissen wovon die Rede ist. Obwohl der Wissensstoff gut gelernt wurde, ist in der Stress-Situation kein klarer Gedanke mehr möglich. Im Yoga wird eine positive Geisteshaltung mit Selbsterforschung kultiviert. Auch die humanistische Psychologie lehrte, dass Lernen und Lern-Motivation eigentlich nur über positive Beziehung möglich ist.

Nobelpreis für Medizin

2003 wurde zwei Forschern, dem Briten Sir Peter Mansfield und dem Amerikaner Paul C.Lauterbach, der Nobelpreis für Medizin verliehen für die Entwicklung des Magnetresonanztomographen. Die bahnbrechende Erfindung geht auf die 1970-er Jahre zurück. Die beiden Forscher schufen die Bedingungen für ein bildgebendes Verfahren, das erlaubte schonende und exakte Abbildungen des menschlichen Körpers ganz ohne Strahlenbelastung herzustellen. Diese Technik hat den Menschen sozusagen durchsichtig gemacht.

Mit dem Magnetresonanztomographen, auch Kernspintomographen genannt, wurde zum Beispiel ein Mann untersucht, der drei Wochen jonglieren übte. Die Aufnahmen zeigten den Bereich des Gehirns, der für räumliche Wahrnehmung zuständig ist (die Scheitellappen) vor dem Training und nach drei Wochen. Und siehe da, das Netz der Nervenverbindungen war dichter geworden. Wird etwas wiederholt, werden die Synapsen, die Nervenverbindungen dicker und der Inhalt besser erinnert, dadurch zum Bestandteil des Gehirns und des eigenen Seins und der Persönlichkeit.

Auch mystische Erfahrungen waren Thema der Untersuchungen. Gehirne buddhistischer Mönche wurden während tiefer meditativer Zustände durchleuchtet. Es wurde unter anderem festgestellt, dass das Frontalhirn (Stirnlappen), der auch die Konzentration steuert, während tiefer Meditation aktiver war als sonst. Der Scheitellappen hingegen, der für die Orientierung in Raum und Zeit zuständig ist, fährt die Aktivität während der Meditation zurück. Dies erzeugt die raum- und zeitlose Empfindung während der tiefen Meditation.

Für den Yoga-Unterricht schlussfolgern wir: Yogaübungen, die im Verlauf langjähriger Yogapraxis oft wiederholt werden (unsere Yoga-Praxis beruht auf Wiederholungen) und die positive Geistesausrichtung im Yoga bilden neue Hirnstrukturen. Sie formen den Körper und das Gehirn. Diese Verbindungen sind in anderen Lebens-Zusammenhängen auch hilfreich.

Es ist bekannt, dass regelmäßige Körperarbeit die beste Demenz-Prophylaxe ist. Die Erkenntnisse der Hirnforschung stimmen mich als Yoga-Praktizierende sehr optimistisch. Sie bestätigen Aspekte der Yogalehre, die bis vor kurzem nur als theoretische Aussagen akzeptiert oder geglaubt werden mussten. Was die „Yogarishis“, die Seher des alten Indiens durch Innenschau erkannt haben, kann durch die moderne Hirnforschung wissenschaftlich bestätigt werden.

Die Wundermaschine

Hier möchte ich nur auf einige Aspekte und die grobe Einteilung des Gehirns eingehen. Die Zweiteilung des Gehirns mit den unterschiedlichen Aufgaben der linken und rechten Hirnhemisphäre ist schon oft erwähnt worden. Und was die Körperarbeit für die Entwicklung und Zusammenarbeit der unterschiedlichen Funktionen leisten kann, um ganzheitlicher denken, fühlen und leben zu können. Im Stirnlappen findet zum Beispiel Bewusstsein statt.

Meditations-Anleitungen arbeiten mit Konzentrationspunkten im Gehirn. Da, wo Gedanken stattfinden, wird die Blutzirkulation angeregt usw. Diese nur wenigen Beispiel als Inspiration, um sich mit dem Thema tiefer zu beschäftigen.

McLean beschreibt die Dreiteilung des Gehirn, die im Verlauf der Entwicklungsgeschichte über 500 Millionen Jahre entstand: Hirnstamm, limbisches System und Neokortex. Den Hirnstamm, Fortsetzung des Rückenmarks in der Mitte des Kopfes, haben wir von den Reptilien geerbt. In ihm werden wichtige autonome Funktionen gesteuert, wie zum Beispiel die Atmung und der Stoffwechsel der übrigen Organe. Er sorgt für das reflexartige Überleben.

Daniel Golemann schildert in seinem Buch „emotionale Intelligenz“ wie das Gehirn größer wurde. Über dem Hirnstamm hat sich das limbische System entwickelt, das wir von den Säugetieren „übernommen“ haben, indem sich primäre Sinneszellen verfeinert hatten. Bestimmte Zellschichten waren dafür zuständig wahrzunehmen was giftig, essbar oder sexuell verfügbar, was Feind oder Beute war. Der Geruchsinn spielte dabei eine große Rolle.

Das limbische System vermittelt zwischen motiviertem Verhalten, emotionalen Zuständen und Gedächtnisprozessen. Desweiteren regelt es Körpertemperatur, Blutdruck, Blutzuckerspiegel und andere Aspekte des Körperhaushaltes. Aufgabe des limbischen Systems ist die Selbsterhaltung und die Arterhaltung. Vom limbischen System gehen Gemütsbetonung und gemütsbedingte Antriebe aus.

Der Entwicklungsbeginn des Neokortex, der Hirnrinde, reicht 100 bis 200 Millionen Jahre zurück. Das Gehirn der Säugetiere erfuhr einen großen Wachstumsschub.  Die neuen Fähigkeiten boten einen außergewöhnlichen intellektuellen Vorsprung und ermöglichten eine bessere Anpassung an die wechselnden Lebensumstände. Der Neocortex hat das spezifisch Menschliche gebracht, er ist der Sitz des Denkens. Unser gegenwärtiges, zeitlebend lernfähiges Gehirn hat sich in der vorhandenen Form vor 100 000 Jahren in den jetzigen Zustand entwickelt.

Den eigenen Geist selbst steuern

Als Yoga-Praktizierende wissen wir, dass wir auch für unseren Gefühls- und Geisteszustand verantwortlich sind. Der Hirnforscher Gerald Hüther schreibt in seinem Buch „Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn“: Seit 4000 aufeinanderfolgende Generationen hat sich nichts Wesentliches mehr an der Fähigkeit unserer genetischen Anlagen geändert, ein Gehirn herauszubilden, dessen Feinkonstruktion zeitlebens dadurch bestimmt wird, wie und wozu ein Mensch es benutzt.“ Und die Yoga-Praxis bietet ein regelmäßiges Training um die Körper- und Geistesfunktionen lebendig zu erhalten und positiv weiter zu entwickeln.

Den eigenen Geist in jedem Moment selbst bewusst steuern zu können ist ein wahrlich lohnenswertes Ziel im Yoga. Meistens funken Nervenverbindungen durch zufällig ausgelöste Sinnes-Reize, durch Erinnerungsbilder oder Alltags-Probleme, die Hirnschleifen erzeugen.

Die Hirnforschung hat gezeigt, dass die Nervenverbindungen über elektrische Impulse immer lebendig sind. Der Geist kann naturgemäß nicht ruhig werden. Geistige Yogatechniken und Meditations-Praktiken helfen jedoch die reflexartig ablaufenden Prozesse ins Bewusstsein zu bringen,… hinsehen zu können, was der Geist macht und selbstbestimmt die Ruhe im Geiste zu erzeugen. Die Verlangsamung der Hirnfrequenzen ist das Geheimnis aller außerordentlichen Bewusstseinzustände…. bis evtl. irgendwann zum Zustand, der Samadhi, Nirvana, Kavalya oder Mukti, die Befreiung genannt wird.

 

Der nächste Yoga-Ausbildungsgang zur Yogalehrerin beginnt als Donnerstagvormittags-Ausbildungsgang (9-11:30 Uhr) am 9. Januar 2020, Informations-Vormittag 12. Dezember 2019, Bei Interesse bitte anfragen.

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